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Zu Ostern 1856 kehrte Raabe nach Wolfenbüttel zurück, äußerlich wieder ohne abschließenden Erfolg, aber innerlich seines Weges sicher. Keinen der in den Sippen der Raabes und Jeeps herkömmlichen Berufe hatte er ergriffen. auf keine staatliche oder gelehrte Stellung, auf keinen Titel, wie ihn nicht nur der deutsche Kleinstädter schätzt, durch Diplom oder Examen Anspruch erworben. Dafür durfte er sich seiner Berufung gewiß fühlen, der Durchbruch des Talents war erfolgt, die ersten Druckfahnen in der Rocktasche erschienen ihm als vollberechtigte Verheißung schweren, aber unhemmbaren Aufstiegs. Die heimische Landschaft glänzte in dem schönen Wetter dieses Sommers, da Raabe sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr vollendete, besonders lieblich, und während im Zimmer bei der Mutter die nie wiederkehrende Freude jedes jungen Schriftstellers an der ersten Korrektur voll ausgekostet wurde, lockten Stadt, Land und die nachbarliche Residenz zu immer neuen Ausflügen. Die häuslichen Verhältnisse waren durch den Umzug der Mutter in das Eckhaus Nr. 16, schräg gegenüber der ersten Okerstraßenwohnung, behaglicher geworden. Das weitläufige, aus dem Jahre 1693 stammende Gebäude enthielt geräumige Wohnstuben nach Straße und Garten, ein Arbeitszimmer für Wilhelm gen Sonnenaufgang mit ragenden Obstbäumen vor dem Fenster und im Garten eine grün 41 eingewachsene, von Blumenbeeten umgebene Laube. Sorgen um den Bruder Heinrich umschatteten zuweilen das Haus; er hatte sich auf der Georgia Augusta zu Göttingen ein Brustübel zugezogen, aber seine Natur überwand es allmählich, und so konnte die Mutter sich mit dem ältesten Sohne des langsam steigenden Erfolges der Chronik freuen. Wohl nannte sich der Verfasser auf dem Titelblatte Jakob Corvinus, aber der Deckname war leicht zu enträtseln, und auf einmal besaß Wolfenbüttel einen Schriftsteller, der alsbald auch von außerhalb her beglaubigt wurde und so denn auch »im Vaterlande« Geltung gewinnen durfte. Jetzt erst erschloß sich in seinem Wesen die Frohnatur. Alsbald scharte sich ein Kreis bildungsfreudiger, reger Menschen zu freundschaftlicher Geselligkeit und oft scharf kritischer Zwiesprach um ihn als den geistigen Mittelpunkt, Männer, die im Leben ihres Heimatlandes zu verdienter Geltung gelangen sollten. Einer von ihnen brachte es darüber hinaus zu weiter Wirksamkeit in deutschen Landen, der liberale Politiker Karl Schrader, der als Führer der Fortschrittlichen Volkspartei wie als emsiger Förderer der Volksbildung bis in hohe Jahre viel Freundschaft und Ansehen erntete. Neben ihm stand – in der Redeschlacht der schärfste – der spätere braunschweigische Staatsminister Wilhelm Spieß und dessen Bruder, der nachmalige Konsistorialpräsident Gustav Spieß, der auch in Versen dilettierte. Weiter gehörten dem Kreise ein zweiter künftiger Konsistorialpräsident, Karl von Schmidt-Phieseldeck und der Hauptmann Isendahl an, und endlich wurde für Raabe die Verbindung mit dem um zwei Jahre älteren Adolf Glaser wichtig. Auch der war erst in der kaufmännischen Lehre gewesen, dann aber nach großen Reisen und dem Besuch der Universität gerade im Jahre 1856 als Chefredakteur zu dem Verleger George 42 Westermann nach Braunschweig gekommen, der eben seine Illustrierten Deutschen Monatshefte ins Leben gerufen hatte.
Oft saß der ganze Kreis bei einer Tasse Kaffee am Sonntagnachmittag in den einzelnen Familien reihum beisammen, oft wurden gemeinsame Ausflüge gemacht, dann wieder vereinigte man sich zu zweien oder dreien in der Okerstraße oder nahe dem hübschen Antoinettenruh an der braunschweig-wolfenbüttler Landstraße in dem Gartenhause, das Raabes um der Erholung Heinrichs willen einen Sommer lang bewohnten. Glaser führte nicht nur Novellen des jungen Autors und zwar gleich das auf Stages Rat aus der Chronik ausgeschaltete Stück Der Student von Wittenberg in Westermanns Monatshefte ein, er brachte ihn auch mit der Familie Westermann zusammen. Raabe hat da noch Karl Köchy, den damals schon dem Greisenalter nahen braunschweiger Theaterdichter, kennengelernt, der ihm wohl von seinem engen Verkehr mit Heine und Grabbe erzählt hat. Ein Anlaß tiefer Erregung war Raabe jahrelang das Schicksal des Professors am Karolinum Robert Griepenkerl; der hochstrebende, reichbeanlagte, aber des festen inneren Halts entbehrende Mann lebte in einem Auf und Ab von Fürstengunst und Dramenerfolg, Niederbruch und Enttäuschung, ja er mußte im Jahre 1862 wegen leichtsinnigen Bankrotts ins Gefängnis wandern. Es gab Raabe jedesmal einen Stich ins Herz, wenn er den Zerrütteten, dessen Begabung er voll erkannte, durch die Straßen schwanken sah; die Schuld an seinem Untergang schob er zum guten Teil dem Herzogtum Braunschweig und seiner beengten Atmosphäre zu.
Die Chronik hatte noch keine goldenen Früchte getragen, aber allmählich brachte Raabe sein Schaffen auch Honorare ins Haus; das erste von vierzehn ganzen Talern sandte 43 der berliner Bazar im Sommer 1857 für ein Novellchen Der Weg zum Lachen; das Geld ward zu einer Fußreise mit Bruder Heinrich und andern göttinger Studenten auf den Hohen Meißner und in den Thüringer Wald verwendet. Zum erstenmal stand Raabe, tief aufatmend, vom vollen Hauch der Geschichte angeweht, auf der Wartburg, er besuchte das von ländlichem Sonntagstreiben überflutete Ruhla und wanderte über den Rennstieg auf den Inselberg zu weiter Schau ins thüringer Land. Das nächste größere Werk, Ein Frühling, am 1. Oktober 1856 begonnen und im Mai des nächsten Jahres vollendet, veröffentlichte die braunschweiger Deutsche Reichszeitung, und nach diesem Vorabdrucke gelangte es gar in den heimischen Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn, der einst Goethes Hermann und Dorothea die erste Heimstatt geworden war, und noch damals so gewichtige Autoren, wie Hermann Helmholtz und Justus Liebig bei sich vereinigte. Eben erst war der Grüne Heinrich mit dem gleichen Verlegernamen erschienen. Man kann sich das Glück der Mutter, wie den ungeheuchelten Respekt der Mitbürger ausmalen, als der Frühling nun gar ins Holländische übersetzt wurde. Der ganze Kreis um Raabe gewann dadurch auch an gesellschaftlicher Geltung; die jungen Leute wurden in braunschweiger und wolfenbüttler Familien gezogen, und zum erstenmal seit der berliner Tanzstunde übte sich Raabe mit Ernst und Beharrlichkeit auch in Walzer und Quadrille à la cour. Es war ein fröhliches, geselliges Hin und Her, dessen Kern immer das Raabehaus blieb, mit der Mutter an der Spitze, deren Vertrauen in den ältesten Sohn sich so sichtlich bewährt hatte.
Die reiche, einst von Lessing verwaltete wolfenbüttler Bibliothek ließ Raabe über alledem nicht ungenutzt. Neben zahlreichen geschichtlichen Werken, wie er sie als Hintergrund und Anregung zum eignen Schaffen brauchte, 44 holte er sich die Gedichte Christian Günthers und politische Schriften Ernst Moritz Arndts; er rundete seine Kenntnis englischen Schrifttums durch Bücher Fieldings, Thomas Moores und Byrons ab, beschäftigte sich mit Johnson und den Briefen der Elisabeth Charlotte von der Pfalz. Der Winter von 1857 auf 1858 und noch fast der ganze Sommer dieses Jahres sahen ihn bei einer dritten längeren Erzählung, den Kindern von Finkenrode; sie erschien wiederum in den Westermannschen Monatsheften. Dazwischen entstanden die Geschichte von Lorenz Scheibenhart und die Skizze Einer aus der Menge, die alsbald Friedrich Hackländer und Edmund Höfer in die stuttgarter Hausblätter aufnahmen. Auch ein Drama, dessen Heldin Jonathans Schwester Michal werden sollte, hat Raabe damals lebhaft beschäftigt, und über alle diese Jahre streute sich eine reiche Ernte lyrischer Gedichte und balladenhafter Verserzählungem
Die Kinder von Finkenrode erschienen bei Ernst Schotte & Co. in Berlin, Verwandten Stages, noch im Winter 1858/59 als Buch und trugen als erstes Werk unter dem immer noch festgehaltenen Schriftstellernamen Jakob Corvinus und über einem Hinweis auf die Chronik und den Frühling den Namen Wilhelm Raabe in die Welt. Gleichzeitig brachte Schotte ein Bändchen, Halb Mär, halb Mehr, Erzählungen, Skizzen und Reime mit einer Titelzeichnung von Raymond de Baux. Ehe sie ausgedruckt waren, saß Raabe bereits wieder über zwei Novellen von geschichtlichem Klange: Die alte Universität, aus der Anschauung Helmstedts und Erinnerungen des dort einst als akademischer Bürger eingeschriebenen Großvaters gewonnen, eine Frucht weniger Sommerwochen von 1858, und Der Junker von Denow, in Wintertagen desselben Jahres entstanden. Die Honorare von Westermann für diese beiden Dichtungen ermutigten Raabe, nun einmal 45 seinen Stab weiter zu setzen und eine erste größere Reise, seine eigentliche Bildungsreise, zu unternehmen.
Wilhelm Raabe war zu seinem Eigensten auf seinem eignen Wege gelangt, und dieser Weg war, so schrieb er in diesen Tagen seinem Verleger Schotte, nicht die ausgetretene Heerstraße. Sein Aufstieg war ungewöhnlich gewesen, ungewöhnlich, wie der so vieler Dichter seines Geschlechts und von der seinen verwandter Art. Fritz Reuter ward durch die lange Haft seiner Laufbahn entrissen und schlug sich als Landmann und Lehrer durch, bis er den Schriftsteller in sich entdeckte; Berthold Auerbach kam erst über die Rabbinerschule in einen regelmäßigen Lehrgang hinein; die Bildungsstufen Friedrich Hebbels stehn uns lebhaft vor Augen, und sein Landsmann Klaus Groth hat sich auf den Wegen der Selbstlehre bis zu seinem Quickborn herangebildet. Gottfried Kellers gewundene Jugendgeschichte kennen wir nicht nur durch den Grünen Heinrich, und Theodor Fontane hat uns über sein bruchstückmäßiges Lernen und das merkwürdige Auf und Ab seiner Lebens- und Dichterschicksale ausführlich genug Bericht gegeben. Alle diese Poeten kamen aus kleinen Verhältnissen. Aber selbst bei den Söhnen größerer und angesehener Häuser, wie bei Otto Ludwig und Gustav Freytag, sind die Pfade zum ersten Ziele seltsam genug. Jener macht zweimal den Umweg durch die Musik, dieser geht rasch aus der scheinbar für ihn so günstigen Hochschullaufbahn zur Zeitungsschreiberei über. Es ist etwas ganz anderes um den Bildungsgang dieser Männer, als um den der Klassiker, Herders, Goethes, selbst Lessings; und es ist wiederum etwas anderes, als bei den Münchnern, bei Geibel und Heyse, Hertz und Schack. Alle jene großen Dramatiker und Erzähler aus den Geburtsjahren von 1810 bis 1831 hätten im Grunde, ihrem Werdegang nach, das Zeug gehabt, problematische 46 Charaktere in dem bekannten Sinne des Goethischen Worts zu werden; und gerade sie alle – selbst Otto Ludwig in seinen gesunden Tagen – sind Lebensbezwinger geworden. Zu dieser Lebensbezwingung aber gehörte für die meisten von ihnen die große Reise, das, was der junge Adlige des 18. Jahrhunderts, freilich als ein Unterfangen zu mehr äußeren Zwecken, die große Tour nannte. Auch da sehen wir bei Raabe, wie bei manchem ihm Verwandten oder Gleichaltrigen, ein Abweichen vom Hergebrachten. Hebbel glaubte Paris und Rom kennenlernen zu müssen, Fontane ging nach England, Geibel nach Griechenland, Heyse und Scheffel nach Italien, Rodenberg nach Holland, Paris, England, Bodenstedt nach dem Kaukasus, Bogumil Goltz gar nach Ägypten und selbst Hermann Allmers an den Tiber. Raabe legte es vor allem auf eine Erweiterung seiner Kenntnisse deutscher Art und Kunst an, und als ihm die Politik vor den Alpenpässen ein Halt zurief, kehrte er ohne Reue um und versuchte niemals wieder die deutsche Grenze zu überschreiten.
Seine Reiseziele wählte er, des reisekundigen Vaters echter Sohn, nach drei Gesichtspunkten: er wollte seine Anschauung des vaterländischen Bodens durch das Bild der charakteristischen Täler und Ufer von Elbe, Donau und Rhein ergänzen; er sehnte sich, dem Werden deutscher Geschicke in der Betrachtung geschichtlicher Plätze, sagen- und ruhmumworbener Hauptstädte nachzuspüren, und er wollte dem charakteristischen Volks- und Gewerbsleben verschiedener deutscher Stämme über den ihm bisher vertrauten niederdeutsch-märkischen Bezirk hinaus seinen Takt abhören. Dazu kam bei dem Schriftsteller noch ein Letztes: ihm lag daran, die literarischen Vororte Deutschlands aufzusuchen und jetzt ohne die Zurückhaltung des einstigen namenlosen berliner Anfängers Dichter, Schriftsteller, Verleger Auge in Auge kennenzulernen. 47
So fuhr er Anfangs April 1859 zunächst nach Leipzig, dem einen Hauptplatz des deutschen Verlagsbuchhandels. Westermanns Mitarbeiter ward bei Ernst Keil, dem erfolgreichen Herausgeber der nun im siebenten Jahre blühenden, unerhört verbreiteten Gartenlaube, wohl aufgenommen und sogar mit dem scherzhaften Vorschlage beglückt, als Berichterstatter in den Österreichisch-Italienischen Krieg zu ziehen. Am Gartenlaubenstammtisch in der alten Bierstube zum Ritter traf Raabe Friedrich Gerstäcker, der dem Kaufmannsberuf sogleich bis über den Ozean entlaufen war und schon im Glanze einer sich rasch noch immer steigernden Berühmtheit stand. Auch Hermann Marggraf, den Herausgeber der Blätter für literarische Unterhaltung, lernte er in Gohlis kennen und besuchte Gustav Freytag, nicht sowohl zuerst den Grenzbotenredakteur als den Verfasser von Soll und Haben. Aus der ihm eignen, ein wenig bauernschlauen Zurückhaltung fiel Freytag heraus, als Raabe ihm von dem geplanten Abstecher nach Italien berichtete. »Was wollen nur die deutschen Künstler immer in Italien! Sie sollten lieber nach den Niederlanden gehen, da ist das goldene Land germanischer Kunst, da sollten sie hinziehen, wenn sie etwas Brauchbares lernen wollen.« Raabe war über den Rat des um fünfzehn Jahre älteren berühmten Mannes zunächst verblüfft, mußte ihm aber alsbald innerlich recht geben, so sehr Recht, daß er noch als Greis jüngeren Freunden die Mahnung wörtlich wiederholen konnte.
Der nächste Haltepunkt der Reise war Dresden im Frühlingsglanze der beblühten Elbufer. Hier wohnte Karl Gutzkow, dessen Ritter vom Geiste noch frisch vor Raabes Augen standen, wie er sie als junger Buchhändler zuerst gelesen hatte. Gutzkow ließ Raabe nichts von den schroffen und krankhaften Seiten seines Wesens merken, sondern verbrachte manchen guten Abend mit ihm; nur 48 wenn er von seinem eben entstehenden neuen Zeitroman Der Zauberer von Rom sprach, kam sein eigentümliches Mißtrauen in Umgebung und Kritik unverhüllt zum Ausdruck. Emil Devrient, der Schauspieler, Robert Giesecke, der Novellist, gesellten sich hinzu. Mit dem liebenswürdigen Ferdinand Stolle, dem Herausgeber des Dorfbarbiers, und seiner Familie durchstreifte Raabe die Lößnitz und die Sächsische Schweiz. Einen Besuch bei dem schwer leidenden Otto Ludwig durfte er leider nicht wagen.
Der stärkste geschichtliche und stimmungsmäßige Eindruck der Fahrt wurde dann Prag. Unter Führung des Buchhändlers Kober wanderte Raabe kreuz und quer durch die im wahrsten Sinne wundervolle Stadt bis in die seltsamen Winkel hinein, die sich nicht jedem Fremden erschließen. Er weilte immer wieder auf dem Hradschin, der vieltürmigen Burg, in den alten Kirchen und Synagogen, lernte durch Kober, der sich als Tscheche fühlte, auch die damals noch friedlich mit den Deutschen lebenden Tschechen kennen und genoß gute Stunden in ihrem Kasino. Als er den berühmten alten Judenfriedhof besuchen wollte, führte ihn eine kleine übermütige Jüdin zum Entsetzen von zwölf alten Weiblein in das nahe Spital des Beguinenstifts. Er hat dann aber den in seiner Art einzigen, seither leider arg verkleinerten Ort des Friedens doch noch besucht und ward von der schauerhaften Stimmung des Platzes ganz hingenommen. Kober war trotz seines Tschechentums ein rühriger deutscher Verleger, er gab mit seinem Teilnehmer Markgraf eine Bibliothek Deutscher Originalromane heraus, die auch Werke von Gutzkow, Schücking, Gerstäcker enthielt, und Raabe verhandelte mit ihm erfolgreich über ein eben geplantes Buch, den Heiligen Born. Gleich in Wien, mitten in der aufgeregten Hauptstadt des kriegführenden Kaiserreichs, machte er sich an die Skizzierung des Buchs. Am 49 5. Juni hatte er sich gerade im kühlen Esterhazykeller festgekneipt und war bis zum Schreck überrascht, als er, die Treppe zum Haarhof hinaufgestiegen, Fenster bei Fenster bis zu den höchsten Stockwerken über den sommerheißen Gassen voll angstverstörter, zorniger Gesichter fand; die Schlacht von Magenta war geschlagen und verloren.
Das Burgtheater gab Raabe die ersten unvergeßlichen Bühneneindrücke und zwar vor allem in dem Mephisto des jugendlichen Joseph Lewinsky. Die Vorgänge auf dem Kriegstheater aber machten ein längeres Verweilen unerquicklich und die Weiterreise nach Süden unmöglich, und so kehrte Raabe kurz entschlossen um und pilgerte zunächst nach Hallstadt, wo es ihm, trotz andauernden Regens, in Gesellschaft eines englischen Ingenieurs gut gefiel. Wie der Vater fuhr auch er ins Bergwerk ein und versuchte an die alten Ausgrabungen des Städtchens zu gelangen. Dann ging es auf dem Dampfschiffe donauabwärts über Linz nach Bayern. Zuerst genoß er die deutsche Herrlichkeit des bamberger Doms und die verblüffende Pracht und Spannweite des würzburger Barocks. Dann setzte er den Stab nach München. Von den dort ansässigen Dichtern hat er nur Hermann Lingg aufgesucht, dessen vor fünf Jahren erschienene erste Verse ihn nachhaltig bewegt hatten. Die bayrische Hauptstadt aber, in der es ihm nicht wohl ward, hat er bald verlassen und ist über Ulm nach Stuttgart abgefahren; und dort gefiel es ihm um so besser. Der große Schriftstellerkreis, mit dem er ja schon von Wolfenbüttel her Anknüpfung gesucht hatte, kam ihm aufs freundlichste entgegen. Die unvergleichliche Lage der Stadt und ihre reizende Umgebung zogen ihn lebendig an, und er beging schöne Spätsommerstunden mit geistreich-heitern Menschen. Den Abschluß der großen Fahrt bildeten Main und Rhein. In Frankfurt lockten Goethehaus und Paulskirche ebenmäßig zu bewegter 50 Einkehr, Mainz und Wiesbaden wurden durchstreift, selbst der Eintritt in die Spielsäle nicht gescheut. Über den Niederwald stieg er nach Rüdesheim hinunter und benutzte den Dampfer rheinab bis nach Köln, von wo er im Herbst, erfrischt und innerlich bereichert, in Wolfenbüttel wieder eintraf.
Die Stadt rüstete bereits zu der großen Feier, in der das Gefühl nationaler Verbundenheit und der Drang zu staatsbürgerlicher Freiheit emporschlagend zu gemeinsamem Ausdruck kommen sollten: Schillers hundertjährigem Geburtstag. Es entsprach Raabes Stellung im wolfenbüttler Leben, daß ihm dabei eine führende Rolle zufiel. Bei der großen öffentlichen Feier erscholl seine Schillerdichtung. Wie mit großen Glocken tönte zuerst die volle Schwere der kriegerischen Zeit hinein, die Zerspaltenheit unseres Volkes und die politische Dumpfheit werden beklagt, in heißem Rufen der Retter erfleht und Gottes Geist, der auf den Wassern schwebt, als gewisse Zuversicht künftigen lichten Morgens angerufen; dann aber stellt Raabe im zweiten Teil seines Hymnus den einen Führer auf den Schild, den Sänger der Freiheit. In ihm, in Schiller, dessen Namen er nicht zu nennen braucht, sieht er die Herzen der deutschen Stämme zum Herzen des deutschen Vaterlandes zusammenwachsen, und in diesem Symbol, in diesem deutschen König preist er das unverlorene Deutsche Reich.
Die Glocken hallen und die Banner wehen
Dem großen Feste, das wir heut begehen!
Die Herzen schlagen und die Augen glänzen
Dem stolzen Bilde, das wir heut bekränzen,
Am Krönungstag des Geists in Tat, in Wort, in Liedern –
Ein einig einzig Volk, ein einzig Volk von Brüdern! –
Das Gelegenheitsgedicht war der Ausdruck der in den Lernjahren und zumal auf der Bildungsreise gewonnenen 51 und gefestigten politischen Einsicht. Sie wuchs aus geschichtlichem Grunde, aus dem leidenschaftlichen Eindringen in die Kunde von der Vergangenheit und war deutlich an Ernst Moritz Arndt genährt, sein beredter Anruf der deutschen Stämme »Nicht Preußen, nicht Sachsen, nicht Schwaben, nicht Westfälinger . . . sondern Deutsche für Deutsche«, seine Frage nach des Deutschen Vaterland klingt vernehmbar auch durch Raabes Schillergedicht. Und dessen politische Auffassung war weiter verwurzelt in den Erlebnissen der Familie, in der engeren und weiteren Heimat, in dem, was er selbst gesehen, gehört und mit Freunden und auf der Reise durchgesprochen hatte. Die Schmach des tatenlosen Bundestages brannte ihn heiß, und seine Gedanken waren mit jenen leidenschaftlichen Idealisten der Paulskirche, die das Reich wieder hatten schaffen wollen; sie waren bei jenen Kämpfern für die Freiheit, denen das Vaterland keine Statt mehr bot; sie suchten sie, wie den geliebten Dichter Freiligrath, jenseits des Kanals, oder sie schweiften zu den vielen Namenlosen, die sich jenseits des Meeres eine neue Heimat schaffen mußten, vertrieben wie der Lehrer Roder aus der Welt der Sperlingsgasse.
Unter derartigen Eindrücken die politische Stellung an der Seite des preußischen Königtums zu wählen war für Wilhelm Raabe keineswegs selbstverständlich. Alexis, Fontane, Heyse hatten es leicht, sie waren, wie schon ihre Väter und Mütter, unter dem schwarzen Adler aufgewachsen; die großen und glänzenden Seiten in der preußischen und hohenzollernschen Geschichte gehörten auch ihnen. Für die Schleswig-Holsteiner Hebbel und Jensen, für den Bremer Gildemeister, den Lübecker Geibel, die Mecklenburger Reuter und Wilbrandt, den Sachsen Treitschke, den Braunschweiger Raabe lagen die Dinge ganz anders. Sie hatten es viel schwerer. Sie waren 52 allesamt »aus dem Hause des deutschen Michels«, Söhne deutscher Kleinstaaten. Die Geschichte Preußens war nicht die Geschichte ihrer Länder, und diese hatten von dem großen Nachbarn nicht nur Gutes, von dem österreichischen Erz- und letzten deutschen Kaiserhause nicht nur Böses zu befahren gehabt. Vor genau hundert Jahren war man in Goethes Elternhause mehr fritzisch als preußisch gesinnt gewesen, aber das Preußen von Raabes Jünglings- und frühen Mannesjahren besaß keinen Fritz mehr, sondern unter einem geistreichen, schwankenden Könige ohne staatsmännische Kraft das Walten einer geistlosen, harten, ja brutalen Reaktion und nach außen eine Politik der Schwäche. Nun aber war ein neuer Regent in Berlin ans Ruder gekommen, und der einst verschriene Kartätschen-Prinz nahm seinem Volke das Joch ungerechten Druckes vom Nacken. Sofort richtete sich das Auge aller, die sich der Gesinnung nach zur Erbkaiser-Partei von 1849 zählten, wieder hoffnungsvoll nach Preußen. Im Österreichisch-Italienischen Kriege ersehnten sie einen Eingriff Preußens, seiner Macht gemäß, wenn nicht, wie einige meinten, zum Beistande der Habsburger, so doch nach dem Wunsche der meisten norddeutschen Liberalen zu neuem Anstoß in der Reichsfrage.
Aus solchen Strömungen froher Erwartung erwuchs der Nationalverein, eine Verbindung dieser deutschen Liberalen über alle Grenzen der buntscheckigen Einzelstaaten hinweg mit dem Ziele der Stärkung deutscher Macht, der Lösung der schleswig-holsteinischen Frage, der Bekämpfung der häßlichsten deutschen Reaktion, der hessischen, und endlich vor allem der Schaffung einer wirklichen Zentralgewalt, kraftvoll nach innen, eins nach außen, und eines deutschen Parlaments. Einheit und Freiheit – das waren die Ziele, zu denen sich auch Raabe von ganzem Herzen bekannte. Schon aber tauchte die eine Frage, die 53 auch die Deutsche Nationalversammlung in der Paulskirche so lebhaft bewegt hatte, wieder auf, die Stellung Österreichs in dem künftigen Reiche; gerade in diesem Sommer hatte Raabe über dieses Problem nachdrücklichen Anschauungsunterricht empfangen. Nun verlangte der Nationalverein zwar von Preußen, wenn es im Reiche aufgehen sollte, Opfer und stellte in Aussicht, daß das deutsche Volk alsdann gewiß vertrauensvoll dem Oberhaupte des größten rein deutschen Staates die Reichsleitung übertragen werde. Diese letzten Worte aber richteten sich gleichzeitig gegen Österreich. Seine deutschen Provinzen wurden als künftige natürliche Bestandteile des Vaterlandes begrüßt; äußerstenfalls aber wollten die Führer der Bewegung die Einung des deutschen Bundesstaats auch ohne die deutschen Teile Österreichs anstreben, wenn diese durch die Macht der Verhältnisse (das sollte doch heißen: durch die habsburgische Verflechtung mit den subgermanischen Donauvölkern) vom Anschluß abgehalten würden.
Ohne Wanken bekannte sich Wilhelm Raabe auch zu diesem Programm, und als der Nationalverein auf den 3. September 1860 zur ersten vorbereitenden Generalversammlung in das von Herzog Ernst hergegebene Reithaus zu Koburg lud, fuhr er an einem herbstnebligen, aber nicht unfreundlichen 2. September mit dem Prokurator Köpp und dem Färbermeister Tielecke aus Wolfenbüttel über Kassel und Eisenach nach Koburg. Der Präsident, der die Versammlung mit weithin hallenden Worten voll echter Vaterlandsliebe und ernsten Willens zur Überwindung der Parteikämpfe eröffnete, hieß Rudolf von Bennigsen, und seine reine Erscheinung in ihrem stolzen Idealismus gewann Raabes Herz ebenso wie in Hannover das seiner Altersgenossen Spielhagen und Rodenberg; auch ihm ward er, wie für Theodor Fontane, 54 ein Exzelsior-Mann. Im weiteren Verlauf der Verhandlung festigte Raabe sich mehr und mehr, zumal auch unter dem Eindruck der Reden Johannes Miquels und Hermann Schulzes aus Delitzsch in dem festen Glauben an Preußens Führerberuf. Pickford von Heidelberg sprach ihm aus der Seele, wenn er daran erinnerte, daß diese Zuversicht keine Huldigung für das Manteuffelsche Regiment, nicht einmal für den gegenwärtigen Preußenkönig war; sie galt, auch nach Raabes innerstem Gefühl, einzig »dem Staate, den Friedrich der Große geschaffen und unser Landsmann, der Freiherr vom Stein, regeneriert hat«, dieser Freiherr vom Stein, der ja auch aus dem Hause des deutschen Michels war und dessen stolzes Wort vom einzigen Vaterlande, Deutschland, Raabe noch als Motto auf sein letztes Buch gesetzt hat.
Die koburger Tage boten Gelegenheit zu frohem Verkehr mit allerlei deutschem Volk. Dann frischte Raabe den Eindruck von Bamberg wieder auf, stand in Nürnberg mitten in unvergänglicher deutscher Bürgerherrlichkeit, weilte nochmals an Main und Rhein. Erst am 16. September, nach einem Besuch bei Elise Polko in Minden, kehrte er zur Mutter zurück.
Kein Wunder, daß ihm unter dem Gefühl, geschichtliches Werden mitzuerleben, nun geschichtliche Darstellung in die Feder floß. Gleich nach der Rückkehr von der großen Reise des Vorjahrs hatte er die wiener Umrisse für die Blätter aus dem Bilderbuche des sechzehnten Jahrhunderts Der heilige Born untermalt und das Buch im Lenz von 1860 beendet; vor der Fahrt nach Koburg beschäftigten ihn schon die zwölf Briefe, die, zu der Geschichte Nach dem großen Kriege zusammengefaßt, gerade zur Weihnacht 1860 fertig wurden. Dazwischen faßte er zum erstenmal ein Bild von fremder Erde, die Geschichte Ein Geheimnis, aus dem Frankreich Ludwigs XIV., in knappster Fügung 55 zusammen. Das Jahr 1861 sah ihn alsbald, in magdeburger Erinnerungen versenkt, über dem weitgespannten Roman von Unseres Herrgotts Kanzlei. Inzwischen aber ging das gesellige Leben in Wolfenbüttel den gewohnten Gang, im Goldenen Löwen vereinigten sich die Honoratioren mit Söhnen und Töchtern. Der so große Gelegenheiten wie das Schillerfest zu verherrlichen hatte, pries nun auch einmal die aus den Sommerfrischen des Regenjahres 1860 vom Rigi bis Helgoland enttäuscht Zurückgekehrten und lud sie zu erfreulichen Winterabenden.
Der Winter werd' ein einz'ger Kontretanz,
Wo Witz und Schönheit werben um den Kranz,
Wo Anmut – Scherz sich finden spät und früh,
Nie dos à dos und immer vis à vis.
Der Dichter mußte sogar den Prolog an Stelle der Dame, die ihn erbeten hatte, selbst sprechen, die Handschrift aber schenkte er einer anderen, deren Initialen schon vorher in die Blätter des Tagebuchs eingegangen waren. In dem Hause Am neuen Kirchhof Nr. 390 wohnte der Ober-Appellationsgerichtsadvokat und Prokurator Christian Ludwig Leiste und seit dessen 1858 erfolgtem Tode seine Witwe Caroline geborene Heyden mit ihren Töchtern. Oft ist Raabe den Weg von der Okerstraße bis hier hinübergegangen, war ihm doch die Familie Leiste durch seine Patin und jetzige Tante Minna Jeep von Kindesbeinen an vertraut. Unter den fünf Kindern fesselte ihn die jüngste Tochter, die am 12. Juli 1835 geborene Bertha. Das Leistische Haus war altangesehen, Berthas Großvater war Direktor der Großen Schule zu Wolfenbüttel und Lessings Freund gewesen. Sie war vortrefflich erzogen, von reicher Bildung, sie hatte in der Französischen Schweiz lange Zeit die Landessprache weitergeübt und setzte diese Bemühungen bis in späte Jahre fort. Sie war auch musikalisch, vor allem 56 aber voller Verständnis für geistige, besonders auch künstlerische Werte und hieß nicht umsonst die klügste unter den vier Schwestern Leiste. Bei häuslicher Veranlagung war sie voll lebhaften Anteils für Welt und Menschen, stets zu praktischem Rate bereit und immer bestrebt, sich, sei es musikalisch, sei es wissenschaftlich, zu fördern. Am 14. März 1861 erhielt Wilhelm ihr Jawort. Der Klang der Feiertagsglocken schien in sein junges Glück hineinzurufen.
In all der Glocken
Rufen und Locken;
In all dem Schwingen,
Summen und Klingen;
Dem Leiseverhallen,
Dem Wiedereinfallen,
Dem Sinken und Steigen,
Dem Schweben und Neigen
Faßt meine Seele, trägt sie empor
Einzelste Stimme im vollesten Chor.
Sankta Felicitas nennt er die Glocke der Liebe vom Turm Sankt Marien, sie klingt ihm durch Wachen und Träumen,
Tönt über die Welt und das Leben,
Hallt über den Tod hinaus.
Unter dieser Glocke, in der Hauptkirche Beatae Mariae Virginis wurden am 24. Juli 1862 Wilhelm und Bertha Raabe ein Paar; im Goldenen Löwen, der sie so oft zu vorausdeutender Zwiesprache unter den Klängen des Kotillons zusammengeführt hatte, fand das Festmahl statt, und gleich danach reisten sie in die neue Heimat ab, das fast beendete Manuskript eines großen Romans, Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale, im Koffer. Stuttgart war ihr Ziel. 57