Heinrich Spiero
Raabe
Heinrich Spiero

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20. Kapitel

Zwischen Abend- und Morgenland

Als Goethe seinen Wilhelm Meister veröffentlicht hatte, meinte Schiller, die Welt würde ihm diese Persiflage der Menschheit nicht verzeihen können. Mit diesem Wort hat Schiller weit in die Zukunft hineingewiesen: absichtlich überspitzend hat er den desillusionistischen Charakter des Goethischen Werkes scharf herausgestellt, und diese Schleierfortreißung von durch Übereinkunft, durch Herkommen, durch Mangel an Zu-Ende-Denken überhüllten menschlichen Verhältnissen hat dem ganzen europäischen Roman des neunzehnten Jahrhunderts seine Wesenszüge gegeben. Man kann diese innewohnende Zielsetzung, wenn man will, schon an den Titeln ablesen: Die Epigonen, Der Bauernspiegel, Unüberwindliche Mächte, Problematische Naturen, Der Amerikamüde, Unwiederbringlich, Der Schüdderump, Les misérables, Illusions perdues, Vanity fair, Rauch, Ohne Ideale, Unsühnbar, Die Beichte eines Thoren, Verfall einer Familie – und dieses Grundgefühl der Darstellung von immer wiederholter Lebensenttäuschung, von der Notwendigkeit, durch den Schein hindurchzudringen, von der tragischen Not, hinter diesem Schein Nichtigkeiten aufzufinden, steckt auch in den für die Geistesgeschichte des Jahrhunderts besonders typischen Romanen ohne solche Aufschrift: in Kellers Grünem Heinrich, in Rudolf Lindaus Zwei Seelen, in den Werken Flauberts und Zolas, Jacobsens und Pontoppidans, in 293 Fontanes Frau Jenny Treibel, die früher den ironischen, in diese Richtung weisenden Nebentitel hatte: Wo sich Herz zu Herzen findt. Gerade der starke Eindruck dieser desillusionistischen Absicht erweckte immer wieder daneben den Roman der weitausgreifenden Illusion, von Gutzkow, Laube, Alexander Jung, Adolf Widmann über Grosse und Kirchbach bis zur Gegenwart; nur fehlten dieser Gegenströmung innere Kraft und realistische Haltung.

Die seit der Reformation auch in den nichtreformierten Ländern immer weiter vordringende, den letzten Inhalt der neueren Geschichte bildende Befreiung des Menschen von allen Bindungen des Dogmas, des Herkommens, der Kirche, des Standes, der Zunft fand so in der Hauptform der neuzeitlichen Dichtung seinen Ausdruck. Keineswegs brauchte jedoch dabei jene »Persiflage der Menschheit« immer das Ergebnis zu sein. Auf der gleichen Grundlage mochten je nach Temperament und Glauben des Dichters Optimismus oder Pessimismus emporwachsen, wenn denn freilich auch im europäischen Gesamtbild die Schale des Pessimismus oder zum mindesten der Resignation schwerer wog. Das bleibende künstlerische Ergebnis war zunächst, wie wir für die deutsche Entwicklung sahen, eine ungeschminkte, bis zu den Quellen des Volkstums vordringende Darstellung wirklichen Lebens, und Gleiches gilt für andere Nationen in gleichem Maß. Realismus und Naturalismus als Stilabwandlungen fanden hier in der illusionsfreien und von Illusion befreienden Wiedergabe des Lebens ihren Generalnenner.

Neben aller bereits betonten Verschiedenheit der menschlichen und künstlerischen Anlage besteht jedoch unter allen diesen Dichtern noch ein entscheidender Unterschied der Gesamteinstellung; zwei Gruppen heben sich deutlich voneinander ab: die soziologische und die psychologische. Jene geht bewußt auf eine Gesamtdarstellung der 294 menschlichen Gesellschaft in ihrer volklichen Färbung und Haltung aus und entwirft in oft auch rein äußerlich geschlossener Reihe breite Bilder des Volkstums, der nationalen Menschheitsspiegelung mit politischem, geschichtlichem, landschaftlichem Einschlag. Hierher gehört gleich der erste große, von Raabe ganz ergriffene Romandichter Honoré de Balzac mit seiner Comédie humaine, hierher Jeremias Gotthelf mit seinen schweizer Romanen voll starker volkserzieherischer Absicht. Emile Zola hat in dem Balzac an Breite nicht nachstehenden Aufriß der in alle französischen Verhältnisse der Zeit verstrickten Glieder der Familie Rougon-Macquart ein jüngeres Seitenbild zur Comédie geschaffen. Wie Charles Dickens mit seiner humoristischen und zugleich sozial anklagenden Durcharbeitung des englischen Volkslebens, so gehört auch der zweite große, von dem jungen Raabe erlebte Romandichter William Makepeace Thackeray hierher, und nicht minder der erste dichterische Leser der Chronik der Sperlingsgasse, Willibald Alexis mit der Kette seiner acht, fünf Jahrhunderte umspannenden preußischen Romane, Charles Sealsfield mit seinen kühn gezeichneten, leidenschaftlich bewegten Darstellungen aus Amerika, schließlich Wilhelm von Polenz mit seinen Landromanen. Auch Gustav Freytag steht wie mit seinem Kaufmanns- und seinem Professorenroman so mit der für diese Dichterart überhaupt bezeichnenden Romanreihe seiner Ahnen durchaus in diesem Rahmen.

Auch in solchen Werken steckt überall psychologischer Reichtum, ohne den Dichtung nicht entsteht. Aber ihre Haltung und Ausrichtung weisen zu anderem hinüber. Die Umwelt der einzelnen menschlichen Handlungsträger, die gesellschaftlichen Bedingungen, Vorfahren, Geburt, Elternhaus, Schule, Beruf, Reisen, Studium, Vermögen, Aufenthaltsort wirken zu Heil und Unheil, zu Bildung 295 und Tätigkeit, zu Weltanschauung und Lebensführung, zu Haltung und Ausdruck aufs stärkste mit und bestimmen demgemäß die Gewichtsverteilung; ihre, sei es mit den Mitteln eines gemilderten Realismus, sei es (wie bei Gotthelf oder Zola) mit rücksichtslosem Naturalismus gegebene Darstellung füllt vielfach nicht nur den Hinter- sondern auch den Vordergrund. Unter den Gebilden neuster Zeit zeigen Thomas Manns Buddenbrooks vielleicht am deutlichsten den Auslauf der Bewegung. Goethe und Keller leiten zu der zweiten Gruppe, der vornehmlich seelisch-aufhellenden hinüber, ja Keller nimmt sehr deutlich eine Mittelstellung zwischen dem bewunderten Gotthelf und der rein psychologischen Novelle ein, der Grüne Heinrich mit seinen breiten schweizerischen Zustandsschilderungen und der den Kern bildenden Entfaltung des Helden steht genau im Achsenkreuz.

Bei der psychologischen Reihe der Romandichter kommen Volkstum und Geschichte nicht minder deutlich heraus als bei jenen, aber nicht das Geschlecht, sondern der einzelne, nicht die Vererbungsreihe, sondern der mit sich und andern kämpfende Mensch, nicht die soziale Spannung, sondern der inwendige Ausgleich zwischen Leidenschaft und Enttäuschung, zwischen Begehren und Stillung, zwischen Sünde und Reinheit ist das Wesentliche. In diesem Sinne sind Gustave Flaubert, Wilhelm Raabe und Fedor Dostojewskij die unvergleichlichen psychologischen Meister innerhalb des Jahrhunderts der realistischen Kunst, des das Leben von der Illusion zur Wirklichkeit zurückführenden Romans. Emma Bovary, Salambo, Frederic Moreau – Leonhard Hagebucher, Phöbe Hahnemeyer, Velten Anders – Rodion Raskolnikow, Leo Myschkin, die Brüder Karamasoff, sie geben einander an letzter seelischer Verfeinerung, am Hineindringen in die Geheimnisse der Menschenbrust nichts nach, und bei allen 296 stehen wir erschüttert, mit dem Schaudern, das der Menschheit bester Teil ist, vor den letzten Fragen. In allen drei Dichtern ist die große Ehrfurcht vor der menschlichen Seele als der wahren Wirklichkeit, neben der das Kleid der Dinge seine Wichtigkeit verliert. So mächtig und so gegenständlich bei allen, und, wie wir lernten, gerade bei Raabe, die soziale Darstellung ist, so stark suchen sie im Begebenheitlichen des Romans die entscheidenden seelischen Tatsachen aus dem Weltbilde herauszuarbeiten. Und dabei trennen sich nun der Franzose, der Deutsche und der Russe wesenhaft nach ihrem Volkstum. Der Romane, der diesseitigste von den dreien, bosselt in nahezu mönchischer Kunstarbeit seine Gestalten bis in die feinsten Verästelungen heraus und sucht den persönlichen Anteil nach aller Möglichkeit zu tilgen. Der Slawe geht den entgegengesetzten Weg: in einer echt russischen Dialektik ohnegleichen, in unbesorgtem weitem Aufriß, weit wie sein Land und sein Volkstum, entrollt und wendet er die seelischen Fragen und Voraussetzungen und tut sich nie genug; in ihm ist am meisten Chaos. Zwischen beiden steht der Germane, mitten zwischen dem Westen und dem Osten, langsam und schwer, aber ohne Flauberts bis zum Feinsten gesteigertes artistisches Bemühen, aus dem Ungestalten herauswachsend, von dem Meister von Rouen durch die niemals unterdrückte menschliche Wärme, von dem einstigen sibirischen Märtyrer durch seine Goethenähe und sein Verhältnis zur Antike und westeuropäischen Kultur getrennt. Freilich verbindet ihn mit Dostojewskij stärker als mit dem Franzosen ein Hauch jener apokalyptischen Stimmung, die den Russen ein Menschenalter nach seinem Tode wieder zum gelesensten großen Dichter der jüngsten Vergangenheit in aller Welt machte. Sie tritt bei Raabe nicht mit der dumpfen, slawischen Inbrunst Dostojewskijs hervor, aber wer 297 wollte sie in der Prophezeiung des Frühlings, in dem Poltern des Schüdderumps, in der Versteigerung des Vogelsangs mit dem Affenmenschen als Zuschauer überhören! Über den Werken beider ragt das Kreuz.

Nur freilich: das Christentum Dostojewskijs hat den geschichtlichen Hintergrund und die nationale Wurzel osteuropäischen Katholizismus, eines Glaubens, vor dem der Strom der Reformation Halt gemacht hat, der, wie in seinem Kultus, so in seinem geistigen Aufbau das Erbe von Byzanz nicht verleugnen kann. Dostojewskij erbte dies Christentum und will es, von allem äußeren Aufputz und aller kirchlichen Verderbtheit entladen, zu seiner Quelle zurückführen. Von diesem aus der Tiefe her errungenen Standpunkt muß er die Kultur Westeuropas als den Feind seines wieder dem Heiland zuzuleitenden Volkes betrachten. Sein politisches Ziel steht hier nicht in Frage, sein religiöses ist die Wiedergewinnung der Welt für das Christentum unter Abwehr der vergiftenden Einflüsse Westeuropas. Dostojewskij und Raabe treffen sich wohl in der leidenschaftlichen Stellung gegen die Mechanisierung, gegen die Knechtung der Seele unter Zwecke rein irdischer Zielsetzung, gegen den Verschleiß des ewigen menschlichen Erbteils für Macht, Glanz, Reichtum, alle die Güter, die doch nur Motten und Rost fressen. Aber Raabe, der deutsche geschichtliche Mensch, nimmt das Erbe unserer Kultur als unverlierbaren innersten Besitz auf sich, wobei ihm denn freilich die Gleichsetzung von Kultur und Zivilisation nicht mit unterläuft. Leonhard Hagebucher gibt den Kampf gegen das Philistertum auf, Velten Anders gibt sich selbst auf, aber beide gehen nicht freiwillig aus der Welt, und beide suchen bezeichnenderweise bei Goethe Einkehr. Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute – dies Wort gibt Raabe, dem kühnsten jener Entschleierer unter den deutschen Künstlern des neunzehnten 298 Jahrhunderts, in ihren Reihen seine besondere Stellung. Und kennzeichnend tritt dazu sein Verhältnis zum Christentum, wie wir es nun, in der Verwandtschaft mit Dostojewskij und im Gegensatz zu ihm, noch einmal begreifen. Die deutsche Mystik, die jetzt in unserm Ringen um den festen Stand in der seelischen Krise des Zeitalters so stark hervortritt, hat ihn in seinen reifen Jahren immer wieder beschäftigt und tief angezogen. »Wenn man das Leben fragte tausend Jahre lang: Warum lebst du? – wenn es überhaupt antwortete, würde es nur sagen: Ich lebe, um zu leben! Das rührt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt, aus seinem Eigenen quillt; darum lebt es ohne ein Warum: es lebt aus sich selber! Und fragte man einen wahrhaften Menschen, einen, der aus seinem eigenen Grunde wirkt: Warum wirkst du deine Werke? – wenn er recht antwortete, würde er auch nur sagen: Ich wirke, um zu wirken!« Dieses Wort des Meisters Eckart klingt an manches raabische an. Vergleichen wir es aber mit jenem Mittelwort Leonhard Hagebuchers in der Trilogie. so empfinden wir eine bedeutsame Weiterbildung, empfinden in dem Tonfall von der Kraft, Macht und Herrlichkeit des Menschentums den Durchgang Raabes durch das deutsche Christentum seit Luther und seine Verbindung mit dem Kernwort des Wilhelm Meister: »Gedenke zu leben!« Das Kreuz über den Werken Dostojewskijs ist letztlich das Kreuz auf der Aja Sofia in Byzanz, das der russische Dichter durch russische Hand als Zeichen der Rückführung der Welt unter das Christentum des jungen russischen Volkes wieder aufpflanzen will; das Kreuz Raabes ist jenes, das Winfried in Fulda und Martin Luther in Wittenberg errichtet haben.

So führt uns auch dieser Weg durch Raabes Werk zum gleichen Ziel.

In den Unruhigen Gästen wurden die Leute aus dem 299 Säkulum durch den Anhauch einer anderen Welt trügendem Oberflächentum entrissen. Was Phöbe allein durch ihr lichtes Wesen ihnen und der armen geplagten alten Freundin gab, was der in Selbstqual gesteigerte und verstiegene Prudens nicht erringen konnte, war noch ganz anderes, als die vordem erbetene tägliche Selbsttäuschung. Bei Flaubert stehen wir – und hier klafft der tiefste aller Gegensätze zwischen dem Franzosen und dem Deutschen – nach dem Schleierfall schließlich immer wieder in einer entgötterten Welt. Was in Altershausen das Erlebnis einer fest zugreifenden, nichts für sich begehrenden, warmen Menschenliebe erreichte: die Stillung eines noch im Alter unruhig flatternden Herzens, das gewann in den Unruhigen Gästen die unter das Kreuz geschmiegte Reinheit und Heilsgewißheit. Gewiß hatte Wilhelm Raabe aus dem Born der Mystik getrunken. Gerade aber dies sein im letzten Sinne christlichstes Werk lehrt, daß man ihn als große Gesamterscheinung auf diesen Zusammenhang nicht einfach festlegen darf. Und inmitten eines neuen religiösen Werdens, dessen Rütteln an unsern Seelen wir alle erschauernd fühlen, spricht auch heute seine Phöbe zwischen der ungeheuren, dialektisch gesteigerten Inbrunst des Morgenlandes und der alternden Weltkritik Westeuropas ihr aus dem Kern des Christentums wie aus der Mitte deutschen Gefühls strömendes Schlußwort: »Daß mir keines den Reigen stört«. 300

 


 


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