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F rau Antonie von Hohenstein war vor einigen Tagen auf Rheineck angekommen, und hatte, nachdem sie flüchtig die auf ihre Befehle getroffenen Einrichtungen inspicirt, ihre Zufriedenheit zu erkennen gegeben. Der Hausflur war mit Gewächsen aus dem Wintergarten schicklich decorirt, die Zimmer waren gut gelüftet und durchwärmt, die Ueberzüge von den Möbeln entfernt, die Büsten wohl abgestäubt. – »Es ist Alles ganz nach meinem Wunsch, lieber Vettler; ganz nach meinem Wunsch, liebe Vettler.«
Herr und Madame Vettler hatten für ihre Bemühungen ein wärmeres Lob erwartet und fanden sich in Folge dessen durch die Gleichgültigkeit, welche die gnädige Frau gegen ihre Werke an den Tag gelegt hatte, höchlichst beleidigt.
»Wenn's weiter nichts war,« sagte Herr Vettler, »dann hätten wir uns nicht zu schinden brauchen.«
»Da hast Du Recht,« sagte Frau Vettler, eine dicke, gutmüthige Person; »aber die Gnädige sieht lange nicht mehr so frisch und kräftig aus, wie im Frühling; sie ist gewiß krank; da kann man ihr schon was zu gute halten.«
»Papperlapapp,« sagte Herr Vettler; »vornehme Leute werden gar nicht krank; so was ist nur für unser einen.«
Wie es auch mit dem Gesundheitszustand Antonien's stehen mochte, mit dem weniger frischen und kräftigen Aussehen hatte es unzweifelhaft seine Richtigkeit, und wenn üble Laune ein Symptom von Krankheit ist, so ließ Antonien's Befinden viel zu wünschen übrig. Sie kam wenig aus ihrem Zimmer, und wenn Frau Vettler – Antonie wollte von Niemand sonst bedient sein – auf den Ruf der Klingel vor der Gnädigen erschien, fand sie dieselbe in einem Fauteuil oder auf dem Sopha halb liegend, halb sitzend, und immer mit demselben abgespannten Ausdruck in den schönen Zügen. Nur einmal hatte Frau Vettler zu fragen gewagt: was der Gnädigen fehle? und die Gnädige hatte mit etwas mürrischem Tone geantwortet:
»Ich langweile mich.«
Frau Vettler war ordentlich froh, als der Tag, auf welchen die Gnädige den Besuch der Herren angekündigt hatte, endlich da war. Nun mußte doch die Langeweile zu Ende sein. Einige der Herren würden vermuthlich mehrere Tage bleiben; so war also vorläufig für Unterhaltung gesorgt. Herr Vettler, der vor einigen Tagen Briefe in die Stadt mitgenommen hatte, glaubte sogar zu wissen, wer die Herren wären; doch ließ er sich diesmal, gegen seine sonstige Gewohnheit rücksichtslosester Schwatzhaftigkeit, nicht weiter über das interessante Thema aus.
Die Gesellschaft wurde zum Mittag erwartet, aber bereits um zehn Uhr kam ein verschlossener Miethswagen aus der Stadt. Ein großer Herr, der den Mantelkragen in die Höhe geschlagen hatte, stieg schnell aus und trat in das Haus. Der Wagen fuhr sogleich wieder ab.
Einige Minuten später saßen der Herr und Antonie in dem Empfangs-Zimmer einander gegenüber. Die Dame auf dem Sopha, der Herr in einem Fauteuil. Der Ausdruck in den Gesichtern der Beiden war aber keineswegs der besonderer Freude oder auch nur gesellschaftlicher Freundlichkeit. Im Gegentheil; Beider Stirne und Augen waren düster. Sie hatten kaum ein Wort gesprochen und doch sahen sie aus, als hätten sie schon eine lange und keineswegs ergötzliche Unterredung gehabt.
»Sie sehen angegriffen aus, Antonie,« sagte Münzer.
»Ich langweile mich,« entgegnete Antonie, ihre schönen Augen zur Zimmerdecke aufschlagend.
»Da werden Sie Ihren ländlichen Aufenthalt nicht zu lang ausdehnen.«
»Ich dächte, ich wäre nicht zu meinem Vergnügen mitten im Winter auf das Land gezogen.«
»Gewiß nicht, und die Partei muß Ihnen deshalb das Opfer, das Sie ihr bringen, um so höher anrechnen, aber ich meine – und ich glaube, unsre heutige Konferenz wird auch die Andern zu dem Resultate bringen – wir schlagen bald los, oder lassen es ganz. In beiden Fällen wird Ihr Aufenthalt hier, der nur den Zweck hat, uns ein sicheres Rendezvous zu ermöglichen, unnöthig. Meinen Sie nicht?«
»Willst Du mich nicht lieber: gnädige Frau tituliren? ich dächte, das machte sich noch besser.«
Ueber Münzer's Gesicht zog ein melancholisches Lächeln:
»Verzeihe,« sagte er; »aber Du weißt, wenn es sich um die Politik handelt, vergesse ich alles Andre und auch unsre – Freundschaft.«
»Wenn es sich um Politik handelt! Handelt es sich denn jemals um etwas Anderes?«
»Und dies Thema hat seinen Reiz für Dich verloren – wenn es jemals einen Reiz für Dich gehabt hat.«
»Ich kann es nicht leugnen, Münzer, oder vielmehr ich will es nicht leugnen: ich habe es herzlich satt, immer nur von Revolution und Reaction, Parlament und Reichsverweser, Socialismus und Communismus, Camarilla, Säbelherrschaft und wie Eure Stichwörter sonst noch heißen, reden zu hören, um so mehr, als ich nicht sehen kann, daß bei all' den Reden irgend etwas herauskommt.«
»Du wirst mir die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß es nicht meine Schuld ist, wenn wir noch nicht weiter sind.«
»Meinetwegen; aber ändert das an der Sache etwas? Beweist es nicht vielmehr, was ich immer behauptet habe: daß Du Dich ohne Noth für Menschen opferst, die gar nicht nach diesem Opfer fragen, die gar nicht errettet sein wollen? Ich gestehe: ich bin einmal für Deine Ideen enthusiasmirt gewesen; aber auf die Dauer für Ideen schwärmen, die immer nur in der Luft schweben, und nie den Fuß auf die Erde setzen, ist meine Sache nicht.«
»Verzeihe, Antonie; ich glaube, Du thust den armen Ideen Unrecht. Die Ideen, für die ich Dich zu begeistern suchte und für die ich Dich begeistert zu haben glaubte, sind vielleicht niemals ganz und gar auf Erden zu realisiren; jedenfalls darf es dem, der für sie arbeitet, auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht ankommen, denn er weiß, daß diese Ideen unsterblich sind, wie die Menschheit.«
»Ich aber bin nicht unsterblich, und ich will etwas vom Leben haben,« sagte Antonie ungeduldig; »und übrigens widersprichst Du Dir selbst mit dieser Unsterblichkeitstheorie. Wer ist es denn, der immer zum Handeln drängt? der außer sich ist, daß es nicht zum Handeln kommt? der einmal über das andere sich von diesen trägen Klötzen, die nichts in Flammen setzen kann, loszusagen droht, – als Du und immer wieder Du? Was sprichst Du mir denn jetzt von unsterblichen Ideen, an die Du doch, wenn Du ehrlich sein willst, selbst nicht glaubst!«
»Ich fürchte, Antonie, wir haben aufgehört, uns zu verstehen.«
»Oder haben uns niemals verstanden.«
»Dann freilich wäre es lächerlich, wenn wir jetzt in der zwölften Stunde noch einen Versuch machen wollten, uns zu verständigen.«
Münzer erhob sich und trat an den Kamin, in welchem nur noch hier und da einzelne Kohlen glimmten. Es mochte ein stattliches, glänzendes Feuer gewesen sein, als die rothen Flammen zuerst durch den Holzstoß prasselten; die rothen Flammen waren davongeflogen, und das Holz war verzehrt; die entfesselte Wärme verbreitet sich in dem unendlichen Raum; nach wenigen Stunden streckt man die frierenden Hände über die graue Asche und zieht sie frierend wieder zurück.
Eine Hand legte sich leicht auf seine Schulter; er wandte sich um, und versuchte den ängstlich forschenden Blick von Antonien's großen Augen mit einem Lächeln zu erwidern; aber das Lächeln starb im Entstehen. Er ließ sich in einen Stuhl sinken und stützte den Kopf in die Hände.
Antonie kniete neben ihm nieder und zog ihm mit sanfter Gewalt die Hände von dem Gesicht.
»Nein, laß mich knieen, Bernhard! ich habe Dich sehr beleidigt und kann Dir das nur auf den Knieen abbitten. Aber sei Du auch gerecht gegen mich! Was kann ich denn dafür, daß ich nun einmal keinen Kopf und kein Herz habe für Deine Völkerbeglückungstheorien, daß ich kein Verständniß habe für die Menge, daß ich nur in Dir lebe, nur in Dir und für Dich leben will? Weil ich zu sehen glaubte, daß Du nur in dem großen politischen Leben glücklich sein könntest, habe ich mich in dies Leben gemischt; aber seitdem ich sehe, daß Dich dies verhaßte Leben ebenso wenig glücklich macht, hasse ich es doppelt und dreifach. Ja, wenn es Dir noch Ehre und Macht brächte, wenn ich Dich als Präsidenten der Republik sehen könnte, wie ich Dich einst in dem Traume sah, den ich in der Nacht träumte, als Du Deine erste große Rede gehalten – das wäre nicht viel – aber es wäre doch etwas. Mir hat der Reichthum lange die Liebe ersetzen müssen; vielleicht ersetzte Dir die Macht die Liebe, die Du immer suchst und nicht findest – auch bei mir nicht gefunden hast. Ja, Bernhard, auch bei mir nicht! Du bist in meiner Gesellschaft nicht glücklicher gewesen, als – Du in dem Umgang mit jeder andern Frau auch gewesen sein würdest, als Du – in den Armen Deiner Frau gewesen bist. Ja, ich bin überzeugt, daß ich Dir lange schon eine Last bin – Du schüttelst den Kopf? Nun denn, gieb mir den Beweis, daß Du mich liebst! Laß diese elende Politik, diese politische Misere, aus der in Ewigkeit nichts Gescheidtes wird! gehöre mir ganz, wie ich Dir ganz gehöre. Komm mit mir nach Italien, nein! nicht nach Italien, – da sieht es noch schlimmer aus, als bei uns; nach dem Orient, nach den syrischen Küstenthälern, von denen ich heut im Lamartine gelesen habe, wo es so göttlich schön ist und wir unter Palmen und Cedern dies gräuliche Land und die gräuliche Politik vergessen können.«
»Und meine Kinder,« sagte Münzer, »was wird aus ihnen?«
Antonie ließ Münzer's Hände los und stand auf.
»Ich vergaß wieder einmal, daß Du – verheiratet bist,« sagte sie kalt; »warum nimmst Du die Kinder nicht zu Dir; sie gehören Dir ja.«
»Sie gehören tausendmal mehr ihrer Mutter; ich kann die Kinder nicht von der Mutter trennen.«
»So nimm sie doch alle wieder zu Dir, Mutter und Kinder, wenn Du doch einmal Dich von ihnen nicht losmachen kannst und willst.«
»Ich habe in der That sehr diese Absicht.«
»Und Du kamst so früh, mir das zu sagen?«
»Ich wollte es Dir in der That sagen; aber freilich nicht so, wie ich es Dir jetzt gesagt habe.«
»Aber doch sagen; auf das Wie kommt es ja wohl so sehr nicht an. – Wollen wir nicht etwas hinausgehen; die Sonne scheint so schön und es ist in den dunkeln Zimmern so traurig und langweilig. – Erlaube, daß ich klingle! – Wann, meinen Sie, daß die anderen Herren kommen werden? Ich freue mich auf Degenfeld; er sieht wirklich ausnehmend elegant aus, und dabei doch wie ein Mann, und ich glaube, er ist auch ein Mann, der, trotzdem er durch die Verhältnisse in eine schiefe Lage gerathen ist, sehr gut weiß, was er will. – Ah! da sind Sie ja, liebe Vettler! Wollen Sie mir meinen Hut und meinen Shawl bringen? – Ja so – da liegt ja Beides; ich hatte es ganz übersehen. Danke! – Sind Sie bereit? ja? – nun, das ist ja schön. Wir sind in einer halben Stunde zurück, liebe Vettler! Wir gehen nur eben in den Park, wenn unterdessen Jemand kommen sollte …«
»Ich glaube nicht, daß Du meine Gesellschaft wünschst,« sagte Münzer, als sie ein paar Minuten in der Allee des Parks, der sich unmittelbar hinter dem Hause nach dem Flusse zu erstreckte, schweigend nebeneinander hergegangen waren; »und thue wohl besser, unter irgend einem Vorwand nach dem Hause zurückzukehren.«
»Oder willst Du nicht lieber gleich nach Kirchheim gehen? Dorthin führt der Weg; in einer halben Stunde kannst Du da sein.«
»Ich werde nicht nach Kirchheim gehen; aber Dein Gast werde ich auch nicht länger sein; leb' wohl, Antonie!«
Münzer blieb stehen. Antonie machte noch ein paar Schritte, dann kehrte sie sich mit Heftigkeit um, kam wieder auf Münzer zu und sagte: »Also, ich bin Dir nichts mehr, oder besser, ich bin Dir nie etwas gewesen! sag' es doch nur einmal gerad' heraus! Ich habe so oft Liebhaber fortgeschickt; ich möchte nun auch gern wissen, wie es thut, fortgeschickt zu werden.«
Ihre Wangen glühten und ihre Augen flammten; sie war schöner, als Münzer sie je gesehen, und obgleich der Zauber, mit welchem diese Schönheit ihn einst umstrickte, den besten Theil seiner Kraft verloren hatte, war er doch noch mächtig genug, sein Herz höher schlagen zu machen.
»Wer von uns ist denn nun der Fortgeschickte?« sagte er mit bitterem Lächeln, indem er an Antonien's Seite tiefer in die Allee hineinschritt. »Keiner will es sein, oder, was noch schlimmer wäre: Jeder will es sein; aber, so oder so, beweist es nur, daß in unserm Verhältniß ein ungelöster Mißklang ist, der uns die Freude an Allem, was wir uns gewesen sind und vielleicht noch sein könnten, vergällt. Das muß zur Sprache kommen, und, je früher es zur Sprache kommt, desto besser für Dich und mich. Ich habe das Elend eines unharmonischen Verhältnisses zu tief empfunden, als daß ich den Leichtsinn haben könnte, ein Verhältniß, dessen Einklang nicht vollkommen ist, über den Augenblick hinaus, wo ich zu dieser Erkenntniß gekommen bin, fortzusetzen. Und wenn ich es auch wollte, Antonie, ich vermöchte es nicht, denn – ich kann nicht lügen. Wie ich denke und fühle, muß ich sprechen und handeln, oder ich bin der elendeste und unglücklichste der Menschen. Ich habe Dir, als Du nach der Residenz kamst, gesagt, daß ich mich über Dein Kommen nicht freuen könne, da ich überzeugt sei, daß Dir meine Freundschaft – das Einzige, was ich aus dem Schiffbruch meines Glücks gerettet habe – nicht genügen werde. Ein Herz, wie das Deine, wolle Liebe. Du hast mir durch die That geantwortet; Du hast Dich in den Wirbel des politischen Lebens gestürzt; Dein Salon war der Sammelplatz aller Koryphäen unserer Partei, und sehr scharfsinnige Männer haben sich durch den Schein des Enthusiasmus, mit welchem Du auf unsre Ideen eingingst, durch den Glanz Deiner Rede blenden lassen. Ich aber kannte Dich besser, als Jene; ich wußte, daß Du in dem tiefsten Grunde Deiner stolzen Seele die Sache, für die wir kämpfen, verachtetest, und daß Du nach dem ganzen Gange Deiner Bildung und in Folge einer verhängnißvollen Eigenthümlichkeit Deiner Natur, die Dir, bei der schärfsten Erfassung des Individuellen, das Verständniß und mit dem Verständniß die Leidenschaft für die Idee verschließt, auch gar nicht anders konntest. Ein Anderer hätte sich vielleicht das Opfer, daß Du seiner Eitelkeit brachtest, gern gefallen lassen, aber ich kann die Person von der Sache, die Sache von der Person nicht trennen. Könnte mir das Individuum genügen, das in stolzer Selbstgenügsamkeit auf dem Reichthum seiner Naturbegabung ruht – ich würde mich vor Dir und nur vor Dir niederwerfen, denn Du weißt, wie Alles, was in mir von jenem selbstischen Trotz noch nicht gebrochen ist, mich gewaltsam zu Dir zieht, mir in Deinen schönen Augen die Herrlichkeit der Himmel zeigt, und mich in Deinen Armen die Seligkeit der Götter träumen läßt.«
Antonie hatte stumm und mit gesenkten Wimpern Münzer's Worten zugehört. Auch jetzt antwortete sie nicht, sondern schritt mit immer rascheren Schritten weiter, als ob sie so dem Kampfe des Stolzes und der Liebe, der in ihrem Busen tobte, entrinnen könnte.
»Vielleicht wirst Du mir sagen,« fuhr Münzer fort, »daß ich Unmögliches verlange, daß die Liebe, welche den Mann zum Weibe zieht, mit jenen Ideen nichts zu schaffen habe, – aber, was ist dann noch die Liebe? ein Nektarrausch, wenn es hoch kommt, ein Rausch, in jedem Fall – eine Angelegenheit für Götter, oder Heloten, die nicht werth ist, daß der freie Mann, der Bürger deswegen an den Säulen der allgemeinen Ordnung rüttelt. Wenn ich diese Ordnung umstoßen will, wenn ich nicht anerkennen will, daß der Irrthum einer Stunde, eines Jahres zu einem Irrthum für das ganze Leben gemacht werden müsse, weil es den Pfaffen so gefällt und die Sclaven der Gewohnheit Ja und Amen dazu sagen – dann muß ich wenigstens das Ideal in seiner Schönheit, oder die Wirklichkeit in ihrer Vollkraft für mich haben; dann muß das Weib, das ich liebe, schön sein, wie Du, und zugleich müssen in ihrem Geist die Gedanken leben, von denen die Briefe, die ich während des Sommers nach der Residenz erhielt und aus denen ich Dir Einiges mitgetheilt habe, dictirt sind.«
»Und hast Du noch immer keine Spur der Verfasserin entdeckt?«
»Nein; seit ich zurück bin, habe ich keinen mehr erhalten. Es ist, wie mit der Musik, durch deren lauteres oder leiseres Ertönen man in einer Gesellschaft die Schritte des Suchenden lenkt, und die verstummt, wenn er in die unmittelbare Nähe des zu suchenden Gegenstandes kommt. Diese Briefe zu empfangen, war mir eine süße Nothwendigkeit geworden; ich vermisse sie jetzt schmerzlich; mir ist, als habe mein guter Genius mich verlassen und als irrten meine Schritte an einem Abgrund. Ich zermartre mein Gehirn, ein Mittel zu entdecken, das mir das Geheimniß enthüllen könnte. Seltsame Ahnungen haben mein Herz durchschauert, Ahnungen, die mit Geisterhänden nach derselben Seite weisen, auf der ich schon einmal, wenn nicht mein Glück, so doch in Erfüllung meiner Pflicht Ruhe zu finden hoffte. Ich weiß nicht, was mir immer wieder diesen Gedanken zurückbringt, für den so gar nichts zu sprechen scheint. Und doch und doch! – – Laß diesen Mann der Träume, Antonie, den seine Phantasie ruhelos durch alle Himmel und Höllen trägt; halte Dich an die Wirklichkeit, die Dein Reich ist, in der Du Königin bist –«
»Und Du mein Sclave!« rief Antonie, indem sie lachend ihre Arme um Münzer schlang und ihre Lippen wiederholt auf seine Lippen preßte …
In diesem Augenblick kamen ein alter Herr und eine junge Dame an dem mit Epheu durchflochtenen Gitterthor, welches von dem breiten Parkwege auf die Landstraße führte, vorüber. Der alte Herr hatte kurz vorher gesagt, daß man durch dieses Thor die schöne Allee prächtiger Bäume hinauf einen Theil des Schlosses erblicken könne, und so waren sie denn stehen geblieben, um einen Blick durch das Gitterthor zu werfen und wenige Schritte von sich eine schöne schlanke Frauengestalt in den Armen eines hochgewachsenen Mannes zu sehen – und die Dame, die draußen an dem epheuüberrankten Gitter stand, kannte den Mann! Sie wurde sehr bleich und schwankte, wie vom Blitz getroffen, auf ihren Begleiter zurück, der sie mit einer Kraft, die man dem Greise kaum zugetraut hätte, um die Taille faßte und an dem Gitter vorüber hinter die hohe Parkmauer zog.
»Muth, Muth, mein Kind!« murmelte der alte Mann, »denke an Deine Kinder! – fasse Dich!«
»Ich bin gefaßt!« sagte die Dame, indem sie sich mit einem plötzlichen Entschluß in die Höhe richtete; »jetzt bin ich gefaßt. Komm, Onkel!« …
»Ich glaube gar, es gingen eben Leute an dem Gitter vorüber,« sagte Münzer, Antonien mit sanfter Gewalt von sich drängend.
»Bilder Deiner Phantasie, Du Mann der Träume!« sagte Antonie übermüthig; »träume, so viel Du willst, und küsse mich, so viel ich will – dann kann sich Keiner von uns beklagen.«
»Kalypso!« sagte Münzer, das herrliche Weib mit halb unwilligen und halb anbetenden Blicken betrachtend; »der alte Poet hat wunderbar Recht.«
Da ertönte rascher Hufschlag durch den Park und gleich darauf bog ein Reiter aus einem Seitenweg in die Allee und kam, als er die Beiden in der Tiefe der Allee erblickt hatte, im Galopp herangesprengt.
»Es ist Wolfgang,« sagte Münzer, »was kann er wollen? Er bringt eine Unglücksbotschaft.«
Wolfgang winkte schon aus der Ferne mit der Hand; parirte dann, als er heran war, sein Pferd.
»Was giebt's?« riefen Antonie und Münzer, wie aus einem Munde.
»Nicht viel Gutes;« erwiderte Wolfgang, ihnen vom Sattel aus die Hand reichend; – »ein Glück, daß ich Euch so schnell gefunden habe! Vor einer Stunde brachte mir ein Mann, der sich Cajus nannte, einen Zettel von Degenfeld. Hier ist der Zettel. ›Lieber W., vertrauen Sie dem Ueberbringer dieses und überlegen Sie mit ihm, was zu thun ist.‹ Der Mann Cajus erzählte mir darauf, daß Degenfeld, bei dem er seit einigen Tagen in Dienst stehe, diesen Augenblick verhaftet sei, daß ihm – dem Cajus – einer der Polizeidiener, der von früher her sein guter Freund, zugeraunt habe: auch der Herr aus Mainstadt sei vor einer halben Stunde in seinem Hotel verhaftet; demnächst werde Dich, Münzer, die Reihe treffen. Du seiest indessen schon heute Morgen nach Rheineck gefahren, und müßtest Nachricht haben, damit Du nicht in die Falle zurückkämest. Wie Dir die Nachricht zu bringen sei? Ich erbot mich sogleich – und Cajus stimmte nach einigem Bedenken bei – herauszureiten. Nachbar Köbes' Brauner, wußte ich aus Erfahrung, würde sich als das wackere Pferd zeigen, das er in Wirklichkeit ist – und da bin ich nun.«
Wolfgang war bei den letzten Worten abgestiegen und schritt, das dampfende Pferd am Zügel führend, neben Antonie und Münzer dem Hause zu. Antonie blickte ängstlich in Münzer's Gesicht; Münzer sah nachdenklich zur Erde.
»Weißt Du, Wolfgang,« sagte er, daß Du Dich einer nicht geringen Gefahr aussetzest? Der Ritt kann Dich Deine Epauletten kosten.«
»Da würde mir ja nur eine schwere Last von den Schultern genommen werden,« sagte Wolfgang lächelnd. »Aber im Ernst, Münzer, ich glaube, die Gefahr ist für mich nicht allzugroß. Ein Spazierritt aus den Thoren ist unverfänglich, und ich werde die Vorsicht brauchen, zu einem andern Thore wieder hineinzureiten. Uebrigens kommt es auch vorläufig nur darauf an, wie wir Dich vor der Gefahr, die Dich bedroht, retten. Ich habe schon gedacht, daß, wenn wir so schnell als möglich die Eisenbahn zu erreichen suchen, Dich meine Begleitung am sichersten vor einem etwaigen unangenehmen Rencontre auf der Station schützen würde. Du hast dann immer einen Vorsprung, kannst aussteigen, wo Du willst und einen Weg einschlagen, auf dem Dich Niemand sucht.«
»Warum soll er nicht hier bleiben?« sagte Antonie, ihren Arm in Münzer's Arm legend; »Sie sind hier sicherer, Münzer, als irgendwo sonst.«
»Ich bezweifle das sehr, gnädige Frau,« sagte Münzer, »im Gegentheil: die Erfahrungen von heute Morgen zeigen, daß unsere Annahme, hier auf Rheineck vor den Argusaugen der Polizei geschützt zu sein, leichtsinnig genug war. Es ist keine Frage, daß man so oder so von unserer projectirten Zusammenkunft unterrichtet war und daß man nur, um sicherer zu gehen, die Verhaftungen nicht hier an Ort und Stelle vorgenommen hat. Aber auch Dein Plan, lieber Wolfgang, ist nicht ausführbar. Meine Flucht würde mich und, was schlimmer ist, die Anderen unrettbar verderben. Man würde darin einfach einen Beweis der Schuld sehen; monatelange Untersuchungshaft wäre die unausbleibliche Folge, und die führerlose Partei würde die Waffen strecken. Kehre ich zurück und lasse mich verhaften, so müssen sie uns Alle in wenigen Tagen wieder frei geben und sich noch obenein für ihre Dummheit entschuldigen. Den aus Mainstadt können sie so nicht halten. Rheinstadt ist kein Wien und der Graf Hinkel kein Windischgrätz. Degenfeld ist noch zu kurze Zeit in das Vertrauen gezogen, er hat nichts in Händen, was ihn compromittiren könnte; und was mich anbetrifft: ich bin auf einen solchen Fall längst vorbereitet. Man findet bei mir nichts, was nicht in ein Album für junge Damen in der Pension gedruckt werden könnte. Mit einem Wort: hier ist keine Wahl. Wolfgang besteigt seinen Braunen wieder und reitet, so schnell er kann, nach Hause. Die gnädige Frau läßt anspannen und mich bis vor das Thor fahren; ich passire dann als unschuldiger Spaziergänger die Thorwache, habe Gelegenheit, noch mit Cajus und den Andern Rücksprache zu nehmen und dann können sie mich meinetwegen verhaften.«
Antonie wollte anfänglich von diesem Plane durchaus nichts hören; sie bat, sie schmeichelte; aber Münzer blieb fest, und Wolfgang konnte nicht anders, als den Entschluß des Freundes von der Ehre und von der Klugheit gleich geboten erachten. Antonie mußte zuletzt nachgeben.
»Aber eine Bedingung!« rief sie, »ich muß mit. Hier in diesem abscheulichen Hause bleibe ich keine Minute länger, seitdem ich weiß, daß ich hier einsam wie eine Eule hausen soll. Wir, c'est à dire: Münzer und ich fahren zusammen bis nach meiner Villa vor der Stadt. Das ist unverdächtiger, als wenn Münzer vor dem Thore aussteigt. Und, unverdächtiger, oder nicht, ich will nun einmal nicht hier bleiben.«
Da Antonie sich durch nichts von ihrem Gedanken abbringen ließ, so mußten die Männer ihr schließlich nachgeben.
Eine Viertelstunde später sahen Herr und Madame Vettler von der Thür aus dem davonfahrenden Wagen nach.
»Wer war denn nur der schwarze Herr, mit dem die gnädige Frau sich so viel erzählen that?« sagte Madame Vettler nachdenklich; »aber Jesus Maria, wo willst Du denn hin, Vettler, eine Viertelstunde vor Tische?«
»Bekümmere Dich um Deine Angelegenheiten,« sagte Herr Vettler grob. »Ich frage auch nicht darnach, warum der Herr Pastor partout Alles wissen will, was hier im Hause vorgeht. Adieu; ich bin in einer halben Stunde wieder hier.«
Und Herr Vettler schlug den Weg nach dem benachbarten Kirchheim ein, dessen messingne Thurmspitze über die kahlen Bäume herüber in der hellen Mittagssonne erglänzte.