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Wilhelm Raabe war mit dem deutschen Realismus groß geworden und hatte ihn selbst zur Höhe geführt. Von Anfang an hatte er nach Lebenstreue gestrebt, ein gut Stück davon schon in dem ersten Werk erreicht und war dann nach manchem Rückschlag zur vollen Beherrschung lebensnaher Menschen- und Weltdarstellung gelangt. Dieser realistische Stil mußte sich tendenziöser Verfärbung ebenso fern halten, wie rührseliger Verwischung von Gegensätzen oder feuilletonistischer Zuspitzung. So konnte Raabe das Leben in seinen einfachsten Elementen, seinen währenden Grundzügen erfassen. Mann und Weib, Eltern und Kinder, Bruder und Schwester, Erzieher und Erzogene, Freund und Freund, Herr und Diener, Alte und Junge, immer wurden sie unter langsamer Entfaltung der kennzeichnenden Eigenschaften so gegeneinander gestellt, daß die Charaktere gemäß dem Gesetze des Lebens aufeinanderprallen. Keiner wurde zum Beweise vorgefaßter Lehren gereckt oder verkürzt, jeder lebte nach dem Gesetz, wonach er angetreten, weiter und lebt eben darum auch mit uns fort.
Diese wirklichkeitstreue Beobachtung erspäht nun auch den Menschen in seiner Zugehörigkeit zu Stand und Beruf. Der alte Wachholder mit seiner immer wachen Beobachtungsgabe ist ein Schriftsteller, wie Friedrich Feyerabend mit der seinen, ganz anders gerichteten ein Arzt und der Pate Schnarrwergk ein Tierarzt. Alle diese 286 Lehrer, Pfarrer, Handwerker nehmen ein gut Teil ihres Wesens von Dienst, Gewerbe und Hantierung. Wie ist Fritz Fiebiger durch sein Amt als Polizeischreiber in seiner ganzen Wesensart anders geworden, als der alte Sixtus durch sein Försterleben im Walde! Wie färbt ein absonderlicher Beruf, der des Feuerwerkers, den Peter Uhusen! Wie ganz ist der Totschläger im Stopfkuchen zugleich der Landbriefträger, der auf dem Weg zwischen Stadt und Dorf im Hin und Her eine mehrmals um die Erde führende Meilenlänge durchmessen hat. Keine menschliche Tätigkeit, die nicht bei Raabe ihre Stätte fände! Der Fürst und der Feldherr, der Minister und der Bühnenintendant, der Bankherr und der Gutsbesitzer, der Offizier und der Künstler – sie alle sehen sich bei ihm gespiegelt; am liebsten freilich bewegt er sich, ein Kind des bürgerlichen Zeitalters, in der bürgerlichen Mittellage der Ärzte, Pastoren, Schulmeister, Beamten, Zeitungsschreiber, Leihbibliothekare, Kaufleute, Landwirte, Musiklehrer, Beamtenwitwen und zumal des Handwerks, für das er immer eine besondere Vorliebe hatte. Da zeigt er mit eindringendem Verständnis jeden an der Arbeit, den Schuster, den Schmied, den Dachdeckermeister, den Uhrmacher, den Schneider, den Lohgerber, den Maurer, den Müller, den Tischler, den Buchbinder, die Putzmacherin und die Leute aus der freien Luft, den Jäger, den Fährmann, den Schäfer, den Forstarbeiter, die Botenfrau, den Totengräber, das Kräuterweib, seltener schon den Fabrikarbeiter, einläßlicher die Heimarbeiterin, all das Volk, »das mit seinen Händen zum Fortbestand der Welt hilft« und dem Raabes soziales Gefühl sich besonders nahe wußte. Damit aber die Naturgeschichte des deutschen Volkes voll werde, finden wir daneben in der unendlichen Fülle der Gestalten manchen absonderlichen Gesellen: den Zungenprediger, den Goldmacher, den Leichenphotographen, die alte Fechtmeisterswitwe, die 287 Marketenderin, den ewigen Privatdozenten, die Landsknechte, den Schmierenschauspieler, den Weltreisenden, den Rottmeister, den Scharfrichter, den Bettelmusikanten, den Altertumsnarren, den Karikaturenzeichner, den Nachtwächter, das Faktotum für alles.
Sie alle tragen typische Züge, aber sie alle sind nicht vom Typus her geschaffen, sondern individuell ausgestaltet. Wohl möchte man von dieser oder jener Gestalt sagen, so wünsche man sich einen Lehrer oder einen Arzt; dennoch dürfte kein Raabisches Werk schlechthin mit einem Standes- oder Berufstitel überschrieben werden, denn niemals (auch im Hungerpastor nicht) war es so gemeint; und wie nun alles beieinander steht, ist es schließlich ein wirkliches Bild der Menschheit in deutscher Färbung geworden.
Denn dieser Realismus erwies seine Lebensnähe in Gruppierung, Gebärde und Tonfall des einzelnen und der Vorgänge nicht nur bei dem großen Querschnitt durch das menschliche und das deutsche Leben, sondern auch bei dem Längsschnitt durch die Weltgeschichte, den Raabe vollbrachte und bei dem wir ihn frei von gesuchter Altertümelei immer sieghafter in Art und Lebensluft der Vergangenheit eintauchen sahen.
Bis ins dreizehnte Jahrhundert, ins Jahr 1259 zurück führen uns die Hämelschen Kinder; im fünfzehnten Jahrhundert (1421–1423) spielt des Reiches Krone. Sehr gern hielt sich Raabe im Jahrhundert der Reformation auf: im Jahre 1550 beginnt Unseres Herrgotts Kanzlei, 1556 der heilige Born. Am Ende des Jahrhunderts treten der Student von Wittenberg und Lorenz Scheibenhart auf, und im gleichen Jahr 1599 vollziehen sich die Geschicke des Junkers von Denow, der schwarzen Galeere, der Menschen von Sankt Thomas. Das Jahrhundert der wildesten Zerstörung, das siebzehnte, beginnt bei Raabe 288 mit der Grabrede aus dem Jahre 1609; es folgen Else von der Tanne, 1673 Höxter und Corvey, 1674 bis 1675 Der Marsch nach Hause, 1692 Ein Geheimnis, 1697 Michel Haas – es sind die Schilderungen aus der Zeit des Großen Kurfürsten und Ludwigs des Vierzehnten. Ins achtzehnte Jahrhundert führen uns das letzte Recht (1704), Gedelöcke (1731), drei Erzählungen aus dem Siebenjährigen Kriege: die Innerste, das Odfeld und Hastenbeck, und die Geschichte aus der Revolutionszeit, die Gänse von Bützow (1794). Am breitesten und einläßlichsten ist die Darstellung aus dem neunzehnten Jahrhundert. Stimmung und Tat vor und nach den Befreiungskriegen geben Im Siegeskranze, Nach dem großen Kriege und, im Rückblick, das Horn von Wanza; ins Jahr 1820 versetzen die alte Universität und Hollunderblüte. In die Zeit des Deutschen Bundes ohne nähere Jahresangabe, zum Teil über weite Strecken hin, führen der Hungerpastor (er beginnt in den zwanziger Jahren), die Leute aus dem Walde, Ein Frühling, die Weihnachtsgeister, die Kinder von Finkenrode, Wer kann es wenden?, Drei Federn, der Schüdderump, Alte Nester, Frau Salome. In die fünfziger Jahre im besonderen stellen uns die Chronik der Sperlingsgasse und Theklas Erbschaft, Eulenpfingsten (1858) und Keltische Knochen, die im selben Schillerjahr wie der Dräumling spielen – hatte doch auch Raabe im selben Jahr 1859 die Reise nach dem Süden gemacht und das Fest in Wolfenbüttel feiern helfen. Dem Dräumling schließt sich das Buch aus dem Jahre 1860, Gutmanns Reisen, an, und in die sechziger Jahre ist die Handlung von Abu Telfan, von Christoph Pechlin und die Erzählung Zum wilden Mann verlegt. 1866 erneut die Großmutter vor der Enkelin die Erinnerung Im Siegeskranze; 1867 erleben wir den Horacker und den Deutschen Mondschein. Nach 1867 spielt die Prinzessin Fisch, gegen Ende des Jahrzehnts der Meister 289 Autor, 1869 das Horn von Wanza, im Jahre 1870 Kloster Lugau und der Deutsche Adel, der noch etwas weiter führt. Und diesseits der Reichsgründung endlich liegen die Geschehnisse von Villa Schönow, Fabian und Sebastian, Pfisters Mühle, Im alten Eisen, Stopfkuchen, in den Unruhigen Gästen, den Akten des Vogelsangs, dem Laren, Wunnigel und Altershausen.
Oft ist diese geschichtliche Einstellung zugleich mit einer ebenso treuen landschaftlichen und örtlichen verknüpft. Wo Raabe solche meidet, sollen wir sie nicht suchen; aber wir sahen das Weserland, seine engere Heimat, mit allen Säften emporwachsen, fanden den Harz in den Unruhigen Gästen und in Frau Salome zum Greifen echt gespiegelt, den Solling im Horacker, in andern Werken Ith und Hils, Oker- und Selkeufer abgebildet. Aber wir trafen Raabe auch in Magdeburg und Fehrbellin, in Thüringen und Schwaben, in Nürnberg, Böhmen und Wien und immer wieder in Berlin auf sicherm Boden und fühlten die Gewißheit festen Schreitens auch in seinen Schilderungen aus Amerika und sonst aus der Ferne. Die weite Bildung, früh angebaut, lebenslänglich erweitert und befestigt, floß in das alles hinein, gab wohl hier und da einen zierlichen Schnörkel, erwies sich aber im ganzen als ein eigenster Besitz.
Ist dieser Realismus also durchaus erdenhaft und arbeitet er mit den Grundelementen menschlicher Natur, Tätigkeit, Umwelt, Bildung und Geschichte, so ist die Zielsetzung von Raabes Kunst doch nicht in jenem Begebenheitlichen umschlossen und eingeengt, das er auf Otto Ludwigs Spur als des Romandichters eigentliches Feld betrachtet. Aus solcher Beobachtung und treuer Darstellung erwuchs ein Weltbild, aber dieses Weltbild gewann in den Meisterschöpfungen symbolische Geltung. Dazu diente oft das Raabes Anlage gemäße und von 290 ihm bewußt gesteigerte, besser gesagt errungene Kunstmittel des Humors, wie es von der Drastik und guten Laune der Chronik bis zu jenem Weltgefühl aufstieg, das in den Werken der Meisterjahre zu glücklichstem Ausdruck kam. Steckt schon in diesem Humor als Lebensmacht die ganze süße Herbheit überwundener, im Kern menschlichen Wesens erarbeiteter Tragik, so wird diese Symbolisierung der Lebensvorgänge auch auf dem reinen Wege tragischer Darstellung erreicht. Das ist der Fall des Schüdderumps, der uns tief in den geheimnisvollen Widerspruch zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden hineinführt und diesen Widerspruch löst. Man erschöpft Raabes Kunst und Art nicht im mindesten mit der Bezeichnung Großer Humorist.
Solche Dichtung ist weder gemütlich noch bequem, immer wieder stehen wir am Abgrund, immer wieder heißt es der Kanaille in die Lichter, der Entsagung in das still gewordene Auge sehen. Die widerliche Mär von dem Dichter der barocken Winkel, der behaglichen Ecken hätte für den auf das Wesenhafte gerichteten Blick schon nach der Chronik keinen Raum mehr finden dürfen – vor dem ganzen Lebenswerk verweht sie, wie jedes oberflächliche Schlagwort. Hier ist ein Dichter bis zu den Müttern hinabgestiegen und hat von dort letzte Schauer der Erkenntnis gewonnen; hier ist ein Dichter, von dessen Arbeitstisch das Neue Testament niemals verschwand, noch einmal in der Stunde, da die Finsternis über das Land kam, zum Kreuze Christi geschritten und merkt nun, belehrt über Sünde und Gnade, Schuld und Erlösung, wohl auf, daß »niemand ihm den Reigen störe«.
Aber er hat auf diesem Wege Mäntel nach Golgatha gebreitet. Auch im Schreiten durch die Schauer des Schüdderumps und des Tumurkielandes in unserer nächsten Nachbarschaft fühlen wir die pulsende Menschenhand, 291 die uns geleitet, wie sie Phöbe, die Botin Pauli, in die fiebergeschwängerte Hütte führt. Der Einschlag mitatmender Menschenliebe ist das letzte einende Band dieses großen Kunstwerks von Wilhelm Raabes Erzählungen. Er hat die besondere Naturwärme, die so selten ist, und er verliert sie seit den Werken seiner Meisterschaft nie. Es ist ein unablässiges Strömen aus Herzenstiefen, ein liebevolles Verständnis für menschliche Größe und menschliche Schwäche, und auf diesem Grunde hat er gerade alle besten Kräfte des deutschen Wesens gesammelt und gleichsam mit einer Wünschelrute gezeigt, nicht was gemütlich, aber was deutsches Gemüt ist. 292