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Bewußt hatte sich der junge, aus dem Buchhandel geflüchtete Raabe in Wolfenbüttel und Berlin zum Schriftsteller erzogen. Im inneren Vollbesitz des Erreichten sah er sich seit Abu Telfan und dem Schüdderump auf der Höhe der Meisterschaft und blickte von dort her mit einer uns unerhört dünkenden Nichtachtung auf die Schöpfungen seiner Anfangszeit, von der Chronik bis zum Hungerpastor, diesen eingeschlossen, zurück. Er nannte sie gern seine Kinderbücher, oder gar die Werke vor seiner Geburt. Jene eigentümliche Vorliebe vieler Künstler für ihre, ob auch unvollkommenen Erstlinge war ihm nicht eigen. Gern hieß er die Drei Federn seine erste wirkliche Dichtung.
Wir haben das Recht, gerechter zu sein als der Meister. Stellen wir uns vor, er wäre nach dem Hungerpastor gestorben oder hätte nichts weiter geschrieben, so wäre immer noch eine auf lange lebendige kleine Reihe von Büchern übriggeblieben, die seinen Namen und einen Teil seines Wesens weitergetragen hätten. Insbesondere ist eine Zeit schwer zu denken, da nicht neben Freytags Soll und Haben, Alexis' Hosen des Herrn von Bredow und Reuters Stromtid der Hungerpastor als ein deutsches Hausbuch im eigentlichen Sinne lebendig sein sollte. Aber freilich mochte es den Schöpfer des Schüdderumps und der Unruhigen Gäste mit Recht ungeduldig machen, daß er vielen noch immer ausschließlich als der Dichter der Chronik und des Hungerpastors galt und so zum Schaden seiner inneren Wirkung 228 der so beliebten und so verhängnisvollen literarischen Abstempelung verfiel, unter der auch andere tief gelitten haben.
Das Schicksal hatte ihm gewährt, ohne Pausen und Hemmungen schaffen zu dürfen. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung hatten ihn vom Anbeginn seiner Laufbahn bis zum sechzigsten Lebensjahre aufwärts und immer aufwärts geführt.
Immer höher muß ich steigen,
Immer weiter muß ich schaun.
Mit der gleichen künstlerischen Bewußtheit, mit der er sich seit dem Jahre 1875 von der Novelle abgewandt hatte, schuf er im letzten Jahrzehnt seiner Dichterzeit fünf Abschiedswerke, fünf Romane, in denen alte Motive in der Abwandlung höchster Weisheit und tiefsten Kunstverstandes zu neuer Form geschlossen wurden.
Wir lernten seine Art des Durchschreitens einmal geschauter Zusammenhänge auf neuer Ebene kennen, wir sahen ihn mit verwandten Themen und Zielsetzungen auf immer höherer Stufe ringen. Es gehört zu seiner Eigenart, daß er mit seinen Gestalten wie mit lebendigen Wesen weiterlebte. Er ging mit ihnen um und mochte sie wie leibliche Kinder empfinden, die, obwohl von des Vaters Fleisch und Blut, doch ein eigenes und selbständiges Dasein führen müssen. Ein solcher innerer Vorgang hatte ihn genötigt, das Schicksal der Leute aus der Apotheke zum wilden Mann in den Unruhigen Gästen innerlich zu vollenden. Im Meister Autor und im Deutschen Adel hatte er auf Abu Telfan zurückverwiesen, in Villa Schönow lebte die Welt des Deutschen Adels zum Teil wieder auf; und mitten in die große Lebensdarstellung der Alten Nester war leibhaftig der zum Stadtrat in Finkenrode gewordene Bösenberg, nun in behaglicher Philisterei, hineingetreten. 229
Diese Menschen und Dinge waren ihm nicht abgetan und fremd. Wenn er einmal an den Rand eines Manuskriptes schrieb: »Hat es jemals einen Menschen gegeben, der berechtigt gewesen wäre, über das Leben eines andern abzuurteilen?«, so galt dies, in seiner Tiefe verstanden, auch ihm selbst gegenüber seinen Gestalten. »Was ist unsereins,« fragt er ein andermal, »wenn er nicht wie Gott ist, wenn er nicht alle gelten läßt?« Gestalten, so schwarz in schwarz wie den Moses Freudenstein oder noch später den Friedrich von Glimmern (in Abu Telfan) hat er seither nicht mehr geschaffen. »Ein echter Dichter sagt Ich! Dieses heißt: Die Gebilde seiner Phantasie haben eine solche Wirklichkeit, daß sie die Gebilde des Tages ihm vollständig zurückdrängen oder sich subsumieren. – Nachher spricht die Nation von Vaterlandslosigkeit und dergleichen.« Das ging fühlbar auf Goethe, aber ebenso fühlbar sprach er damit für sich selbst. So sah er sich in einem, um keinen Preis zu verlassenden Kreise eigner Geschöpfe und lebte mit ihnen weiter, indem sich schon neue herzudrängten. Auch ein anderes, ausdrücklich auf Goethe gemünztes Wort gilt trotz jener oft bezeugten Verachtung für die »Kinderbücher« für Raabe selbst: »Man wird wohl nicht den Faust und den Großkophta auf eine Stufe stellen; aber sie waren beide in demselben Geist da, und ohne den letzteren wäre der erstere auch nicht auf dem Papiere vorhanden.« Indem Raabe in den fünf vollendeten Spätwerken bewußt die Schlußsteine einfügte, baute er ein Gesamtwerk fertig, aus dem die Grundblöcke nicht gelöst werden durften.
All diese Altersbücher haben eine außerordentliche Einfachheit miteinander gemein, alles ist auf die letzten Formen gebracht, kristallklar treten die Gestalten nebeneinander, mit höchster künstlerischer Reife wird der Faden festgehalten, an den der Dichter die Begebenheiten knüpft, immer 230 wieder sind es wenige, voll heraustretende, uns rasch ganz vertraut werdende Menschen, deren Schicksal sich erfüllt.
Am Anfang und am Ende stehen Erzählungen von starkem Einschlag aus eigener Lebensgeschichte, der Ende 1888 begonnene, im Mai 1890 beendete Stopfkuchen, Gutmanns Reisen, vom Frühling 1890 bis zum Herbst 1891 verfaßt, und die 1895 angefangene und erst drei Jahre nach dem Beginn zu Ende geschriebene Erzählung Hastenbeck.
Die See- und Mordgeschichte Stopfkuchen hat Raabe selbst immer unter seinen Werken besonders hoch gestellt. Wie in Abu Telfan wird ein begangenes Verbrechen endlich aufgeklärt – aber es wird nicht mehr gerächt; der Täter ist tot, und nur um alten gespenstischen Bann vollends von der schon erlösten Stätte zu verscheuchen, wird die Wahrheit von einem längst Eingeweihten ans Licht gebracht. Heinrich Schaumann, genannt Stopfkuchen, hat den Hof auf der Roten Schanze erobert, hat den verbitterten Bauern, den man für einen Mörder hielt, wieder zu einem menschlich empfindenden Menschen, die verwilderte Tochter zu einer behaglichen und ruhigen Frau, zu seiner Frau, gemacht und das ihm gemäße Lebensideal gefunden. Er hat, ein der Universität entlaufener Student, vor der Roten Schanze und auf der Roten Schanze mehr gelernt, erlebt, gelehrt und geleistet als der Jugendfreund, der sich im Burenlande ein »Rittergut« gewonnen und ein neues deutsch-holländisches Geschlecht von Afrikandern gegründet hat. Und darin liegt, hinter leichtem Schleier, ein Stück Bekenntnis vom eignen Leben: während die Jugendfreunde im Lande und draußen zu sichtbaren Erfolgen aufstiegen, schwankte der Dichter von Beruf zu Beruf, oft wohl bespöttelt, über die Achsel angesehn, daß er nicht in Reih und Glied mitmarschierte, daß er den vielen 231 Prüfungen akademischer Laufbahnen auswich. Nun aber hat er seine Schanze, den Ort, um den er warb, erobert. »Wenn man bedenkt, was für wunderliche Geschichten in dieser Welt tagtäglich geschehen, so muß man sich sehr wundern, daß es immerfort Leute gegeben hat und noch gibt, welche sich abmühten und abmühen, selbst seltsame Abenteuer zu erfinden und sie ihren leichtgläubigen Nebenmenschen durch Schrift und Wort für Wahrheit aufzubinden. Die Leute, die solches tun, verfallen denn auch meistens – wenn sie ihr leichtfertig Handwerk nicht ins Große treiben und was man nennt große Dichter werden – der Mißachtung als Flausenmacher und Windbeutel, und alle Vernünftigen und Verständigen, die sich durch ein ehrlich Handwerk ernähren, als wie Prediger, Leinweber und Juristen, Bürstenbinder, Ärzte, Schneider, Schuster und dergleichen, blicken mit mitleidiger Geringschätzung auf sie herab, und das mit Recht!« Dieser Ausspruch aus dem Geheimnis, also aus dem Jahre 1860, entbehrt, im Lichte des Stopfkuchens gesehen, jeder Bitterkeit – jetzt durfte sich Raabe ruhig gestehn, daß er sein Handwerk ins Große getrieben hatte, und konnte auf seiner Schanze den Besuch all der andern abwarten, die schließlich zu ihm kommen mußten, zu ihm, der des Zieles gewiß durch alle die Jahre gegangen war.
Wieder steht im Stopfkuchen eine humoristische Gestalt von höchstem Rang im Mittelpunkt: Heinrich Schaumann, der gefräßige Junge, den seine weichen Füße nie weit getragen haben und der sich mit zäher Tatkraft an die eine Sehnsucht: die Rote Schanze geklammert hat. Er nimmt die Gelegenheit des Besuchs aus dem fernen Afrika und des Todes jenes lange gesuchten Mörders beim Schopfe und erzählt nun endlich, was er weiß; aber wie erzählt er es! Nicht in drei Worten, ganz knapp, sondern auf dem ihm allein eigentümlichen Wege, so 232 langsam, wie sein Gang zwischen den Hecken der Schanze ist, so ruhig, wie er seine vorgeschichtlichen Tiere (darunter das Faultier) im Umkreis des Gehöftes ausgräbt, betrachtet und erläutert. Er muß so genommen werden, wie er ist, und trotz ihrer atemlosen Erregung fügen die Frau und der Freund sich in seine Art, die auch das Schrecklichste als ein Menschliches darzustellen weiß. Das heißt: es wird nichts verzerrt, nichts verkleinert, nichts verniedlicht – das kann der reife Raabe überhaupt nicht; aber es wird alles mit Menschenliebe angefaßt und zu allem jener Abstand gewonnen, der den bloßen Haß und den unbedachten Zorn ausschließt. Diese Humoristen alle verstehn das Leben, weil sie es in bittern Erfahrungen erlernt haben; sie wissen um seine Schwere, aber sie wissen, daß ein rechtes Herz nicht umzubringen ist; und so darf ein gehöriges Stück goldener Schöpferlaune auch noch um die Geschichte von Kienbaums Mord spielen, wie sie denn endlich und, sehr bezeichnenderweise, am Stammtisch, zu Ende gesprochen wird, damit ohne weiteres Zutun Schaumanns nun die ganze Stadt Bescheid wisse und das Andenken des einst verleumdeten Unschuldigen völlig gereinigt sei.
In einem von Moritz Lazarus in seinen Lebenserinnerungen aufgezeichneten Gespräch hat Raabe gegenüber der von dem Philosophen unter des Dichters Zustimmung betonten loseren Komposition des Hungerpastors mit Nachdruck auf Stopfkuchen verwiesen, und in der Tat ist der Aufbau dieser Erzählung von bewundernswerter Einheitlichkeit und Straffheit. Der Bericht über Stopfkuchen und die Aufdeckung der Mordtat wird dem Freunde aus dem Burenlande in die Feder gelegt; er schreibt ihn an Bord des nach Afrika zurückkehrenden Dampfers, der, wohlgemerkt, mit jenem unablässigen Verbindungsgefühl zum eignen Werk, Leonhard Hagebucher heißt. Man glaubt 233 das Rollen der langen Wogen mitzufühlen, während der Schreiber die Sätze formt, und Raabe gibt ihm durch die Muße auf der durch Wochen gedehnten Fahrt Zeit, so zu erzählen, wie es der Erinnerung an Heinrich Schaumann gemäß ist. Der Schreiber hat dieses ungesuchte und unerwartete Erlebnis, mit dem seine ganze Jugend selbst noch einmal emporstieg, am Schluß des Heimataufenthalts gehabt; alles steht ganz frisch vor seinen Augen, er hat den Klang von Stopfkuchens Stimme noch voll im Ohr, und darum kann er mit solcher Treue nachzeichnen. Und er berichtet nun mit wunderbarer Schlüssigkeit und dabei mit der Einfachheit und dem klaren Blick eines Mannes, der sich zu See und Land viel umhergetrieben hat und dem von all den bunten Bildern am Tafelberge und am Oranjefluß nichts solch lebenswierigen Eindruck gemacht hat wie diese Geschichte von Kienbaums Mörder und der Roten Schanze. Auch noch im Nachgenuß vermag er nichts zu übereilen, aber auch nicht ins Unzugehörige abzuspringen. Die neugierige Teilnahme der andern Fahrgäste an der unverständlichen Schreiberei und die Wind- und Wetterdata der Seereise erhöhen, wohl abgemessen, nur die volle künstlerische Sachlichkeit und Zielsicherheit.
Gutmanns Reisen sind fast unmittelbar nach Bismarcks Abgang begonnen worden. Im Vorgefühl eines neu heraufkommenden Zeitalters empfand sich der Dichter noch einmal in die Zeit der nationalen Kämpfe zurückversetzt, an denen er selber als Mitglied des Nationalvereins teilgenommen hatte. Er führt Vater und Sohn Gutmann in dieselbe Reithalle zu Koburg, darin er einst lauschend gesessen, und schuf einen Zeitroman ohnegleichen in seinem Werk und ohne Seitenstück in der deutschen Literatur. Allen Schöpfern des deutschen Zeitromans, und zumal seinen bedeutendsten Trägern, Gutzkow, Spielhagen, Wilbrandt, mochten sie an Temperament 234 und Zielsetzung noch so verschieden sein, war eins gemeinsam: sie stellten immer wieder Gestalten der Zeitgeschichte in den Mittelpunkt ihrer Bücher. Deutlich blicken Radowitz und Prokesch-Osten, Lassalle und Friedrich Wilhelm IV., Makart und Nietzsche durch die Verkleidung, und ihre Verschmelzung mit erfundenen Figuren machte die Dichter unfrei. Zur historischen Romandarstellung im wirklichen Sinne waren die geschilderten Begebenheiten ja noch nicht geschichtlich genug geworden, und so entstanden immer wieder fesselnde Schöpfungen, aber die Stilmischung versagte ihnen ein langes Leben.
Raabe ging einen ganz anderen Weg. Er nahm die geschichtlichen Gestalten seiner Zeit wie sie waren, deutelte nicht an ihnen herum, ließ dem Leser nicht das neugierige Vergnügen, hinter klug gewähltem Decknamen auf die Wirklichkeit zu raten, sondern setzte Bennigsen als Bennigsen auf den Präsidentenstuhl und ließ Miquel und Metz und Schulze-Delitzsch wirklich nach den stenographischen Niederschriften reden. Damit hätte er in gefährliche Nähe von Meding-Samarow und Gödsche-Retcliffe geraten können, der sich in seinen Klitterungen ausdrücklich auf Parlamentsakten zu berufen pflegte. Aber Raabe war auf ganz anderes aus. Er lud zu Füßen der nationalen Führer deutsches Volk aus Norden und Süden mit der schwarzrotgoldenen Schleife im Knopfloch. »Kleine Krämer, Kleinstädter, Kleinstaatler, sind wir jetzt am Werke, das neue Deutsche Reich zu gründen«, sagt da der ehemalige Reiseonkel und nunmehrige gesetzte Kaufmann Gutmann zu seinem Sohn, aber »wenn so was nicht mit Nachdruck, Heiterkeit und Jugenddummheit geschehen kann, so – hättest du mich lieber zu Hause lassen sollen!« Da fällt der Junge dem Alten auf der Zwiebelmarktgasse zu Koburg um den Hals: »Und dieses deutsche Volk glauben sie unterkriegen zu können!« 235
So sind wir gleich im Bilde und brauchen nicht erst vom Dichter selbst an den Dräumling erinnert zu werden, wo auch in aller Heiterkeit der Ernst des deutschen Lebens durchkommt, der allen diesen Menschen auf den Schultern liegt. Während die älteren Herren mit Bennigsen und Miquel über die Einigung der deutschen Stämme beraten, tun der junge Gutmann und die Tochter des Majors Blume aus Wunsiedel draußen in der grünen Pracht der Gärten das ihre, Nord und Süd zu verbinden und dem deutschen Volk auch ferner Blühen und Gedeihen zu sichern. Aber selbst in dieser erregten Werbestunde weiß es der junge Mensch, der nicht aus Preußen, sondern gleich der Braut »aus dem Hause des deutschen Michels« ist: »Und sehen Sie, deshalb sind wir jetzt nach Koburg gekommen und verplempern die älteren Herren sorgenvoll den wonnigen Morgen dort in der herzoglichen Reitbahn hinter den Bäumen und überlegen, wie sie mit gesetzlichen Mitteln aus den wehrlosen fünf Fingern auch einen derben Knaul mit eisernen Knöcheln machen können, der sich im Notfall jedem unverschämten Lümmel im Norden, Süden, Osten und Westen mit Nachdruck auf die Nase legen und Blut herausziehen kann. Ja, ja, Blut, Blut, Blut, liebes Fräulein!«
Gutmanns Reisen sind ein hohes Lied vom Philister aus dem Hause des deutschen Michels. Raabe weiß, daß sich das Volk aus unzähligen solcher Existenzen zusammensetzt, daß sein Schicksal darauf beruht, sie mit der Forderung der nationalen Stunde zu erfüllen, er weiß, wie Fontane, daß eine Regierung »nicht das Bessere, beziehungsweise das Beste zum Ausdruck zu bringen hat, sondern einzig und allein das, was die Besseren und Besten des Volkes zum Ausdruck gebracht zu sehen wünschen«. Und wenn Raabe am Schlusse des Werkes auf zwei Seiten Königgrätz und Versailles, den alten Kaiser und Bismarck mit 236 dem Nationalverein verbindet, so spricht auch daraus die Fontanische Anschauung: »Wenn später Bismarck so phänomenale Triumphe feiern konnte, so geschah es, sein Genie in Ehren, vor allem dadurch, daß er seine stupende Kraft in den Dienst der in der deutschen Volksseele lebendigen Idee stellte.«
Diese Idee, die Idee der deutschen Einheit im innerlich und äußerlich freien Vaterland, redet aus allen, die in Koburg zusammenkommen. Wir lernen die Teilnehmer verschiedenen Berufs und Alters kennen: den Kaufmann, den Offizier, den Pfarrer, den Apotheker, den jungen Staatsbeamten, und mit ihnen sind deutlich die Geister der Vorzeit erschienen. Der alte Lützower Jäger bringt das Bild Körners, der Süddeutsche aus Wunsiedel, dessen Nichte sich nach eignem Herzensdrang und doch auch als Symbol einer über die Mainlinie zueinander greifenden Neigung dem Norddeutschen anverlobt, die Welt und Gestalt Jean Pauls mit heraus. Und Friedrich Rückert segnet im Garten zu Neuseß diesen Bund. Keins dieser Spätbücher strotzt so von literarischen Anklängen, von Lesage bis zu Johann Georg Fischer und Rudolf Lindau, wie Gutmanns Reisen, aber sie gehören in den vollen Akkord, mit dem hier deutsche Geschichte, deutsche Sehnsucht, deutsche Zukunft angeschlagen werden sollen; und beherrschend tönen die Lieder des alten Burschenschafters Binzer und Hoffmanns von Fallersleben hinein, dessen mächtiger Deutschlandsang damals noch nicht Nationallied sein durfte. Nicht nur die beiden Gutmanns und die junge Braut, sondern alle handelnden Gestalten sind von äußerster Lebendigkeit, haben ihre volle Rundung. Das gilt selbst von den beiden Müttern, obschon die eine nur am Anfang und am Ende, die andere nur in Briefen und Berichten auftritt; auch sie sehen wir deutlich in dem Gegen- und Miteinander. Bei Norddeutschen, Süddeutschen und 237 Österreichern kommt ein feiner landschaftlicher Hauch, ein vernehmliches Absetzen der Stammeseigenschaften gegeneinander zur Geltung, ohne daß wir das Gefühl einer einheitlichen, sich rasch verstehenden Volksgemeinschaft verlören.
So ist ein Buch entstanden, das in der deutschen Romandichtung seinesgleichen nicht hat und bis heute ohne Nachfolger geblieben ist. Immer fühlen wir: den Männern ist es »mit ihrem Dortsein zu Rat und Tat in des Vaterlandes blutiger Not und lächerlichem Jammer, bitterer, bitterster Ernst«. Aber der mit allen Säften durchquellende Humor stimmt Handlung und Menschen so zeitlos ein, daß jede politische Tendenz aus dem Zeitlichen ins Überzeitliche gehoben wird. Aus dem Zeitroman ist ein Buch vom deutschen Menschen geworden.
Wie in Gutmanns Reisen der festgehaltenen Jugendgesinnung, so setzt Raabe in Hastenbeck seiner Jugendheimat, dem Weserlande, bewußt ein letztes Denkmal und führt zugleich weit hinter Gutmanns Reisen zurück, aus den Zeiten werdender Einheit in die Epoche zerrissener Kleinheit, da eben der große Friedrich sich aufrichtet, eine norddeutsche Großmacht zu schaffen. An Höxter und Corvey und an das Odfeld erinnert er ausdrücklich und konnte noch an ein anderes Werk aus dem Siebenjährigen Kriege, an die Innerste, mahnen. Um das friedliche Pfarrhaus von Boffzen, wo er selbst als Gast seines Schwagers Tappe viele schöne, geruhsame Ferienwochen verlebt hatte, tobt die Kriegsfuria. »Wie der Floh auf dem Bettlaken«, heißt es mit einem derben, marketendermäßigen Bilde von den armen Menschen, die, zwischen Franzosen, Hannoveranern, Braunschweigern, Preußen hin und her gejagt, nicht wissen wo sie hin sollen, die »der Welt Viehheit« durchkämpfen müssen und schließlich auch durchkommen in rechtem Vertrauen aufeinander, in jener großen 238 Herzensliebe, mit der einst Anneke Mey den Junker von Denow bis auf den Richtplatz begleitete. Auch hier ist im Grunde, verglichen mit früheren Romanen und Novellen Raabes, alles einfach. Dem Liebespaar mitten unter den Wirren einer wüsten Zeit sind wir ja oft bei ihm begegnet, im Heiligen Born wie in Unseres Herrgotts Kanzlei, in der Schwarzen Galeere, in Sankt Thomas – hier aber kommt das alles am reinsten und feinsten heraus. Hier wird unser menschlicher Anteil für die beiden am tiefsten erregt, und die Wirrnis der Zeit drängt sich am großartigsten zusammen, da die alte, blutige Förstersfrau, die Wackerhahnsche, als Brautmutter dabei steht, während der Pastor Störenfreden die gehetzten Brautleute, den Deserteur von der Konvention von Kloster Zeven und das angenommene Pfarrerskind, ohne Aufgebot und ohne konsistoriale Erlaubnis zusammengibt, während im Dorf betrunken die fahndenden Reitersknechte lauern. Wunderbar fein hat Raabe hier die Zeitstimmung gegeben, immer unter dem Anschein, einer wirklich überlieferten Erzählung möglichst genau zu folgen, in Wahrheit auf den Pfaden einer immer neu ausschreitenden Einbildungskraft. Wie vordem erspart er uns nichts vom Druck und Jammer und Schmutz der Zeit und der Umwelt, bildet gar keine Idealgestalten, erläßt keinem seine menschlichen Schwächen und gibt dem Ganzen durch die eigentliche Leiterin, eben die Wackerhahnsche, eine humoristische Gehaltenheit von manchmal dämonischer Größe; und nicht der Schüdderump, sondern Gottes Wunderwagen rollt in Hastenbeck durch die wirre Welt und rollt die auf ihm einherfahren zum Ziel.
Drei Paten hat Raabe zu seinem Werk gewählt. Der Pfarrer von Boffzen gewinnt aus dem Buch des Kabinettpredigers Gottfried Cober, darin Gottes Wunderwagen auf seiner Fahrt durch das All in hundert Predigten geschildert wird, die Dominante, den Herzton für die lastenden 239 Geschicke; der verwundete schwyzer Feldhauptmann hat Geßners eben ihren Flug in die deutsche und die Weltliteratur antretende Idyllen vom Schlachtfeld aufgehoben, und die zarte, gedämpft spielende Kunst dieser feinen kleinen Dichtungen gibt den Unterton. Groß aber, und nicht nur dieses geschichtliche Abschiedswerk Raabes ein- und ausläutend, steht auf dem Titelblatt als Leitwort der eherne Satz des Freiherrn vom und zum Stein: »Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland«. Die Wucht dieses Worts richtet sich wie bei seinem Schöpfer, so bei dem, der es weitergibt, nach außen und nach innen: nach außen gegen den Feind, der nach dem Gebot von Paris den deutschen Boden und den deutschen Menschen brandschatzt; nach innen gegen den Zwiespalt der Stämme, den Dünkel der Länder und Herrscher, gegen das verhaßte Haus Cumberland, dem der gute Herzog Karl und seine tapfern Söhne Karl Wilhelm Ferdinand und Leopold gegenübergestellt werden. Wie Gutmanns Reisen ist auch Hastenbeck eine schonungslose Absage an jeden, noch so »berechtigte« Eigentümlichkeiten vorschützenden Partikularismus. Mit dem Abt Jerusalem, dem Vater von Werthers Urbild, und dem Weimarischen Minister von Fritsch blickt auch das Deutschland Goethes schon verheißungsvoll in dieses, noch einmal den Jammer und die werdende Größe des Deutschlands von 1757 darstellende Werk.
Kloster Lugau, von 1891 bis 1893, unmittelbar nach Gutmanns Reisen geschaffen, führt ins bismärckische Deutschland, ohne jedoch in Haltung und Umwelt Selbstbiographisches durchblicken zu lassen. Das Kloster ist ein Frauenstift, dem hannöverschen Kloster Drübeck als Rahmen nachgebildet, und so ist dies Alterswerk dasjenige, in dem die Frau am stärksten den Ton angibt. Schon Frau Blandine Kleynkauer bedeutet mehr, wenn auch nicht im 240 besten Sinne, als ihr Gatte, der Professor der Gottesgelahrtheit, an dem nun Raabe zum letztenmal seine Abneigung gegen die akademische Theologie darstellt; die tapfere Gräfin Laura mehr als der geistreiche und feine »Horatio«, der Prinzenerzieher und Hofrat Herberger, und die kleine, zarte, hilflose Eva mehr als der widerwärtige Streber Egbert Skriver und doch auch mehr als der brave schwäbische Vetter Eberhard Meyer, dem sie schließlich zu eigen wird. Über sie alle aber ragt die alte Frau, die eigentliche Trägerin der Handlung, Euphrosyne Kleynkauer, die Tante Kennesiealle, eine Verwandte der Rittmeisterin Grünhage, ohne so tiefe Tragik in ihrer Vorgeschichte, aber mit der gleichen hellhörigen Menschenkenntnis und einem Menschenverstand, den man unter größeren Verhältnissen vielleicht als majestätisch bezeichnen könnte. So hat sie Herberger auf den rechten Weg gebracht, und jetzt schürzt sie nicht die Fäden des Spiels, aber sie ergreift die von unreinen, eigensüchtigen Händen geschürzten noch zur rechten Zeit, schlägt im wörtlichen Sinne das Gespinst an der rechten Stelle durch und knüpft es neu. Das kann sie, denn ihr ist aus der Einsamkeit der Hagestolze, wie bei Raabe immer wieder, nicht freudlose Resignation oder gar schielender Neid, sondern eine von der Sonne des Humors erwärmte Menschenliebe zugewachsen. Sie handelt nur, wo sie die Liebe an den Ehrgeiz und den Mammon, die Reinheit an die Berechnung verraten sieht. Sie spielt nicht Vorsehung, aber sie kennt sie alle, und darum lenkt sie schließlich mit zu dem Ziel, das nicht Kälte und Strebertum, sondern Herzenswärme und natürliche Güte als das rechte erkennen lassen.
So strahlen von ihr Festigkeit und Tapferkeit aus, und Raabes niemals verlorenes Vertrauen auf die kernhafte Tüchtigkeit des deutschen Volkes schwingt in den Schilderungen der schweren, von diesen Frauen zu bestehenden 241 Proben mit. Er hätte wohl manchmal, früher und jetzt, mit Goethe seufzen können:
Ich habe des Deutschen Juni gesungen,
Das hält nicht bis in Oktober.
Hier, in einem seiner Vermächtnisbücher, wies er auf die Juliprobe von 1870 zurück und brachte den vollen Einklang gesammelter nationaler Tatbereitschaft und Leidensfähigkeit zum Ausdruck. Laura und Eva müssen die schwer errungenen Anverlobten ins Feld ziehn lassen. Aber es wird unter all diesen Frauen nicht gejammert; und wie der Landwehrmann Schönow, der 1864 und 66 dabei war, nicht an sein »innigstes Portemonnä«, sondern »jroß« denkt, so sitzen sie am Tage der Mobilmachung in der Klosterkirche, da die Männer alle ohne Zögern und Zaudern haben fortgehn müssen, »da alle und alles schwankt auf der Woge einer ungewissen Zukunft«; und die Frau Domina läßt ihre »tapfern Seelen« den ersten Vers aus Gustav Adolfs Feldlied singen:
Verzage nicht, du Häuslein klein,
Obschon die Feinde willens sein,
Dich gänzlich zu verstören,
Und suchen deinen Untergang,
Davon dir recht wird angst und bang,
Es wird nicht lange währen.
Auf diesen Gefühlsausdruck ist die nationale Seite von Kloster Lugau abgestimmt, und es ist ein Grundirrtum, Raabes politische Stimmung gegenüber dem neuen Reich daraus abzuleiten, daß er einen widerlichen Leisetreter und Erfolgjäger, der auch bei einem Abglitt immer wie die Katze auf die Füße fällt, als einen großen, allgemein gefeierten Mann von Rede und Tat – zu Hause am sichern Ofen darstellt. So wenig wie man aus dem eingebildeten Lehrer des Horackers, der eine Sechsundsechzigias »dichtet«, auf Mißvergnügen Raabes an dieser 242 großen Entscheidung schließen darf, so wenig darf man hier die wahre Absicht der Schilderung übersehen: das Echte und Bleibende wird nicht von den Strebern, Schönrednern und Versmachern geleistet, sondern von den sicheren Pflichtmenschen, den drei ausziehenden Kriegern und den ihr Samariteramt übenden Frauen daheim. »Der Bogen des Friedens, der durch die Tränen flimmerte, der steht wohl heute noch von jenen Jahren her über der Welt« – das ist bleibende Siebzig-Stimmung in Kloster Lugau, das und die »traumsichere Siegesgewißheit« der jungen Braut, die sich auch der alten Frau mitteilt.
Es kommt alles zu gutem Ende, und gerade die Abhebung der Sommersonnentage im blühenden Frieden des Klosters von den dunklen Gewittern, die sich in Ems und Paris zusammenziehn, gibt der Erzählung einen besondern Reiz. Wir leben alle unser Leben und kämpfen unsere Kämpfe zu jeder Zeit – aber, wie Leonhard Hagebucher es ausgesprochen hat: das Ganze lebt über uns und um uns. Der große Augenblick kommt, in dem wir Das und nur Das fühlen, und dann ist es mit dem Privatglück, Schönowisch gesprochen, zunächst einmal zu Ende. Dann haben wir alle unsern gewiesenen Platz; und wie sich die beiden jungen Liebenden in Gutmanns Reisen zusammenfinden, derweil die Väter die Einigung des Reiches beraten, wie sie das gute Recht haben, so zu tun, denn auch das erfordert die Zukunft des deutschen Volkes – so sehn wir mit doppeltem Anteil den jungen süddeutschen Bundesbruder unter preußischer Führung in den großen Kampf ziehn, da wir sein Liebesglück unter den Augen der Tante Kennesiealle haben miterleben dürfen.
Raabe liebt es, seinen Hauptgestalten durch Begleiter in dienender Rolle eine Folie zu geben – man mag dabei an das große Vorbild des Cervantes in Don Quijote und Sancho Pansa denken. Was bei den Trägern der Handlung 243 in vollen Tönen herauskommt, wird hier häufig mit Halbtönen begleitet, zu der die Melodie tragenden Oberstimme gesellt sich eine unentbehrliche Unterstimme. Sehr häufig hebt er beide auch in der Bildung voneinander ab und gewinnt dadurch eine doppelte Ausrichtung. Er erweist die ergriffenen Probleme so als Dinge, die nicht nur in den Sphären hoher Kultur durchzuleben sind, sondern an denen das menschliche Herz schlechthin seinen Teil hat. So stand Täubrich Pascha neben Leonhard Hagebucher, so (in den Alten Nestern) Jule Grote neben der Mutter Langreuter, der Nachtwächter Marten neben Sophie Grünhage, der Diener Samse neben dem alten Pfister und der holzschnittmäßig gezeichnete Humorist Knövenagel neben seinem Herrn Fabian. Knövenagel lebt von seiner Bildungsstufe her das Leben seines Herrn mit, er haßt noch, wo dieser schon versteht, aber von den feinen Fingern des Herrn lernt er doch an der rechten Stelle behutsam mit zugreifen, er lernt von ihm, das Sein über den Schein stellen. Auch im Kloster Lugau gibt Raabe eine solche Gestalt der zweiten Reihe in dem Diener Mamert, dem Kriegskameraden des Hofrats; Mamert ist ein Humorist im Kleinen, ohne die leise, erst von der Liebe überwundene Blasiertheit seines Herrn (der doch noch irgendwie mit dem Hofrat Brokenkorb verwandt ist), und sofort ist er dem Rat wieder treu zur Seite, da das neue Kriegsgewitter losbricht.
Die reife Sicherheit, mit der Raabe im siebenten Jahrzehnt von Werk zu Werk schreitet, schien einer Steigerung nicht mehr fähig zu sein – da gab er als vorletztes Buch bei seinen Lebzeiten die Akten des Vogelsangs, von 1893 bis 1895 geschrieben, heraus – und wir finden ihn auf einem neuen Gipfel. Gewiß waltet auch hier das zuletzt im Alten Eisen befolgte Gesetz der biographischen Parallele. Drei Menschen sind in derselben Heimat aufgewachsen, 244 zusammen durch die Kindheit gegangen, früh auseinander und dann immer wieder zusammengekommen, und der eine von ihnen, der Oberregierungsrat Karl Krumhardt, die künftige Exzellenz, schreibt nach des Freundes Heimgang die Akten des Gewesenen, just wie Wachholder, als Überlebender von dreien, seiner Neigung gemäß nicht Akten, sondern eine Chronik schrieb. Indem der hochgestiegene Beamte das Leben des nach jähem Aufglühen verloschenen Jugendgenossen darstellt, klärt er sich die eigene Jugend. Er spricht von ihm und von der, die ihm bestimmt war, sich ihm zur Unzeit entriß und ihn zu spät wieder traf, von der dritten in diesem Bunde der Heimatkinder. Sie sind in ein größeres Leben eingetreten als die Kinder von Ulfelden und die Kinder der Sperlingsgasse; über den Ozean, dann freilich gleichfalls nach Berlin hinein führen diese Geschicke; und wir merkens ihm wohl ab, daß auch der ruhig durch Fleiß und Stetigkeit emporgekommene Erzähler vom Besten seines Lebens viel dem anders gearteten, genialen Kameraden Velten Andres aus dem Vogelsang verdankt. Für den war nur ein Glück gewachsen, wie so oft für raabische Menschen, wie für den Heinrich Schaumann des Stopfkuchens; aber nicht in schrittweiser Annäherung, sondern in genialem Zugreifen, in siegesbewußtem, raschem Aufstürmen hat Velten Andres es erreichen wollen und ist dann schließlich zusammengebrochen. Noch im Verglühen strömt von dieser Gestalt unendliches Licht; sie ist nicht von denen, die, wie jene unseligen Halbdichter, zuletzt nur noch dunkel Scham und Qual zwischen seltenen Sonnenblicken um sich verbreiten – sie ist von jenen Naturen eine, in denen der edle Kern niemals vergraben werden kann und von denen das Alter, verkörpert in der Gestalt einer rührenden Greisin, und eine von Schwermut überhauchte Jugend, dargestellt in einer feinen berliner Hugenottin, Bestes für ihr Leben 245 mitnehmen. Velten Andres hat Helene Trotzendorf, das Kind des Vogelsangs geliebt, und diese Liebe hat ihm Ziel und Richtung des Lebens gegeben. Er ist darüber an der holden Leonie des Beaux vorübergegangen, wie er an allen Gütern des Lebens vorübergeglitten ist oder sie nur eben als notwendige Fracht zum Ziele mitgenommen hat. Dieser Mensch, dem die Natur alles zu hohem Emporstieg gab, Schönheit, Begabung, Mut, Willen, er setzt das mit unverrückbarer Leidenschaft an das Eine und weiß sich ohne Ziel, da Helene ihm in den vergoldeten Alltag entgleitet.
Hans Hoffmann hat in seiner, der Hamburger Kunstgesellschaft gehaltenen Festrede zu Raabes fünfundsiebzigstem Geburtstag und in seinem Buch über den älteren Freund die Akten Raabes Werther genannt, und Raabe hat Hartmann gegenüber diese Bezeichnung abgewehrt: der Roman sei nicht aus Wertherstimmung entstanden, er habe ihn nach dem Tode seiner Tochter Gertrud geschrieben und nicht eine Spur eignen Erlebnisses stecke darin.
So merkwürdig es klingt: Raabe hatte natürlich völlig Recht – aber Hans Hoffmann auch; denn der hatte ja nicht sagen wollen, daß Raabe das Werk aus einer Wertherstimmung schrieb, sondern daß der Dreiundsechzigjährige eine Dichtung schuf, deren glühende Liebesleidenschaft so stark war, wie die in dem ersten Roman des vierundzwanzig Jahre alten Goethe. Gewiß hatte Raabe die Liebe als bestimmende Macht schon vordem dargestellt, aber sie trat nicht so überwältigend als nota constitutiva hervor. Gerade bei so wegweisenden Werken wie Abu Telfan, dem Schüdderump, den Drei Federn, den Unruhigen Gästen, war sie überhaupt nicht ausschlaggebend gewesen. Leonhard Hagebucher, Antonie Häußler, Phöbe Hahnemeyer, auch Sophie Grünhage und ihre Zöglinge leben 246 und sterben um anderes. Hans Unwirrsch erkämpft ein Liebesglück, aber er durchlebt es nicht mit verzehrender Gewalt. Einsam steht Anneke Mey mit ihrer im Tode des Geliebten das eigene Leben endenden Liebe unter den Gestalten des jungen Raabe, und erst Ewald Sixtus aus den Alten Nestern, der als Sieger nach Haus kommt und die scheinbar schon verlorene Jugendgeliebte doch noch erobert, ist in seiner Liebesenergie eine Vorstufe zu Velten Andres. Aber freilich nur eine Vorstufe. Velten ist als Gestalt, die alles um sich herum anzieht, als der Mensch, der alles an alles setzt, größer, tiefer, tönereicher angelegt als Ewald Sixtus. Nicht glückhaft wie dieser kehrt er heim; aber er macht nicht unmännlich, wie der späte Goethe seinen Werther nannte, seinem Leben ein Ende. So wenig wie irgendein anderer Mensch des reifen Raabe – und hätte nicht Antonie Häußler so den sichersten Ausgang aus der Welt der Kanaille gefunden? – schreitet Velten zum Selbstmord. Er steigert auch nicht wie Penthesilea, deren Stimmung hier mit fühlbarer Schicksalsverwandtschaft emporsteigt, das Gefühl in sich bis zur Selbstvernichtung. Er wählt sich ein Lebensmotto aus Goethes Frühzeit:
Sei gefühllos!
Ein leicht bewegtes Herz
Ist ein elend Gut
Auf der wankenden Erde,
Damit hat er nun sein Leben gegen das eigene heiße Herz verbarrikadieren wollen. Wohl hat die innere Spannung noch ausgereicht, der Mutter den Tod leicht zu machen; dann aber ist's vorbei. Alles tut er von sich und liegt in seiner kahlen Studentenbude, mit Schmökern aus seiner Jugendzeit, bereitet, zu gehen. Das Herz kann nicht mehr und will nicht mehr, und so stirbt er bei der neunzigjährigen Studentenwitwe, während die verirrte 247 Jugendgenossin an seinem Bett ihm nur noch in seiner Todesstunde die Hand unters Herz legen kann. Zu früh hat das Schicksal heiße Menschen auseinandergerissen, die nicht mehr zueinander konnten, weil es innerlich nicht anging.
Raabe hat vielleicht keinen Vorgang geschildert, der in seiner ans Herz greifenden Drastik so aus dem Innersten heraus symbolisch aufgebaut wäre, wie die Verschleuderung des elterlichen Haushaltes durch den Sohn, dem mit der Mutter das Letzte auf Erden weggegangen ist. Alles gibt er fort; alles, bis auf die ausgehobenen Türen, trägt das Volk des Vogelsangs weg, und er, Velten Andres, steht mitten darunter. Da tritt eine Gestalt neben ihn, die einzige hier, die man mit der feinen Raabedeuterin Margarete Bönneken symbolisch nennen muß: Herr German Fell, der Affenmensch vom benachbarten Varieté-Theater. Der steigt »sozusagen aus dem Pavian oder Gorilla heraus« und spricht, wieder »Menschheit auf der entwölkten Stirn«, zu Velten: »Ich habe ebenfalls einige Semester in Wittenberg studiert, ehe ich zu den Anthropoiden ging. Mein Herr, Ihr Ruf ist während der letzten Wochen auch zu uns, und also auch zu mir gedrungen; ich habe dann und wann mit Interesse ein Stündchen mit vor Ihrem Ofen gesessen. Siehe da, habe ich mir gesagt, auch einmal wieder einer, der aus seiner Haut steigt, während die übrigen nur daraus fahren möchten! Mein Herr, ich wünsche einen recht guten Abend, und nicht bloß für den heutigen Tag.«
Velten Anders fragt, mit wem er eigentlich genauer die Ehre habe.
»Mit einem vom nächsten Ast, mein Herr. Vom nächsten Ast im Baum Yggdrasil. Man kann sich auf mehr als eine Art und Weise dran und drin verklettern, mein Herr. Mit unsern Personalbezüglichkeiten dürfen wir uns wohl gegenseitig verschonen. Auf bürgerlich festen Boden hilft 248 wohl keiner dem anderen wieder herunter; aber reichen wir uns wenigstens die Hände von Zweig zu Zweig. Mein Herr, ich danke Ihnen.«
Nicht umsonst schließt das Werk da, wo die Chronik begann, in der berliner Dorotheenstraße, der Studentenheimat von Heyses Kindern der Welt, mit denen es stimmungsmäßig eine fühlbare Verwandtschaft hat. Aber wie hoch ist der Meister über sein Jugendwerk hinausgewachsen! Damals verschnürte er sich absichtlich in die Gestalt eines alten Erzählers, um von einem andern Blickpunkt her zu schreiben; jetzt war die Rahmenfügung nur das kunstreiche Mittel zur Zusammendrängung, und der Schreiber selbst schwächt an dem vollen Klang nichts ab, weil es für ihn nicht, wie für Wachholder, der Resignation braucht. Bei der Chronik fanden wir uns durch den stilistischen Aufbau, aber freilich nur durch diesen, an Goethes ersten Roman erinnert – in den Akten gab Goethe das Leitmotiv her, und aus Veltens verzweifeltem Brief nach Helenes Verheiratung tönen wiederum Goethische Verse:
Hier ist der Abschluß! Alles ist getan
Und nichts kann mehr geschehn! Das Land, das Meer,
Das Reich, die Kirche, das Gericht, das Heer,
Sie sind verschwunden. Alles ist nicht mehr!
Verse, deren sich auch Helene Trotzendorff selbst in schwerster Stunde wieder erinnert. Weit vordem, in Abu Telfan, hatte Raabe Goethen durch den Mund des Vetters Wassertreter zum Wegweiser aufgerufen. »Von diesem Steinhaufen bis zum Horizont und hinaus über den Horizont sagt alles mit Behaglichkeit: Blättern Sie weiter, auch über die nächste Seite scheint die Sonne! . . . Vierzig Bände Weltruhms, zweiundachtzig Lebensjahre und nur vier Wochen ungetrübtes Glück oder besser eigentliches Behagen; – welch ein Trost für uns alle dieser alte Knabe 249 in seiner Fürstengrube zu Weimar ist! Ob man ein großer Poet und Staatsminister oder ein kleiner Narr und Wegebauinspektor ist, bleibt sich am Ende verflucht gleich; – ein Vivat allen wackeren Gesellen zu Wasser und zu Lande, auf ebener Erde und auf den goldenen Wolken im blauen Äther, den guten, wackern Gesellen, die aushalten und sich nicht irren lassen und bei jeder Witterung den Tag preisen!« Wie sehr Raabe die Tragik auch in dem Leben eines so oft als glücklichster der Dichter gepriesenen Künstlers erfühlte, erhellt aus dieser Einstellung in jenem Werk erster, reifer Meisterschaft; dies kongeniale Verständnis tritt gerade in der Anrufung Goethes über dem eigentlich tragischen unter Raabes Spätwerken deutlich noch einmal hervor. Der scheinbare Olympier und der scheinbare Eigenbrödler, der Geheimrat mit dem Stern auf dem Überrock und der Kleiderseller aus Herbsts Ecke reichen sich als die beiden menschlichsten Dichter unserer Sprache und unseres Lebens über ein Jahrhundert hinweg die Hand. 250