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»Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil.« So beginnt die Chronik der Sperlingsgasse, und um den Mißmut über die böse, traurige Zeit zu bekämpfen, greift der Erzähler zu den Werken des Wandsbeker Boten und den Kupfern von Daniel Chodowiecki – er will die Welt da draußen vergessen und sich ganz in diese Blätter versenken.
Dieser Auftakt läßt ohne weiteres ein Idyll erwarten – man denkt an die Pfarrlaube des Johann Heinrich Voß, an Theobul Kosegarten und Christian Eberhard, an Heinrich Seidels Leberecht Hühnchen. Aber aus der Erzählung des dem Greisentum nahen Johannes Wachholder entwickelt sich allgemach ganz etwas anderes. Zunächst freilich sehen wir allerlei Kleinleben. Der Professor Niepeguk geht vorüber, wasserholende Dienstmädchen kichern am Brunnen, Kinder drücken ihre Näschen an die Fensterscheiben und begrüßen jubelnd den ersten Schnee – und der Gedanke, ein Bilderbuch der Sperlingsgasse zu schreiben, ist fertig. In dem gleichen Augenblick aber, da die Feder für dies Bilderbuch angesetzt wird, ist die Traumseligkeit und Behaglichkeit des Idylls verschwunden, es melden sich Gestalten, Töne, Stimmen der Vergangenheit, »begrabene Frühlinge fangen wieder an zu grünen und zu blühen«, und jetzt erwacht nicht mehr die Erinnerung 25 an Claudius – nun beruft sich der Erzähler in der Stube der alten Gasse auf Jean Jacques Rousseau, der seine glühendsten, erschütterndsten Bücher auch in einer Dachstube geschrieben habe, und auf Jean Paul.
Die Aufgabe, die der vorgebliche Schreiber der Chronik sich stellt, ist doppelt: die Vergangenheit der Sperlingsgasse und ihrer Bewohner soll hervorgeholt, die Gegenwart miterzählt werden; zwischen alte, vergilbte Blätter schieben sich frische Schilderungen frischer Gegenwart, zwischen tote Menschen der Gasse und der Lebensfahrt Johannes Wachholders lebende Teilnehmer seines jetzigen Daseins. Ulfelden wächst auf, die Stadt der Kindheit fern in den Bergen unter den Buchen, und dann die Jugendgefährten, der geniale Maler und seine Frau, die auch Wachholder geliebt hat und deren Ehe er der treueste Freund, deren Kind er Pate geworden ist. Bald hat der Tod die junge Frau abgeholt, und der Gatte, der Maler Ralff, ist ihr gefolgt. Und während sich schon wieder in der Gestalt des tollen Zeichners Strobel die Gegenwart in das Bild drängt, taucht dann eine noch fernere Vergangenheit empor. Wir hören, wie Ralff seine spätere Frau kennengelernt hat, wir hören, daß er das außereheliche Kind des Grafen seiner Landschaft, daß seine Mutter verlassen worden und im Wahnsinn ins Wasser gegangen ist. Wir erleben endlich, wie die getrennten Blutszweige zusammenkommen: Wachholder und sein Pflegekind, die Tochter Ralffs, lernen eine Tochter und einen Enkel des unstet in der Welt verirrten Grafen kennen, und wir sind nicht überrascht, wenn am Schluß Franz und Marie, die letzten Nachkommen des alten Geschlechts, Mann und Weib werden.
Dazwischen aber – welche Fülle von Gestalten und Geschichten! Die arme Tänzerin mit ihrem Kinde, das in der Nacht, da sie als Teufelinne vor dem Königspaar 26 im Opernhaus hat tanzen müssen, stirbt, während die Mutter sich noch im Bühnenschmuck über das Kind beugt – ein Gegenstück zu dem Schicksal des andern unehelichen Kindes, des Malers Ralff. Der Journalist Wimmer, dessen politische Aufsätze in den »Welken Blättern« der Polizei unangenehm werden, und der deshalb ausgewiesen wird, der das mit Humor trägt und sich in der bayrischen Heimat ein behagliches Philisterdasein gründet – und sein Gegenstück, der idealistische Volksschullehrer Roder, der in die Verbannung gehn muß und drüben den alten, freien deutschen Geist durchhält. Und als dritte Ergänzung zu den beiden der Zeichner Strobel, der auch fortzieht, er mit einer armen Familie, die nicht der alte germanische Wanderdrang, sondern Not und Jammer der Zeit in die Ferne treiben. Und ihr wiederum ist das deutsche Bürgerhaus des Tischlermeisters Werner gegenübergestellt mit der Großmutter Karsten, jenes Bürgertum, das seßhaft an der Stelle bleibt und fest auf dem Sinne beharrt. Es weiß um des Vaterlandes Not und Druck Bescheid und von ihm, Meister und Gesellen, soll einst mit der inneren Freiheit die Einheit wiedergewonnen werden.
Die von Raabe für sein erstes Buch gewählte Kunstform der Ich-Erzählung erlaubt ihm ein gelöstes Schreiten, und er hat redlich Gebrauch davon gemacht. Gottfried Keller, dessen Grüner Heinrich zuerst zur selben Zeit erschien, da Wilhelm Raabe die Chronik schrieb, hat ja auch für den Großteil seines Werks die Form der Ich-Erzählung gebraucht, die eine Zeitlang sogar für die Norm des Romans gehalten wurde. Aber der Unterschied der beiden Naturen Kellers und Raabes erweist sich gleich hier. Keller erzählt, beginnend mit dem Beginn, in unmittelbarer Folge, in ziemlich gleichmäßig gerundeten Abschnitten. Bei Raabe denken wir eher an einen andern berühmten deutschen Ich-Roman, an den Werther, wo auch in unregelmäßigen 27 Abschnitten, unter Hervorholung vergangener Dinge, erzählt wird, wo auch unvergeßlich lebendige Einzelbilder zwischen Betrachtungen und Ausblicken stehen. Da ist bei Raabe die Schilderung des Leichenzuges von Marie Ralff; es folgt darauf das Zimmer Strobels mit seiner unglaublichen Unordnung. Dann, das erste Meisterstück des Buches, der Besuch des Weihnachtsmarkts mit dem kleinen Sohn der Tänzerin. Die Ausweisung Wimmers und der Sonntag im Walde mit dem Zeitungsschreiber und dem Lehrer. Gerade in der Mitte des Werks, und das ist bedeutsam, steht die prachtvoll abgetönte, lange nachhallende Geschichte von der Franzosenzeit in Berlin, erzählt von der Großmutter Karsten. Und als letzte, höchst bedeutsame Einflechtung erleben wir den Sonntagmorgen Strobels an der heimatlichen Weser, mitten unter den Erinnerungen alter deutscher Vorzeit, mit der Bäuerin, die da sagt: »Kinderschrien is ok een Gesangbauksversch«, und mit dem deutschen Dampfer, der die Auswanderer aus der Heimat führt.
Aus alledem erwächst doch ein ganz geschlossenes Bild. Wir erleben wirklich das Dasein einer Gasse, Raabe zeigt uns volles menschliches Leben, schon rein äußerlich: es fehlt eigentlich kein Stand: da ist der Tischler mit seinen Gesellen, da sind der Volksschullehrer, der Schriftsteller und der Tagesschriftsteller, der Arzt, der Polizist, da sind Künstler vom Akademieprofessor bis zum Akademieschüler, vom Karikaturenzeichner bis zur Ballettratte, ja bis zum Schausteller auf dem Weihnachtsmarkt, da sind der Rektor und der Domprediger, der Auskultator und der Oberlehrer – kurz, überall die Fülle des äußern Lebens, bis zu den beiden feinen Witwengestalten: der Großmutter Karsten, deren Söhne 1813 und 1815 auf dem Schlachtfelde geblieben sind, und Helene Berg, der Tochter des Grafen Seeburg. Und zu der Fülle des äußern Lebens 28 die Fülle des innern, nicht in Strichelmanier mühsam hingesetzt, sondern in ruhig ausatmender Kunst deutlich lebendig geworden. Nicht alles ist gleichmäßig, aber das Ganze doch unverkennbar das Werk eines werdenden Dichters, eines Menschen, der mit eignen Augen sieht.
Hermann Junge hat geistreich gefragt, ob Raabe sich vielleicht bei der Wahl der Form für die Chronik durch folgende Ausführungen Jean Pauls in der Vorschule der Ästhetik habe bestimmen lassen: »Nur der unverständige Jüngling kann glauben, geniales Feuer brenne als leidenschaftliches . . . Der rechte Genius beruhigt sich von innen; nicht das hochauffahrende Wogen, sondern die glatte Tiefe spiegelt die Welt.« Bei der geringen Vertrautheit des damaligen Raabe mit Jean Paul ist diese bewußte Schulung nicht eben wahrscheinlich, vielmehr wird Raabe aus eignem Triebe, des Vorgängers unbewußt, denselben Weg eingeschlagen haben, von dem übrigens Jean Paul selbst, nicht zu seinem Glück, nur zu oft abgewichen ist. Genannt wird Jean Paul in der Chronik als Verfasser des Siebenkäs, den aber Raabe damals noch nicht einmal ganz kannte; aber das Werk strotzt überhaupt von literarischen Anspielungen. Homer und Tacitus, das Nibelungenlied, der Parzival, der Reinke de Voß, die Carmina vagorum, Grimms Märchen und das Kommersbuch, Shakespeare, und Milton, Plato und Dante, Goldsmith und Dickens, Rousseau, Pufendorf und Bayle, Claudius, Gellert und Campe, Arndt, Uhland und Eichendorff, Voß und Seume, Johannes Falk und Kotzebue, Bernardin de Saint-Pierre, Raffael, Lortzing, nicht zuletzt Goethe und Schiller, und dann immer wieder durchleuchtend die Bibel – das ist das literarische Inventar. Aber das alles ist freilich nicht in unkünstlerischer Weise hineingepackt – wie hätte sonst die Chronik so unendlich viele Leser auf allen Alters- und Bildungsstufen finden können – sondern mit dem 29 Gefühl einer lebendigen Vertrautheit eingefugt. Wir wollen nicht leugnen, daß dabei hier und da alles nicht glatt poliert ist, dem Reiz des Werkes nimmt das doch wenig.
Wie gar nicht es auf Jean Paul ausgerichtet ist, dafür gibt es eine sichere Probe: bei diesem kann man fast überall das Episodenwerk glatt überschlagen (selbst in kleinen Werken wie Doktor Katzenbergers Badreise) und verliert zwar manche dichterisch wertvolle Stelle, aber nichts von der eigentlich tragenden Handlung. In Raabes Chronik darf man nichts auslassen, weil alles mit zusammenhaltender Künstlerkraft schließlich so miteinander vernietet ist, daß trotz ein paar Vorsprüngen und Überkanten am Ende jeder Stein und jedes Steinchen nötig waren, den ganzen Bau in seiner Fülle und in seiner Einheit erscheinen zu lassen.
Versucht man aus Raabes literarischen Anspielungen und Erwähnungen auf literarische Einflüsse zu schließen, so wird man vielfach fehlgehn. Der neuerdings behauptete überstarke Einfluß des Werther auf Raabes erstes Werk scheint mir trotz der Formverwandtschaft weit überschätzt; innerlich hat das ganz subjektive, auf ein Gefühl gestellte Goethische Frühwerk mit dem schon durch die vorgenommene Altersmaske zu starker Objektivierung, weiterem Abstand gezwungenen Raabischen Erstling nichts gemein. Die volle Sonne Goethes geht erst später über Raabes Werken auf. Viel stärker erscheint der Einfluß von drei Dichtern, die bezeichnenderweise in der Chronik nicht genannt werden. Wie Hermann Anders Krüger zuerst mit sicherm Blick feststellte, ist der eine Hans Christian Andersen mit seinem Bilderbuch ohne Bilder; daneben dürfen wir uns des Franzosen Alain René Lesage erinnern, nicht wegen des Gil Blas, sondern um seines Hinkenden Teufels willen. In beiden Werken liegt, wie 30 in der Chronik, die Stellung des Betrachters oberhalb der Dinge, in beiden werden die Ereignisse sozusagen herangetragen, sie folgen nicht zwangsläufig aufeinander. Und im Bilderbuch wird wie in einer Chronik und in dieser Chronik scheinbar wahllos umgeblättert. Erst am Schluß, im Rückblick, fühlen wir bei Raabe, daß aus den verschiedenen Gliedern doch eine ganze Kette geworden ist. In der einzelnen Schilderung aber belohnt sich jetzt die Schulung an Thackeray mit seinem reich zuströmenden Kleinleben. Von dem Briten vor allem und aus seinem Pendennis hat Raabe die Beobachtung vom kleinen Zuge her, von Äußerlichkeiten und bezeichnenden Bewegungen gelernt; von ihm den rasch zupackenden, treffenden Vergleich. Thackeray nennt die Zigarre einmal die »gewöhnliche Trösterin«, einmal gar den »großen Geheimnisergründer«; bei Raabe wird sie zur »großen Trostspenderin des neunzehnten Jahrhunderts«. Der Doktor Johnson muß als eine allbekannte literarische Persönlichkeit in beiden Werken herhalten. Wenn Thackeray einen Zug durch Vergleiche aus Schrifttum und Geschichte charakterisieren will, häuft er sie: Rowena aus Scotts Ivanhoe, Marie Antoinette, die Marquise von Carabas marschieren allesamt auf – wenn Raabe die Mansarde als Wochenstube der frischesten und eigenartigsten Kunstwerke preist, schüttelt er, gleich freigebig, Erinnerungen an Goldsmith, Rousseau, Jean Paul aus. Und nachdrücklich, wie der große Engländer, betont der junge Deutsche die hohe Verantwortlichkeit dessen, der »die Feder hält«.
Scheint so die Stilbetrachtung den Kreis von Anregern und Vorgängern noch zu erweitern, so muß sie schließlich doch zugeben, daß aus allem ein unverkennbar eigenes und ein unverkennbar deutsches Werk erwachsen ist. Selbst von Thackerays Gestalten und Handlung ist nichts in die Chronik eingegangen. Dieser Ton war persönlich 31 und nicht mehr überhörbar. Die Fähigkeit, Stimmungen zu schildern, heitere und düstere, einfache und aus Bitterkeit und Süße zusammenfließende, zeichnet die Chronik vor allem aus. Die Charaktere der handelnden Personen sind noch im einzelnen nicht vertieft. Wir erleben bei vielen den Augenblick starker Erregung, bei Wachholder selbst, bei dem älteren Ralff, bei Strobel, bei Wimmer, bei Roder, und bei jedem wirkt sie sich nach der Anlage des Charakters aus – aber noch fehlt der kunstvoll-menschlich ganz durchgeführte, von innen aufgebaute Charakter. Das lag ja freilich nicht im Plane der Chronik, die eben keinen Grünen Heinrich schlußgerecht darstellen, sondern ein Bild aus der Fülle mannigfachen Lebens zusammensetzen wollte. Raabe läßt uns von jedem nur so viel sehn, wie er zu seinen künstlerischen Zielen braucht, aber gerade genug, diese seine Geschöpfe umgangs- und liebenswert zu machen. Noch nach einem Menschenalter bezeugte ein jüngeres Geschlecht durch den Mund Jakob Julius Davids: »Wem entfiele jemals eine Gestalt aus der Chronik der Sperlingsgasse?«
Die zeitliche Einstellung der Vorgänge ist ganz deutlich: Wachholder schreibt während des Krimkriegs, und ebenso sicher ist die örtliche: die Jugendvorgänge spielen in den Wäldern von Raabes Heimat, die Sperlingsgasse aber liegt in Berlin, es fehlen selbst das Pfeffer- und Salzfaß, die beiden Gontardschen Türme auf dem Gensdarmenmarkt, nicht, und die Frau des Preußischen Bundestagsgesandten, Johanna von Bismarck, fand sich alsbald in der Chronik völlig berlinisch angeheimelt und verglich seufzend und lächelnd, wie manch andere Mutter, die Untaten des jungen Berg mit denen ihres eigenen Bill.
Stülpnagel, der nächste Vertraute, bekam die Handschrift zuerst in die Hände. Er las sie, war voll froher Zustimmung und sofort bereit, Raabe auf dem Wege in 32 die Öffentlichkeit nach seinen Kräften zu unterstützen. Es macht dem Blick des jungen Leihbibliothekars alle Ehre, daß er das Buch keinem andern als Willibald Alexis brachte. Der große Erzähler prüfte das Werk mit Anteil, lobte es sehr, konnte aber nichts mehr dafür tun, da er im selben Jahre, 1856, von dem Gehirnschlage getroffen wurde, dessen Folgen er nicht mehr überwand. Aber Stülpnagel ließ sich nicht abschrecken, er führte Raabe mit dem Verlagsbuchhändler Franz Stage zusammen, und der hatte gleichfalls an der Erzählung Freude. Er schlug Raabe eine einzige, freilich wesentliche Abänderung vor, nämlich die Ausscheidung einer eingefügten geschichtlichen Skizze und ihren Ersatz durch Näherliegendes; und als Raabe sich gefügt hatte, erklärte Stage sich zum Verlage bereit. Freilich sollte der junge Verfasser kein Honorar erhalten, im Gegenteil, der Verleger bedang sich einen Druckkostenzuschuß von fünfzig Talern aus und sagte dem Dichter dafür hundert Freiexemplare zu. Raabe ging hierauf sofort ein und verzichtete später sogar auf einen Teil der hundert Stücke, um so die Zahl der Rezensionsexemplare zu vermehren. Der Druck begann sogleich (bei Brandes und Schultze in der Roßstraße, ganz nah der Spreegasse), und Ende September 1856 erschien der etwa sechzehn Bogen starke Klein-Oktavband. »Herausgegeben von Jakob Corvinus«, stand unter dem Titel.
Das neue Buch hatte Erfolg. Wie Levin Schücking, so begrüßte es der erste damalige Kritiker Berlins, Ludwig Rellstab mit besonders lebhafter Anerkennung. Auch er erinnerte freilich an Jean Paul, aber er fügte sofort hinzu: »Bei allem hat Corvinus vollständig sein eigen Haus und Hof und lebt nicht von seinen Verwandten«, und Friedrich Hebbel nannte in der Illustrierten Zeitung das neue Werk des unbekannten Verfassers eine vortreffliche Ouverture. Wenn er weiter heischend fragte: »Wo aber 33 bleibt die Oper?« so antworten wir, wie Raabe es später gelegentlich tat: Hebbel hat ihr Erscheinen nicht mehr erleben und hören dürfen.
Wir, die wir heute aus weitem Abstande zurücksehn, erblicken in der Chronik nun freilich zeit- und literaturgeschichtlich noch bei weitem mehr als nur das Vorspiel zu Raabes Werk. In Raabes magdeburger Kaufmannszeit hatte mit dem letzten Ausschwingen der Revolution noch die politische Lyrik und die Zeit-Dichtung überhaupt im Vordergrunde gestanden. Seither war fast unbemerkt eine neue Entwicklung zum Siege geschritten, ohne Kampf, wie von selbst, und gerade 1856, Heines Todesjahr, ist das eigentliche Durchbruchsjahr dieser neuen Kunst des Realismus, der deutschen Lebenstreue. In ihm schließt Willibald Alexis mit der Dorothee den Kreis seiner vaterländischen Romane, Otto Ludwig bringt sein Zwischen Himmel und Erde, Gottfried Keller den ersten Band der Leute von Seldwyla, Gustav Freytags Soll und Haben begeht eben den ersten Geburtstag.
Deutlich zeigt sich der tiefe Wandel der Verhältnisse: die – einst, in der Schwüle der Restaurationszeit, geschichtlich notwendige und heilsam aufrüttelnde – Tendenzkunst, der Friedrich Hebbel und Otto Ludwig so bitter feind waren, das ganze Junge Deutschland und die politische Poesie der Revolutionsjahre sind vorüber, und im Jahre 1857 geht mit Joseph von Eichendorff, da Uhland längst verstummt ist, auch die große Romantik endgültig zur Rüste. Es ist der Punkt gekommen, den Karl Immermann, der Wegbereiter, vorausgesagt hat: »Wir müssen durch das Romantische hindurch in das realistisch-pragmatische Element. An diesem kann sich eine Kunst der deutschen Poesie entwickeln.« Das Streben der einen, vor allem Heyses und der Münchner, ging nach einer Stilisierung der Form in Anlehnung an Goethe, die 34 Klassik, Grillparzer. Machtvoll setzte sich daneben und darüber hinweg die realistische Bewegung durch, deren erstes norddeutsches Meisterwerk, der Cabanis, einst eben nach Wilhelm Raabes Geburt erschienen war. Diese Kunst war der Ausdruck und die Sprache des ganzen Lebens jener Tage. Noch lastete die Reaktion schwer auf dem deutschen und zumal auf dem preußischen Bürgertum. Die Hochstimmung von 1848 war vorbei, viele der besten Männer lebten in der Verbannung, und der Drang nach Freiheit kam nur in der harmloseren Art der Schützen-, Sänger- und Turnerfeste zum Ausdruck. Aber welche Kräfte wirkten in der Stille! Da arbeitete die Erbkaiserpartei von Frankfurt, da bereitete sich der Prinz von Preußen auf den Neubau der militärischen Stärke seines Staates vor, da erwuchs Helmuth von Moltke zum Feldherrn und Führer, da ging Adolf Menzel ruhig und sicher durch das wachsende Berlin und schuf seine Bilder von Preußens Größe und von dem werdenden Hauptort der Industrie, da arbeiteten die Staatsmänner des Zollvereins an der wirtschaftlichen Einigung Deutschlands, und da saß als Vertreter Preußens am Bundestage, aufmerksam, schlagfertig, mit der Hellhörigkeit des Genies Otto von Bismarck in der Eschenheimer Gasse zu Frankfurt am Main.
So wenig wie diese glanzlose Arbeit der Vorbereitung unter dem Druck einer mißtrauischen Verwaltung und unter der Stimmung einer mit Recht mißtrauischen Opposition der Nation zum Bewußtsein kommen konnte, so wenig ist jenen fünfziger Jahren selbst die Einheitlichkeit und Größe der neuen Dichtung recht deutlich geworden. Allerdings traten die neuen Dichter nicht wie die Romantiker und das Junge Deutschland in sichtlicher Kampfstellung auf das Blachfeld; sie begannen vielmehr ihr Werk fast überall in Vereinzelung, und selbst Heinrich von Treitschke hat wohl geahnt, was jene Jahre bedeuteten, 35 aber noch nicht klar erkannt, wie sehr die von ihm geliebten und charakterisierten Dichter Hebbel und Ludwig dem neuen Realismus zugehörten.
Heute sehen wir eine stolze Entwicklung, die in jeder Hinsicht das ganze deutsche Leben, alle Formen der Dichtung umfaßt und mit dem Ideal der Lebenstreue durchdringt. Als Vorläufer erscheinen uns Jeremias Gotthelf, Charles Sealsfield, Adalbert Stifter und Berthold Auerbach; sie erleben die Höhe der Epoche zum Teil nicht mehr mit, geben aber alle schon bleibende realistische Werke. Der erste Erfüller ist Willibald Alexis. Neben ihm wäre wohl in Süddeutschland Hermann Kurz zu voller Höhe emporgewachsen, wenn ihn nicht, noch stärker als den Preußen, politische Tagesarbeit und drückendes Geschick abgezogen hätten. Friedrich Hebbel und Otto Ludwig schaffen ein neues, jenseits der Zeitströmungen tief verankertes Drama, und der zweite gibt zugleich großen Realismus der Erzählung in mitteldeutscher Prägung. Jetzt kommen die erzählenden Begabungen eine nach der andern empor: Louise von François bringt das Beste der preußischen Aristokratie, Gustav Freytag bestes bürgerliches Empfinden und Leben, Fritz Reuter wird der erste große Erzähler im Dialekt, neben ihn tritt John Brinckmann. Theodor Storm gibt seine lyrisch abgetönte, lebensnahe Novellenkunst und eine ganz lebendige Lyrik, wie sie seit den Meisterstücken der Romantik nicht wieder erklungen war; Klaus Groth ergänzt ihn in der Mundart. Gottfried Keller ringt sich durch und vereint in Roman und Novelle eine erstaunliche Lebensfülle mit der Goldklarheit einer künstlerisch gebändigten Form. Und welche Menge erzählender Charakterköpfe zweiten und dritten Ranges neben diesen allen! Joseph Viktor Scheffel, Wilhelm Heinrich Riehl, auch Adolf Pichler stehn mit manchem noch nahe bei jenen selbst; Heinrich Smidt, Friedrich 36 Gerstäcker, Otto Ruppius – alles Unterhaltungstalente volkstümlicher Art – streben in die Ferne hinaus, geben Exotisches und Fremdländisches; Theodor Mügge, Georg Hesekiel, Otto Müller, Ernst Wichert, Leopold Kompert bringen Geschichts- und Kulturbilder aus größerer Nähe; Friedrich Wilhelm Hackländer, Levin Schücking, Philipp Galen, Edmund Höfer, vor allem Karl von Holtei schaffen einen feinen, zum Teil recht gehaltvollen Gesellschafts- und Volksroman; selbst die Verbrechergeschichte, der ja doch einmal auch Alexis diente, bringt es zu einer anständigen Höhenlage, die Jugenderzählung hebt sich, und auch die ganz absonderlichen Schriftsteller der Zeit, wie Bogumil Goltz, Wilhelm Jordan oder Friedrich Theodor Vischer, unterscheiden sich durch ihre eigentümliche Schwere von den nur geistreichen Romanschriftstellern und Reisenovellisten der vergangenen Jahrzehnte. Noch zwanzig Jahre später reifende große dichterische Begabungen, wie Rudolf Lindau, Marie von Ebner-Eschenbach, Ferdinand von Saar, Ludwig Anzengruber verleugnen in keinem Ton die realistische Erziehung dieses unerschöpflich wohlhabenden Silbernen Zeitalters.
Das Ideal der Lebenstreue war erreicht, das Ideal der Tendenz, das die dreißiger und vierziger Jahre beherrscht hatte, überwunden. Was sich in wenigen Prosastücken von Annette von Droste-Hülshoff und in Karl Immermanns Oberhof andeutete, der bezeichnend genug aus dem Münchhausen hervorragt – das ward nun in einem Vierteljahrhundert Gestaltung. Ein Längsschnitt ward gemacht, wenn man das Bild gebrauchen darf, durch das deutsche Leben von seinen geschichtlichen Wurzeln bis in die damalige Gegenwart hinein, vielfach zugleich hinauf bis in die Gipfel der Zukunft, und ein Querschnitt zugleich durch das Leben der ganzen bekannten Welt, der engsten Heimat, wie der nun schon sicher gesehenen Ferne. Als 37 ob aber diese Entwicklung noch einer Kraft bedürfe, die, zum Erzählen geboren und ganz und gar Dichter, das ganze Werk noch einmal für sich allein vollbringen sollte, erschien als einer der jüngeren des Geschlechts Wilhelm Raabe mit seinen ersten Werken eben noch innerhalb der Bewegung. Wir werden sehen, wie er sie, unbeirrt durch alles, was kam, fast auf den Tag bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, immer ganz er selbst und nur er selbst, weitergeführt hat.
Selbst in dieser weiten Perspektive eignet aber Wilhelm Raabes erstem Werk noch eine auszeichnende Besonderheit: die scharf betonte Volks- und Vaterlandsgesinnung. Das nationale Gefühl erwächst in Soll und Haben mehr aus dem Gegensatz gegen das Polentum; es steckt in Zwischen Himmel und Erde nur in der Gestaltung, es ist in Gottfried Kellers Werk mehr schweizerisch als gemeindeutsch. Alle diese gleichzeitigen Bücher sind im Verhältnis zur Chronik weit mehr nur realistische Schilderungen einzelner Deutscher, ihrer Kreise und Landschaften – Raabes ihnen allen künstlerisch nachstehendes Werk ist, wie der in Raabes berliner Einzugsjahr erschienene Isegrimm von Willibald Alexis, bewußt auf die nationalen Geschicke aufgerichtet, und zwar in einem bewußt liberalen und großdeutschen Sinn. Wimmer steht in diesem Betracht auf der untersten Stufe, er ist der oppositionelle Journalist und wird wegen seiner Angriffe gegen die Regierung ausgewiesen, aber die Dinge gehn ihm nicht sehr tief, und wie er sich mit einem übermütigen Scherze verabschiedet, so versinkt er hinter dem bayrischen Bierkrug bald ins Philistertum. Der demokratische Volksschullehrer Roder aber ist von freiheitlichem Idealismus ganz durchglutet, verliert deshalb Amt und Brot und zieht gleich zahlreichen damaligen Geistesarbeitern übers Meer, den Vereinigten Staaten den besten Zuzug deutschen 38 Lebens zu bringen. In Strobel, dem Karikaturenzeichner, gestaltet Raabe ein anderes Ergebnis des furchtbaren politischen Drucks; seine innere Zerrissenheit ist unheilbar, weil ihr der gesunde Luftzug eines unbefangenen, freien nationalen Lebens fehlt. Und Wachholder selbst, keine Tatnatur, sieht über den Schreibtisch und die Gasse, die eigenen und die befreundeten Geschicke immer in das weite, große, träumende Vaterland hinein. Er verleibt die Geschichte der Großmutter aus der Franzosenzeit mit der scharf zugespitzten nationalen Absicht in gewissem Sinne als Kernstück des Ganzen seinen Blättern ein. Die Hörer alle, in ihrer sozialen Abstufung vom Akademiker bis zum Handwerkslehrling ein Abbild des gesamten Volkes, wissen um was es geht. Sie hören aus dem verflossenen Kampf um Deutschlands Freiheit den Vorklang eines künftigen, und sie verstehen, warum der Meister Karsten die Tafel mit den Namen seiner 1813 gefallenen Söhne nicht mehr hat ansehen mögen. Und »in diesem Wissen liegt die Zukunft«. Sie liegt in der Hoffnung darauf, daß die ersehnte wirkliche Einheit und die versprochene und nicht gewährte innere Freiheit einst kommen werden und kommen müssen. Das ist keine oberflächliche Tendenzpoesie und liegt jungdeutscher Polemik ganz fern; dieser Tendenz sagt Raabe so scharf ab, wie es Hebbel immer wieder tat. »Die meisten Dichterwerke der neuesten Zeit gleichen dem Bilde jenes italienischen Meisters, der seine Geliebte malte als Herodias und sich in dem Kopfe des Täufers auf der Schüssel porträtierte. Da pinseln uns die Herren ein Weibsbild, Tendenz genannt, hin, welches anzubeten sie heucheln, und welches auf dem Präsentierteller, hochachtungsvoll und ergebenst, uns das verzerrte Haupt des werten Schriftstellers selbst überreicht.« Dazu gibt dann in dem Bewußtsein, hier handele es sich um die höchsten 39 Angelegenheiten der Nation, Wachholder sein letztes Wort:
»Oh, ihr Dichter und Schriftsteller Deutschlands, sagt und schreibt nichts, euer Volk zu entmutigen, wie es leider von euch, die ihr die stolzesten Namen in Poesie und Wissenschaften führt, so oft geschieht! Scheltet, spottet, geißelt, aber hütet euch, jene schwächliche Resignation, von welcher der nächste Schritt zur Gleichgültigkeit führt, zu befördern oder gar sie hervorrufen zu wollen.
Als die Juden an den Wassern zu Babel saßen und ihre Harfen an die Weiden hingen, weinten sie, aber sie riefen:
›Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen!‹
Die Worte waren kräftig genug, selbst die zuckenden Glieder eines Volkes durch die Jahrtausende zu erhalten.
Ihr habt die Gewohnheit, ihr Prediger und Vormünder des Volks, den Wegziehenden einen Bibelvers in das Gesangbuch des Heimatdorfs zu schreiben; schreibt:
›Vergesse ich dein, Deutschland, großes Vaterland: so werde meiner Rechten vergessen!‹
Der Spruch in aller Herzen und das Vaterland ist ewig!«
An die Stelle der Tages- und Parteiabsicht ist der große vaterländische Einschuß, die tiefe Sehnsucht getreten, ein aus dem Herzen herauswachsendes Gefühl, kein den Gestalten aufgeklebtes Aushängeschild; und so wird allgemach aus der Satire der Humor, aus geistreicher Feilung stachliger Spitzen am Leben emporquellendes Leben. Im Aufstieg von Wimmer, der vielfach noch den reinen Witz vertritt, über Strobel zum Ganzen strahlt goldene Laune empor, ringt sich noch unter dem Drucke der Gegenwart ein befreiendes Lachen ans Licht, da, wo das Lachen erlaubt ist. 40