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D er Stadtrath hatte sich, sobald einer seiner speciellsten Gegner die Frage der Kassenvisitation in Anregung gebracht hatte, von dem Sessionstische erhoben und war zu einer kleinen Gruppe von Collegen, welche die Aufregung nicht auf ihren Plätzen sitzen ließ, getreten; dann war er, scheinbar nur, um einen Gang durch den Saal zu machen, bis zur Thür gegangen, und hatte, von der mangelhaften Beleuchtung des weitläufigen Gemaches begünstigt, dasselbe in dem Augenblicke verlassen, als die vorgeschlagene Maßregel durch allgemeine Acclamation beschlossen wurde.
Er huschte an den wenigen Personen, die ihm auf den Vorsälen und Gängen des Rathhauses begegneten, vorüber. In der Bestürzung, die sich aus dem Sessionssaal bereits über das dienende Personal verbreitet hatte, achtete Niemand auf ihn. Draußen auf dem Markte athmete er hoch auf; er war jetzt sicher, daß man ihn so leicht nicht fangen würde, sein Vorsprung war zu groß. Und selbst wenn ihm der Weg nach Hause abgeschnitten wurde, so war der Fluß durch einige Seitenstraßen in wenigen Minuten zu erreichen. Wer sollte ihn aufhalten, wenn er ein paar Joche weit auf die Brücke hinauflief und sich dann plötzlich über das Geländer stürzte?
Er blieb stehen und sah sich nach dem Rathhause um; durch die hohen Fenster des Sessionssaales dämmerte das Licht; er glaubte zu bemerken, daß einzelne Gestalten an die Fenster traten und auf den Markt hinabschauten. Es sollte ihnen schwer werden, ihn hier mitten auf dem dunkeln Platze zu entdecken, aber jede verlorne Minute machte die Ausführung seines Entschlusses schwieriger, und so schlug er denn eilig den Weg nach seiner Wohnung ein. Er empfand eine Art von Genugthuung darüber, daß es ihm vergönnt sein würde, sich wie ein Gentleman in seinem eigenen Zimmer auf seinem eigenen Sopha mit seinen eigenen Pistolen zu erschießen. Vor dem Tode selbst fürchtete er sich nicht.
Er hatte sich schon seit mehreren Monaten mit dem Tode vertraut gemacht. Die Hoffnung, die er Anfangs gehegt hatte, es werde ihm mit Hülfe des Generals gelingen, die gestohlene Summe wieder zu ersetzen, war in dem Maße schwächer geworden, als das Verhältniß zwischen Wolfgang und Camilla gespannter wurde. Er hatte die Entwickelung dieses Verhältnisses auf das schärfste beobachtet und hatte sich längst überzeugt, daß es auf die Dauer ebenso unhaltbar sei, als Wolfgang's militairische Stellung. Er war ein zu guter Spieler, um nicht bei Zeiten zu erkennen, daß er seine Parthie verlieren werde. So lange Margareth lebte, war ihm das furchtbar genug gewesen; nach dem Tode der Guten hatte der Gedanke, der Schande durch Selbstmord zu entgehen, viel von seinem Schrecken verloren. Er hatte Margareth geliebt, so weit das seinem eitlen egoistischen Herzen möglich war, und es wäre ihm doch hart angekommen, ihr diesen Kummer zu machen; vor Allem aber wäre es ihm entsetzlich gewesen, vor ihr, der er stets mit seiner vornehmen Geburt, seiner Bildung, seiner Klugheit zu imponiren gesucht hatte, so klein zu erscheinen. Das Alles fiel bei Margarethen's Tod weg und so hatte er sich denn, als er den ersten Schreck und Schmerz über ihren Verlust schnell überwunden hatte, wie von einer schweren Last befreit gefühlt. Was nun auch kommen mochte: er konnte es leichter tragen, nun, da die sanften, braunen Augen seines Weibes nicht mehr ängstlich forschend auf ihn gerichtet waren. Was nun auch kommen mochte: er hatte es jetzt nur noch allein zu tragen. An Wolfgang dachte er kaum, oder doch mit ganz anderen Empfindungen. Es hatte kaum eine Zeit gegeben, wo er auf Wolfgang herabgesehen hatte, wie er stets und zu allen Zeiten auf seine Gattin herabsah. Schon der Knabe hatte ihm durch seinen Ernst, seine Strebsamkeit, seine Wahrheitsliebe eine ihm oft sehr unbequeme Achtung abgenöthigt, und dies Gefühl hatte sich von Jahr zu Jahr gesteigert, bis er in dem Jüngling ein fremdes, ihm unbegreifliches Wesen sah, an dem er keinen Theil hatte. Wolfgang, das wußte er, würde seinen Weg durch die Welt finden, und – so seltsam hatten sich in diesem Kopfe die Begriffe von Gut und Wahr verwirrt– er schmeichelte sich mit der Hoffnung: der Blitz des Pistolenschusses, mit dem er seinem Leben ein Ende machte, würde ihn den Augen des Sohnes in einem heroischen Lichte erscheinen lassen. Es war nach seiner Anschauung doch immer eine That; er hatte stets das Gefühl gehabt, daß ihm Wolfgang die Energie, die zu einer solchen That erforderlich ist, nicht zutraute.
Trotz alledem hatte er diese That, diese letzte That, die alle Schulden bezahlen, alle Sünden sühnen sollte, von Tag zu Tag hinausgeschoben mit jener Unentschlossenheit, die ihn sein Leben lang immer erst in dem Augenblick verlassen hatte, wenn es im Grunde nichts mehr zu entschließen gab, sondern die Umstände mit zwingender Nothwendigkeit ihn nach dieser oder jener Seite trieben. Wer weiß, wie lange er sich noch in diesem Elend hingequält hätte, wenn heute nicht, wie auf einen Schlag, Alles zusammengekommen wäre, um ihm den letzten schwachen Schimmer der Hoffnung zu rauben. Heute Morgen hatte er von dem General auf Rheinfelden, dem er zu seiner Befreiung in den schmeichelhaftesten Ausdrücken schriftlich gratulirt hatte, einen Brief erhalten, in welchem ihm in wenigen groben Worten die Gelder, die ihm der Alte während des letzten Jahres vorgeschossen hatte, gekündigt wurden. In diesem Briefe lag ein zweiter von der Hand der Präsidentin, des Inhalts, daß Umstände eingetreten seien, welche ihr und ihrem Gemahl eine Aufhebung des zwischen Camilla und Wolfgang bestehenden Verhältnisses wünschenswerth erscheinen ließen; eine nähere Erklärung dieses Schrittes sei vor der Hand nicht möglich, doch würde dieselbe seiner Zeit »dem Herrn Stadtrath und seinem Herrn Sohne« werden.
Mit diesen Briefen in der Tasche war der Stadtrath, nachdem er am Mittag vergeblich auf Wolfgang's Rückkehr von der Parade gewartet hatte, am Nachmittage auf das Rathhaus in die Sitzung gegangen, die für ihn einen so verhängnißvollen Ausgang nahm. Das Schicksal hatte den letzten entscheidenden Trumpf gegen ihn ausgespielt; die Parthie war verloren.
Der Stadtrath kam, athemlos von dem eiligen Lauf, in seiner Wohnung an. Seine erste Frage war nach Wolfgang. Die gutmüthige Ursel, die seit Margarethen's Tode das verödete Hauswesen allein leitete, hatte verweinte Augen und brach auf des Stadtraths Frage in Thränen aus. »Die gnädige Frau würde sich im Grabe herumdrehen, wenn sie das Unglück erlebte!« rief sie einmal über das andere. Endlich konnte sie ihre Bewegung so weit beherrschen, um dem Stadtrath zu erzählen, daß am Nachmittage ein paar Officiere im Hause gewesen seien und auf des jungen Herrn Stube alle Schränke und Schubladen durchsucht hätten, und daß der Bursche vom jungen Herrn für den Herrn Lieutenant Wäsche und andere Sachen auf die Wache gebracht habe und daß auf dem gnädigen Herrn seinem Tisch ein Zettel von dem jungen Herrn liege.
Der Stadtrath ging in sein Zimmer; neben der angezündeten Lampe lag ein mit Bleifeder von Wolfgang's Hand geschriebenes Billet:
»Lieber Vater! Ich bin verhaftet, weshalb, weiß ich nicht. Sei ohne Sorgen. Ich hoffe, in kurzer Zeit wieder frei zu sein.«
Also auch das noch! So sollte alles Unglück auf einmal hereinbrechen! Was konnte Wolfgang gethan haben? Des Stadtraths Gehirn war zu verwirrt, als daß es ihm möglich gewesen wäre, lange bei dieser Frage zu verweilen. Er empfand nur eine Art von Befriedigung über diesen neuen Fall. Es war ja ganz offenbar, daß das Schicksal ihn auf das Unerträglichste verfolgte und es geradezu auf sein Verderben abgesehen hatte. Einer Welt, die so voller Ungerechtigkeiten war, zu entgehen, wenn man Muth genug hatte, den letzten, unwiderruflichen Schritt zu thun – das war ein Entschluß, den alle Welt billigen mußte. Und es war doch gut: daß Wolfgang gerade jetzt vom Hause abwesend war: seine Anwesenheit wäre doch sehr unbequem gewesen. Nun galt es nur noch, die Ursel zu entfernen; aber wie? Wenn er sie auf die Wache schickte? – das Fort Sebastian lag am andern Ende der Stadt; wenn sie auch nicht eingelassen wurde – sie brauchte mindestens eine Stunde, um hin und wieder zurück zu gelangen.
Er schrieb ein paar Worte an Wolfgang – die ersten, besten, die ihm in die Feder kamen. Bei dem »Lebewohl, mein Sohn!« stutzte er einen Augenblick; aber er hatte keine Zeit, über die tiefe Bedeutung dieses Lebewohls nachzudenken. Seitdem er im Hause angelangt war, waren schon zehn Minuten verflossen; er berechnete seinen Vorsprung nur auf eine Viertelstunde.
Er drängte die bestürzte Ursel fast zum Hause hinaus. Dann, als er hinter ihr zugeschlossen und den Riegel vorgeschoben, ging er in seine Stube, verriegelte und verschloß auch diese; legte die Fensterladen vor, schraubte die Schrauben so fest wie möglich – und jetzt war er allein.
Allein! – wie ein Gefühl der Wonne überkam es ihn. Jetzt stand Niemand mehr zwischen ihm und seinem Schicksal; Niemand konnte ihm in den Arm fallen; Niemand konnte ihn mehr zur Rechenschaft ziehen; Niemand über ihn die Nase rümpfen; Niemand ihm in's Gesicht sagen, daß Arthur von Hohenstein die ihm anvertraute Kasse nach und nach um dreißigtausend Thaler bestohlen und seine Gläubiger ungefähr um dieselbe Summe betrogen habe. Sechszigtausend Thaler! Eine wahre Lumperei! Es war im Grunde lächerlich, sich um solch' eine Bagatelle das Leben zu nehmen! Er erinnerte sich aus seiner Officierzeit, daß einer seiner Kameraden, ein Herr von Bockenhagen, in einem Jahre dreimalhunderttausend Thaler Schulden gemacht hatte, und deswegen von allen Kameraden als eine Art von Heros betrachtet wurde, besonders als er kurze Zeit darauf eine reiche Erbin, die eine Million zur Mitgift hatte, heirathete. Das war ein Leben, wie es einem Edelmann zukam! Ein Anderer, ein Herr von Schnabelsdorf, hatte es gar auf viermalhunderttausend gebracht und dann freilich auch nichts Besseres zu thun gewußt, als sich zu erschießen. Das hatte sich doch der Mühe verlohnt! Aber er! er hatte Zeit seines Lebens es nie zu was Rechtem bringen können! Alles, was er gethan, hatte er ohne Kraft und Nachdruck gethan! Wenn er dem Genuß hatte leben wollen, war das Gewissen erwacht und hatte ihm die schönsten Freuden verdorben; und hatte er spießbürgerlich ehrlich zu leben versucht, hatte ihm die Erinnerung seiner einstigen Herrlichkeit keine Ruhe gelassen, bis er die Schranken, die er sich gezogen hatte, wieder niederriß. Was hatte ihm seine vornehme Geburt, die großen Verbindungen seiner Familie, die in die allerhöchsten Kreise reichten; was hatte ihm seine vielgerühmte Schönheit, seine Weltgewandtheit geholfen! nichts! gar nichts! bis hierher hatten sie ihn gebracht, bis hier vor diesen offenen Pistolenkasten!
Er nahm eine der Pistolen heraus; führte den Ladestock in das Rohr ein und überzeugte sich, daß die Kugel noch im Laufe war. Dann nahm er das Zündhütchen ab und ersetzte es durch ein frisches. So auf das Schlimmste vorbereitet, ließ er sich in den bequemen Fauteuil sinken und blickte mit einem gewissen ironischen Behagen in dem schönen, prächtig ausgestatteten Gemache umher. Die alten Kupferstiche nach berühmten Meistern, die herrlichen Büsten auf zierlichen Postamenten und Consolen, die reichgeschnitzten Möbel, die mit dunkelrothem Plüsch überzogenen Sopha's und Stühle, der geschmackvolle Teppich, den er sich erst vor ganz kurzer Zeit angeschafft und noch nicht bezahlt hatte – das war die Umgebung, wie sie einem Manne von seinem Geschmack und seinen Ansprüchen zusagte und zukam. Warum hatte ihn das Geschick nicht in eine Lage gebracht, wo er sich dieser, ihm naturgemäß zukommenden Dinge behaglich erfreuen konnte, wie so viele Andere, die keinen Deut besser waren, als er, es alle Tage thaten? Er war nicht dazu gemacht, zu arbeiten und sich abzumühen, wie sein Schwager Peter Schmitz. Und was hatte Peter Schmitz all' seine Arbeit und Ehrlichkeit geholfen? Ein armer Mann war er gewesen, ein armer Mann war er geblieben; aber Peter Schmitz war ein geborener Plebejer und hatte Talent zum Armsein; – »ich habe das Talent nicht und will's nicht haben. Arthur von Hohenstein wurde nicht dazu geboren, um, sich zu placken, wie ein Sclave.«
Ein heftiges Pochen an der Hausthür ließ ihn mit einem Sprunge von dem Stuhle auffahren. Er legte die Hand an die Pistolen, sein Herz schlug mit furchtbarer Gewalt an seine Rippen.
Und abermals ertönte das Pochen – lauter als zuvor.
Er wußte, was dieses Pochen zu bedeuten hatte; er sah den Polizeidirector mit seinen Häschern vor der Thür stehen. Er sah sich als Gefangener durch die Straßen auf das Rathhaus geführt; als Gefangener eintreten in denselben Sitzungssaal, in welchem er vor so kurzer Zeit gesessen und mit berathen hatte; er sah die hämischlachenden, erstaunten, unwilligen, bestürzten Gesichter seiner ehemaligen Collegen …
Und wieder pochte es an die Thür.
Er setzte die Mündung der Pistole an die Schläfe – im nächsten Augenblick lag ein verstümmelter Leichnam auf dem kostbaren unbezahlten Teppich.
Der Rathsdiener, welcher, um den Stadtrath zu holen, gesandt war, hörte den Knall. Ein jäher Schrecken erfaßte den Mann, dem es so schon in der öden Straßen vor dem festverschlossenen Hause gegenüber den im Nachtwinde rauschenden Bäumen des Klosterhofes unheimlich genug gewesen war. Er rannte eiligst davon, um die Herren auf dem Rathhause von dem, was er gehört hatte, zu benachrichtigen.