Heinrich Spiero
Raabe
Heinrich Spiero

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7. Kapitel

Der erste große Roman

Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale hat Raabe an der Wende von den zwanzigern zu den dreißigern empfangen und in seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr vollendet. Die Helden seines Werks stammen aus derselben Gegend, wie die der Chronik und die Kinder von Finkenrode, aus dem deutschen Nordwesten, aus dem Winzelwalde, und sie müssen »durch den großen wilden Wald, den gnadenlosen Wald« des Lebens hindurch. Wieder werden zwei Geschlechterfolgen gegeneinander abgesetzt, aber auf einer höheren künstlerischen Stufe. In der Chronik atmet von den Alten allein noch Wachholder, die andern zwei sind tot und leben nur in seiner Erinnerung. Er selbst, der doch nach der Erzählung der Vater der jungen Marie Ralff sein könnte, wirkt durchaus wie ein Großvater und ist keine aktive Natur. Der entwicklungsgeschichtliche Parallelismus, die Grundform Raabischen Schaffens hat immer zwei Wagebalken, aber das Gewicht war in der Chronik noch nicht gleichmäßig verteilt; im Frühling vollends verschob sich der Schwerpunkt ganz in die Gegenwart, und in Nach dem großen Kriege trat das Motiv der die Vergangenheit erlösenden Jetztzeit neben dem Hauptgehalt zurück. Hier aber, in den Leuten aus dem Walde, wird zum erstenmal die Last ausbalanciert. Die drei Alten und die drei Jungen stehn in der künstlerischen Ökonomie des Werks ebenbürtig 94 nebeneinander, und das ergreifende Geschlecht handelt nicht minder entscheidend als das reifende. Da leben in der großen Stadt, die uns absichtlich undeutlich gelassen wird, die drei Alten: Das Freifräulein Juliane von Poppen, die Tochter des Schloßherrn, der Polizeischreiber Fritz Fiebiger, der Sohn der Gastwirtswitwe, und der Sternforscher Heinrich Ulex, der Sprößling der Forstwartswitwe, alle vom Winzelwalde. Heinrich und Fritz haben, was wesentlich ist, als Freiwillige am Freiheitskriege teilgenommen. Die Freundschaft der drei gleich Wachholder Unvermählten, nun in der Großstadt nahe beieinander lebenden, schreibt sich von dem Augenblick her, da im Angesicht des Sohnes die alte Ulex unter dem Schimpf des alten Poppen im Halseisen auf dem Gutshof stand. Die drei Lebensfreunde sind sehr verschieden: Heinrich Ulex, der Weise, hält hoch über dem Menschengewimmel Zwiesprache mit der Harmonie der Sphären; Fritz Fiebiger muß über die Unglücklichsten, die Gestrandeten des Lebens, tränenvolle Akten führen und bleibt dabei mit ererbter Bauernschlauheit aus grundgütigem Herzen heraus ein hilfreicher und praktisch hilfreicher Mensch; Juliane von Poppen, das freigesinnte, stolze Adelsfräulein, den Gestalten der Louise von François verwandt, ist der ergreifendste Mensch des Buchs, sie hat nie ein häusliches Glück, nie ein Kind ihr eigen genannt und nimmt die ihr wie vom Himmel in die Arme gelegte Tochter des plötzlich Witwer gewordenen Bankiers Wienand mit echtester Mütterlichkeit an ihr Herz. Sie klagt über das Schicksal des Adels, der seinen Namen, sein Geschlecht, seinen Wirkungskreis im Hohn des Volkes untergehn sieht, und ihre Klage ist um so schmerzlicher, weil sie sich vor Gott und ihrem Gewissen auf die Seite der Spötter und Lacher stellen muß.

Diesen dreien treten die drei Jungen des Winzelwaldes 95 gegenüber, die beiden Wolfs und die schöne Kantorstochter Eva Dornblut. In ihr vollendet Raabe fürs erste den Mädchentypus, der ihm schon in der Sängerin des Frühlings und sonst so viel zu schaffen machte. Sie hat immer an der Grenze gestanden, an der unbehütete Schönheit ins Verderben gleitet, aber trotz ihrer, wie als Waffe absichtlich übertriebenen Gefallsucht hat sie sich gehalten und ist im Kampfe, in Schmerz und in Sehnsucht gereift, weil sie das Vertrauen einer unverbrüchlichen Liebe im Herzen trug. Sie bewährt die gewonnenen Kräfte, als sie mit dem Jugendgenossen Friedrich Wolf in die neue Heimat Amerika geht, dort seine Gefährtin bis zum Tode. Die drei Alten aber wachen über dem jungen Robert Wolf aus Poppenhagen, den Fiebiger, wie das Leben treibt, vor den Schranken des Polizeigerichts gefunden und von dort mitgenommen hat. Die drei Alten lehren ihn das Leben; aber nicht sie allein. Nicht auf Schulen und Universitäten vornehmlich, sondern im Kampfe draußen, jenseits des Meeres, erwirbt Robert Wolf die Festigkeit, ein Glück ohne Hochmut zu tragen, ein Leben ohne Übermut zu leben und, wie es immer wieder heißt, zwar auf die Gassen achtzugeben, aber über sie hinaus nach den Sternen zu sehn.

Mit Bewußtsein schafft Raabe hier Originale und spricht ausdrücklich davon, daß er das Mobiliar Fiebigers genau aufzeichne, »weil wir die Originalität des Bewohners nicht dadurch hervorheben wollen, daß wir ihn in eine originelle Umgebung versetzen«. Und er erreicht sein Ziel durchaus, obwohl hier stärker als in irgendeinem seiner Werke jungdeutsche Anklänge mitsprechen, Erinnerungen an Heinrich Heines Harzreise nicht abzuweisen sind. Da heißt es: »Wir studierten die Rechte und die Unrechte«, oder jemand wird »der Mann der Gastfreundschaft gegen bar« genannt; eine Gesellschaft beim Bankier Wienand 96 wird noch in sonst überwundener Art geschildert, absichtlich in die Börsensprache übertragen – nur fehlt die eigentliche Beize. Und Raabe kehrt rasch wieder zu sich selbst zurück, wenn er etwa eben gesagt hat: »Obgleich sie eine sehr gute Partie war und manch ein Elternpaar, manch ein liebevoller Papa, manch eine zärtliche Mama sie gern als Schwiegertochter an das Herz geschlossen hätten, so hatte doch keiner der Herren Söhne genug Geschmack für die medizinischen Wissenschaften, um Osteologie an dem armen, magern Kind zu studieren.«

Einige Nebengestalten, wie der Schauspieler Julius Schminkert, sind absichtlich karikiert und fügen sich infolgedessen nicht immer ganz in den Rahmen; an einigen Stellen aber dient gerade der grelle Farbenauftrag bei Schminkert und seiner Umgebung dazu, eine gut getönte Folie zu den Hauptvorgängen zu geben. Unser menschlicher Anteil wird auch hier verlangt und gewährt, aber er steigt und soll steigen mit dem stufenweisen Aufbau bis in die Welt der drei Alten und ihres Zöglings. Dieser Aufbau ist nicht nach gesellschaftlichen Abtreppungen, sondern nach dem Gesetz des inneren Lebens geschaffen.

Das Werk gipfelt in ein paar unvergeßlichen Vorgängen: da ist gleich am Anfang Robert Wolfs Vernehmung vor der Polizei mit ihren jähen Überraschungen, das Wiederfinden zwischen Eva Dornblut und dem aus Amerika zurückgekehrten Geliebten und spät das noch tiefer ergreifende Gegenbild, das Wiedersehen zwischen Robert Wolf nach seiner Rückkehr aus Amerika mit Helene Wienand auf der Sternwarte des greisen Freundes, zu dem sich der im Mammonsdienst um den Verstand gekommene Bankier wie in den letzten Hafen geflüchtet hat. In den Leuten vom Walde stecken im Grunde alle Züge des Sensationsromans. Man fühlt den Zeitgenossen Victor Hugos mit seiner Notre-Dame de Paris und auch 97 Gerstäckers, man muß auch, wie bei Raabes Lyrik, an den Phantastiker Solitaire denken, dessen Erzählungen in den fünfziger Jahren erschienen – schließlich ist doch alles deutlich eignes Werk geworden, und selten sehen wir so klar, wie in den Leuten aus dem Walde, daß ein Dichter sich an sich selbst erzieht, mit seinem eignen Buch reift und wächst. Die Komposition ist ungemein klar. Von den sechsunddreißig Kapiteln zeigen die ersten zwölf die Gestalt des jungen Wolf auf ratlosen Wegen in der Großstadt; die mittleren führen ihn bis zum Abschluß seiner Jugendbildung; in den letzten zwölf muß er sich daheim und draußen, nun auf eignen Füßen, sein Lebensglück erkämpfen.

Karl Rosenkranz hat geistvoll gemeint und erwiesen, daß Goethes Perspektive im Grunde Amerika gewesen sei. Auch Raabe hat von früh an über den Ozean geblickt. Wir sahen, daß er an mehr als einer Stelle der Chronik Geschicke gedrückter, bedrückter bester Deutscher drüben weitergehn ließ. Von den Leuten aus dem Walde finden zwei drüben ihr letztes Bett, andere aber ziehn der Liebe nach über den Ozean und arbeiten sich als freie Bürger zu Ansehn, Wohlstand und innerer Tüchtigkeit durch. Und mitten unter ihnen steht der Hauptmann Konrad von Faber, der deutsche Weltreisende, die erste Raabische Gestalt von wirklich großer »Welt«. Was ihm in dem Doktor Hagen des Frühlings noch nicht gelang, weil dieser noch zu sehr nur in dem eignen Geschick lebte und leben sollte, hat Raabe hier fertiggebracht: er hat einen Deutschen gezeichnet, der sich drüben viel von den Schuhen abgelaufen, dabei den Kern des Deutschtums behalten und seinen Blick für große politische Zusammenhänge geschärft hat. Man mag sich bei ihm etwas an Freytags Herrn von Fink aus Soll und Haben erinnert fühlen, aber man hüte sich Abhängigkeiten festzustellen, wo auf verwandten Wegen 98 Ähnliches Gestalt werden mußte. Faber spricht von der Zeit, da am Stillen Ozean die Flagge der Zukunft entfaltet und Japan, das dunkle, stumme Rätsel, ein England des Stillen Ozeans und sehr lebendig sein werde. Das schrieb der noch ganz in Sorge um die deutsche Einheit steckende Herzoglich Braunschweigische Staatsangehörige Wilhelm Raabe im Jahre 1862! Der tiefste Sinn des Werkes aber liegt in dem Schlußvorgang. Da schlägt die Jugend den Pranger um, an dem die Alten aus dem Winzelwalde sich kennenlernten. Darin liegt das Bekenntnis seines Buches, Raabes Bekenntnis zur politischen und darüber hinaus zur menschlichen Freiheit, die alle Mächte sozialen Drucks und der rohen Gewalt überwindet, die zwischen Gemeinheit und der Macht des Bösen frei durchgeht. Den Lebenden wird zugerufen, daß sie sich rühren müssen, denn auch ihre Stunde komme, und es wird gezeigt, wie die Sterne zur rechten Zeit für den eintreten, der nicht verlernt, nach ihnen zu sehn.

Raabe hatte mit dem Nächsten um sich her, mit dem Leben der Gasse begonnen, er hatte sich, geleitet von einem untrüglichen vaterländischen Antriebe, in die Vergangenheit mehrerer Zeitalter vertieft und nun durch ein oft wunderlich romanhaft scheinendes Werk die Straße zur ahnungsvollen Gestaltung jener höheren Mächte gefunden, deren Sieg Heinrich Ulex meint, wenn er die Augen seines jungen Schützlings immer wieder nach oben richtet. 99

 


 


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