Oswald Spengler
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Oswald Spengler

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Wer ist es denn, der diese Masse der Lohnarbeiter in den großen Städten und Industriegebieten aufwiegelt, organisiert, mit Schlagworten versehen, durch eine zynische Propaganda in den Klassenhaß gegen die Mehrheit der Nation hineingetrieben hat? Es ist nicht der fleißige und gelernte Arbeiter, der »Straubinger« (Vagabund), wie er im Briefwechsel zwischen Marx und Engels voller Verachtung genannt wird. Engels spricht im Brief an Marx vom 9. Mai 1851 von dem demokratischen roten und kommunistischen Mob und schreibt am 11. Dezember 1851 an Marx: »Was ist denn noch an dem Gesindel, wenn es verlernt sich zu schlagen?« Der Handarbeiter ist nur Mittel für die privaten Ziele der Berufsrevolutionäre. Er soll sich schlagen, um ihren Haß gegen die konservativen Mächte und ihren Hunger nach Macht zu befriedigen. Wollte man nur Arbeiter als Vertreter von Arbeitern anerkennen, so würden die Bänke auf der linken Seite aller Parlamente sehr leer werden. Unter den Urhebern der theoretischen Programme und den Führern revolutionärer Aktionen ist kein einziger, der wirklich jahrelang in einer Fabrik gearbeitet hätte. Die politische Boheme Westeuropas, in welcher der Bolschewismus sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelt, setzt sich aus denselben Elementen zusammen wie die, welche den revolutionären Liberalismus seit 1770 ausgebildet hat. Ob 1848 in Paris die Februarrevolution für den »Kapitalismus« oder die Junischlachten gegen ihn erfolgten, ob »Freiheit und Gleichheit« 1789 die des Mittelstandes, 1793 und 1918 die der untersten Schichten bedeuten sollten – in Wirklichkeit waren die Ziele der Anstifter dieser Bewegungen und ihre letzten Motive genau die gleichen, und nicht anders steht es heute in Spanien und morgen vielleicht in den Vereinigten Staaten. Es ist der geistige Mob, an der Spitze die Gescheiterten aller akademischen Berufe, die geistig Unfähigen und seelisch irgendwie Gehemmten, woraus die Gangsters der liberalen und bolschewistischen Aufstände hervorgehen. Die »Diktatur des Proletariats«, das heißt ihre eigene Diktatur mit Hilfe des Proletariats, soll ihre Rache an den Glücklichen und Wohlgeratenen sein, das letzte Mittel, die kranke Eitelkeit und die gemeine Gier nach Macht zu stillen, die beide aus der Unsicherheit des Selbstgefühls hervorwachsen, der letzte Ausdruck verdorbener und fehlgeleiteter Instinkte.

Unter all diesen Juristen, Journalisten, Schulmeistern, Künstlern, Technikern pflegt man einen Typus zu übersehen, den verhängnisvollsten von allen: den gesunkenen Priester. Man vergißt den tiefen Unterschied zwischen Religion und Kirche. Religion ist das persönliche Verhältnis zu den Mächten der Umwelt, wie es sich in Weltanschauung, frommem Brauch und entsagendem Sichverhalten ausdrückt. Eine Kirche ist die Organisation einer Priesterschaft, die um ihre weltliche Macht kämpft. Sie bringt die Formen des religiösen Lebens und damit die Menschen, die an ihnen hängen, in ihre Gewalt. Sie ist deshalb die geborene Feindin aller anderen Machtgebilde, des Staates, des Standes, der Nation. Während der Perserkriege agitierte die Priesterschaft von Delphi für Xerxes und gegen die nationale Verteidigung. Cyrus konnte Babylon erobern und den letzten Chaldäerkönig Naboned stürzen, weil die Priesterschaft des Marduk mit ihm im Einverständnis war. Die altägyptische und altchinesische Geschichte sind voll von Beispielen dieser Art, und im Abendland bestand zwischen Monarchie und Kirche, Thron und Altar, Adel und Priestertum nur dann zuweilen – ein Waffenstillstand, wenn man sich von einem Bündnis gegen Dritte den größeren Vorteil versprach. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« ist der tiefe Ausspruch, der von jeder Religion gilt und den jede Kirche verrät. Aber jede Kirche verfällt mit der Tatsache ihres Daseins den Bedingungen geschichtlichen Lebens: sie denkt machtpolitisch und materiell-wirtschaftlich; sie führt Krieg auf diplomatische und militärische Art und teilt mit anderen Machtgebilden die Folgen von Jugend und Alter, Aufstieg und Verfall. Und vor allem ist sie im Hinblick auf konservative Politik und Tradition in Staat und Gesellschaft nicht ehrlich und kann es als Kirche gar nicht sein. Alle jungen Sekten sind im tiefsten Grunde staats- und besitzfeindlich, gegen Stand und Rang und für allgemeine Gleichheit eingenommen. Und die Politik altgewordener Kirchen, so konservativ sie in bezug auf sich selbst sind, ist immer in Versuchung, in bezug auf den Staat und die Gesellschaft liberal, demokratisch, sozialistisch, also einebnend und zerstörend zu werden, sobald der Kampf zwischen Tradition und Mob beginnt.

Alle Priester sind Menschen und damit wird das Schicksal der Kirche von dem menschlichen Material abhängig, aus dem sie sich in schneller Folge zusammensetzt. Selbst die strengste Auswahl – und sie ist in der Regel meisterhaft – kann nicht verhindern, daß in Zeiten des gesellschaftlichen Verfalles und revolutionären Abbaus aller alten Formen die gemeinen Instinkte und das gemeine Denken häufig und selbst herrschend werden. Es gibt in allen derartigen Zeiten einen Priesterpöbel, der die Würde und den Glauben der Kirche durch den Schmutz parteipolitischer Interessen schleift, sich mit den Mächten des Umsturzes verbündet und mit den sentimentalen Phrasen von Nächstenliebe und Schutz der Armen die Unterwelt zur Zerstörung der gesellschaftlichen Ordnung entfesseln hilft – der Ordnung, mit welcher auch die Kirche unwiderruflich und schicksalhaft verbunden ist. Eine Religion ist das, was die Seele der Gläubigen ist. Eine Kirche ist so viel wert, als das Priestermaterial wert ist, aus dem sie sich zusammensetzt.

Am Anfang der Französischen Revolution stehen neben dem Schwarm verkommener Abbés, die seit Jahren gegen Monarchie, Autorität und Stand spöttisch schrieben und redeten, der entlaufene Mönch Fouché und der abtrünnige Bischof Talleyrand, beide Königsmörder und Millionendiebe, napoleonische Herzöge und Landesverräter. Seit 1815 wird der christliche Priester immer häufiger Demokrat, Sozialist und Parteipolitiker. Das Luthertum, das kaum, und der Puritanismus, der gar keine Kirche ist, haben als solche keine destruktive Politik getrieben. Der einzelne Priester ging für sich »ins Volk« und zur Arbeiterpartei, redete in Wahlversammlungen und Parlamenten, schrieb über »soziale« Fragen und endete als Demagoge und Marxist. Der katholische Priester aber, stärker gebunden, zog die Kirche auf diesem Wege hinter sich her. Sie wurde in die Agitation der Parteien verflochten, zuerst als wirksames Mittel und zuletzt als Opfer dieser Politik. Eine katholische Gewerkschaftsbewegung mit sozialistisch-syndikalistischen Tendenzen gab es in Frankreich schon unter Napoleon III. In Deutschland entstand sie seit 1870 aus der Furcht, daß die roten Gewerkschaften die Macht über die Massen der Industriegebiete allein eroberten. Und alsbald verständigte sie sich mit diesen. Alle Arbeiterparteien sind sich ihrer Gemeinsamkeit dunkel bewußt, so sehr die Führergruppen einander hassen.

Es ist lange her, seit der weltpolitische Blick Leos XIII. Schule machte und in Deutschland ein echter Kirchenfürst wie Kardinal Kopp den Klerus regierte. Damals war die Kirche sich bewußt, eine konservative Macht zu sein, und wußte sehr genau, daß ihr Schicksal mit dem der übrigen konservativen Mächte, der staatlichen Autorität, der Monarchie, der gesellschaftlichen Ordnung und des Eigentums verbunden war, daß sie im Klassenkampf unbedingt gegen die liberalen und sozialistischen Mächte auf der »rechten« Seite stand und daß davon die Aussicht abhing, das revolutionäre Zeitalter als Macht zu überdauern. Das hat sich schnell geändert. Die seelische Disziplin ist erschüttert. Die pöbelhaften Elemente im Priestertum tyrannisieren durch ihre Tätigkeit die Kirche bis in die höchsten Stellen hinauf, und diese müssen schweigen, um ihre Ohnmacht nicht vor der Welt zu enthüllen. Die Diplomatie der Kirche, einst vornehm von oben her und über Jahrzehnte hin die Dinge taktisch beurteilend, hat in weiten Gebieten den gemeinen Methoden der Tagespolitik Platz gemacht, der parteimäßig demokratischen Agitation von unten mit ihren nichtswürdigen Kniffen und verlogenen Argumenten. Man denkt und handelt auf dem Niveau der großstädtischen Unterwelt. Man hat das überlieferte Streben nach weltlicher Macht auf den kleinen Ehrgeiz von Wahlerfolgen und Bündnissen mit anderen Pöbelparteien zum Zweck materieller Erfolge reduziert. Der Mob in der Priesterschaft, einst streng gezügelt, führt heute mit seinem proletarischen Denken die Herrschaft über den wertvollen Teil des Klerus, welcher die Seele des Menschen für wichtiger hält als seine Wahlstimme und metaphysische Fragen ernster nimmt als demagogische Eingriffe in das Wirtschaftsleben. Taktische Fehler wie in Spanien, wo man sich einbildete, das Schicksal von Thron und Altar trennen zu können, wären vor einigen Jahrzehnten nicht gemacht worden. Aber seit dem Ende des Weltkrieges sank vor allem in Deutschland die Kirche, die eine alte Macht mit alten und starren Traditionen ist und als solche das Niedersteigen zur Gasse mit dem Ansehen unter den eignen Gläubigen teuer bezahlen muß, durch die Agitation minderwertiger Anhänger zum Klassenkampf und zur Gemeinschaft mit dem Marxismus herab. Es gibt in Deutschland einen katholischen Bolschewismus, der gefährlicher ist als der antichristliche, weil er sich hinter der Maske einer Religion versteckt.

Nun sind alle kommunistischen Systeme des Abendlandes tatsächlich aus christlich-theologischem Denken erwachsen. Morus' Utopia, der Sonnenstaat des Dominikaners Campanella, die Lehren der Lutherschüler Karlstadt und Thomas Münzer und der Staatssozialismus Fichtes. Was Fourier, Saint Simon, Owen, Marx und hundert andere an Zukunftsidealen zusammenträumten und -schrieben, geht sehr wider Wissen und Willen auf priesterlich-moralische Entrüstung und auf scholastische Begriffe zurück, die im nationalökonomischen Denken und in der öffentlichen Meinung über Gesellschaftsfragen in aller Heimlichkeit ihr Wesen trieben. Wieviel vom Naturrecht und Staatsbegriff des Thomas von Aquino steckt noch in Adam Smith und also – mit umgekehrtem Vorzeichen – im kommunistischen Manifest! Die christliche Theologie ist die Großmutter des Bolschewismus. Alles abstrakte Grübeln über Wirtschaftsbegriffe fern von aller wirtschaftlichen Erfahrung führt, wenn es mutig und ehrlich zu Ende geführt wird, irgendwie zu Vernunftschlüssen gegen Staat und Eigentum, und nur der Mangel an Blick erspart es diesen materialistischen Scholastikern zu sehen, daß am Ende ihrer Gedankenkette wieder der Anfang steht: Der verwirklichte Kommunismus ist autoritäre Bürokratie. Um das Ideal durchzusetzen, braucht man die Diktatur, die Schreckensherrschaft, die bewaffnete Macht, die Ungleichheit von Herren und Sklaven, Befehlenden und Gehorchenden, kurz das System von Moskau. Aber es gibt zweierlei Kommunismus: den einen, gläubigen, aus doktrinärer Besessenheit oder weibischer Sentimentalität, der weltfremd und weltfeindlich den Reichtum der lasterhaft Glücklichen und zuweilen auch die Armut der braven Unglücklichen verwirft. Er endet entweder in nebelhaften Utopien oder mit dem Rückzug auf Askese, Kloster, Boheme und Landstreichertum, wo man die Belanglosigkeit alles Wirtschaftsstrebens predigt. Der andere, »weltliche«, realpolitische aber will durch seine Anhänger entweder aus Neid und Rache die Gesellschaft zertrümmern, weil sie ihnen auf Grund ihrer Persönlichkeit und ihrer Talente einen niedrigen Platz anweist, oder durch irgendein Programm die Massen hinter sich bringen, um seinen Willen zur Macht zu befriedigen. Aber auch das verbirgt sich gern hinter dem Mantel einer Religion.

Auch der Marxismus ist eine Religion, nicht in der Absicht seines Urhebers, aber in dem, was das revolutionäre Gefolge daraus gemacht hat. Er hat seine Heiligen, Apostel, Märtyrer, Kirchenväter, seine Bibel und seine Mission; er hat Dogmen, Ketzergerichte, eine Orthodoxie und Scholastik und vor allem eine volkstümliche Moral oder vielmehr zwei – gegenüber Gläubigen und Ungläubigen – wie nur irgendeine Kirche. Und daß seine Lehre durch und durch materialistisch ist – macht das einen Unterschied? Sind alle die Priester, die sich agitatorisch in Wirtschaftsfragen mischen, es weniger? Was sind denn christliche Gewerkschaften? Christlicher Bolschewismus, nichts anderes. Seit dem Beginn des rationalistischen Zeitalters, seit 1750 also, gibt es Materialismus mit und ohne christliche Terminologie. Sobald man die Begriffe Armut, Hunger, Elend, Arbeit und Lohn zusammenwirft – mit dem moralischen Unterton in den Worten reich und arm, recht und unrecht – und daraufhin für soziale und wirtschaftliche Forderungen proletarischer Art, für Geldforderungen also eintritt, ist man Materialist. Und dann tritt mit innerer Notwendigkeit an Stelle des Hochaltars das Parteisekretariat, an Stelle des Opferstockes die Wahlkasse, und der Gewerkschaftsbeamte wird der Nachfolger des heiligen Franz.

Dieser Materialismus der späten großen Städte ist eine Form des praktischen Urteilens und Handelns, mag daneben der »Glaube« sein wie er will. Es ist die Art, die Geschichte, das öffentliche und das eigene Leben »wirtschaftlich« zu sehen und unter Wirtschaft nicht den Lebensberuf und Lebensinhalt zu verstehen, sondern die Methode, mit wenig Anstrengung soviel Geld und Genuß als möglich zu erbeuten: panem et circenses . Den meisten kommt es heute gar nicht zum Bewußtsein, wie materialistisch sie denken und sind. Man kann eifrig beten und beichten und beständig das Wort »Gott« im Munde führen, man kann sogar Priester von Beruf und Überzeugung und trotzdem Materialist sein. Die christliche Moral ist wie jede Moral Entsagung und nichts anderes. Wer das nicht empfindet, ist Materialist. »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« – das heißt, diesen harten Sinn des Lebens nicht als Elend empfinden und nicht durch Parteipolitik zu umgehen suchen.

Aber für proletarische Wahlpropaganda ist der Satz allerdings nicht brauchbar. Der Materialist will lieber das Brot essen, das andere im Schweiße ihres Angesichts erarbeitet haben, der Bauer, der Handwerker, der Erfinder, der Wirtschaftsführer. Indessen das berühmte Nadelöhr, durch das manches Kamel hindurchgeht, ist nicht nur für den »Reichen« zu eng, sondern auch für den, der durch Streik, Sabotage und Wahlen Lohnsteigerungen und Arbeitszeitverkürzungen erpreßt, und auch für den, der diese Tätigkeit um seiner Macht willen leitet. Es ist die Nützlichkeitsmoral von Sklavenseelen: Sklaven nicht nur durch die Lebenslage – das sind wir alle ohne Ausnahme durch das Schicksal unserer Geburt in eine Zeit und an einen Ort – sondern durch die gemeine Art, die Welt von unten zu sehen. Ob man das Reichsein beneidet oder geringschätzt, ob man den, der sich auf Grund persönlicher Vorzüge zu einem Führerrang hinaufgearbeitet hat – etwa ein Schlosserlehrling zum Erfinder und Besitzer einer Fabrik –, anerkennt oder haßt und hinabziehen möchte, darauf kommt es an. Aber dieser Materialismus, dem Entsagen unverständlich und lächerlich bleibt, ist nichts als Egoismus, von einzelnen oder Klassen, der parasitische Egoismus der Minderwertigen, die das Wirtschaftsleben der anderen und der Gesamtheit als Objekt betrachten, aus dem man mit möglichst geringer Anstrengung möglichst viel Lebensgenuß – panem et circenses – saugt. Hier wird die persönliche Überlegenheit, der Fleiß, der Erfolg, die Freude an der Leistung als böse, als Sünde und Verrat betrachtet. Es ist die Moral des Klassenkampfes, die das alles unter der Bezeichnung Kapitalismus, die von Anfang an moralisch gemeint war, zusammenfaßt und dem Haß des Proletariers als Ziel bezeichnet, wie sie auf der anderen Seite versucht, die Lohnempfänger mit der Unterwelt der großen Städte zu einer politischen Front zu verschmelzen.

Nur »der Arbeiter« darf und soll Egoist sein, nicht etwa der Bauer oder Handwerker. Er allein hat Rechte statt Pflichten. Die anderen haben nur Pflichten und kein Recht. Er ist der privilegierte Stand, dem die anderen mit ihrer Arbeit zu dienen haben. Das Wirtschaftsleben der Nationen ist um seinetwillen da und muß allein mit Rücksicht auf sein Behagen organisiert werden, ob es dabei zugrunde geht oder nicht. Das ist die Weltanschauung, welche die Klasse der Volksvertreter aus der akademischen Hefe, vom Literaten und Professor bis zum Priester, entwickelt hat und durch die sie die unteren Schichten der Gesellschaft demoralisiert, um sie für ihren Haß und ihren Hunger nach Macht mobil zu machen. Deshalb sind Marx gegenüber vornehm und konservativ denkende Sozialisten wie Lassalle, der Anhänger der Monarchie, und Georges Sorel, der die Verteidigung von Vaterland, Familie und Eigentum als vornehmste Aufgabe des Proletariats betrachtete und von dem Mussolini gesagt hat, daß er ihm mehr verdanke als Nietzsche, unbequem und werden nie mit ihrer wahren Meinung zitiert. Unter den vielen Arten des theoretischen Sozialismus oder Kommunismus hat naturgemäß die gemeinste und in ihren letzten Absichten unehrlichste gesiegt, die, welche am rücksichtslosesten daraufhin entworfen war, den Berufsrevolutionären die Macht über die Massen zu verschaffen. Ob wir sie Marxismus nennen oder nicht, ist gleichgültig. Welche Theorie die revolutionären Schlagworte für die Propaganda liefert, oder hinter welchen nichtrevolutionären Weltanschauungen sie sich verbirgt, ist ebenso gleichgültig. Es kommt nur auf das praktische Denken und Wollen an. Wer gemein ist, gemein denkt, gemein fühlt und handelt, wird nicht anders dadurch, daß er sich ein Priestergewand auf den Leib zieht oder nationale Fahnen schwenkt. Wer irgendwo in der Welt heute Gewerkschaften oder Arbeiterparteien gründet oder führt, unterliegt beinahe mit Notwendigkeit sehr bald der marxistischen Ideologie, die unter dem Sammelbegriff Kapitalismus jede politische und wirtschaftliche Führung, die Gesellschaftsordnung, die Autorität und das Eigentum verleumdet und verfolgt. Er findet alsbald in seiner Gefolgschaft die schon zur Tradition gewordene Auffassung des Wirtschaftslebens als Klassenkampf und wird dadurch von ihr abhängig, wenn er Führer bleiben will. Der proletarische Egoismus ist nun einmal in seinen Zielen und Mitteln die Form, in welcher die »weiße« Weltrevolution sich seit fast einem Jahrhundert vollzieht, und es macht wenig aus, ob sie sich eine soziale oder sozialistische Bewegung nennt und ob ihre Führer mit Betonung Christen sein wollen oder nicht.

Die Blütezeit der weltverbessernden Theorien füllt das erste, aufsteigende Jahrhundert des Rationalismus aus, vom Contrat social (1762) bis zum kommunistischen Manifest (1848). Damals glaubte man wie Sokrates und die Sophisten an die Allmacht des menschlichen Verstandes und seine Fähigkeit, über Schicksal und Instinkte Gewalt zu haben und das geschichtliche Leben ordnen und leiten zu können. Sogar in das Linnésche System zog der Mensch damals als homo sapiens ein. Man vergaß die Bestie im Menschen, die ihr Dasein 1792 wieder nachdrücklich in Erinnerung brachte. Man war nie weiter entfernt von der Skepsis des echten Kenners der Geschichte und der wirklichen Weisen aller Zeiten, die wußten, daß »der Mensch böse ist von Jugend auf«. Man hoffte die Völker zum Zweck ihrer endgültigen Seligkeit nach doktrinären Programmen organisieren zu können. Die Leser wenigstens haben daran geglaubt, inwieweit die Schreiber solcher materialistischen Utopien, ist eine andere Frage.

Aber seit 1848 ist das zu Ende. Das System von Marx ist auch darum das wirksamste geworden, weil es das letzte war. Wer heute politische oder wirtschaftliche Programme zur Rettung der »Menschheit« entwirft, ist altmodisch und langweilig. Er beginnt lächerlich zu werden. Aber die agitatorische Wirkung solcher Theorien auf Dummköpfe – die Lenin auf 95 % aller Menschen schätzte – ist noch immer stark (sie nimmt in England und Amerika sogar zu), mit Ausnahme von Moskau, wo man nur zu politischen Zwecken daran zu glauben vorgibt.

Die klassische Nationalökonomie von 1770 und die ebenso alte materialistische, das heißt »wirtschaftliche« Geschichtsauffassung, die beide das Schicksal von Jahrtausenden auf die Begriffe Markt, Preis und Ware zurückführen, gehören im tiefsten Grunde dazu. Sie sind innerlich verwandt und vielfach identisch und führen mit Notwendigkeit zu Träumen von einem Dritten Reich, das der Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts irgendwie als Ende der Geschichte angestrebt hat. Es war die materialistische Travestie des Gedankens großer gotischer Christen wie des Joachim von Floris vom Dritten Reich. Es sollte nun die endgültige Seligkeit auf Erden begründen, das Schlaraffenland aller Armen und Elenden, die man mit steigendem Nachdruck mit »dem Arbeiter« identifizierte. Es sollte das Ende aller Sorge, das süße Nichtstun, den ewigen Frieden bringen, und der Klassenkampf mit der Abschaffung des Eigentums, der »Brechung der Zinsknechtschaft«, dem Staatssozialismus und der Vernichtung aller Herren und Reichen sollte dazu den Weg bahnen. Es war der siegreiche Egoismus der Klasse, als »Wohl der Menschheit« bezeichnet und moralisch in den Himmel erhoben.

Das Ideal des Klassenkampfes erscheint zuerst in der berühmten Propagandaschrift des Abbé Sieyès – wieder ein katholischer Priester! – von 1789 über den tiers état, der die beiden höheren Stände einebnen sollte. Es entwickelt sich von dieser frührevolutionären liberalen Fassung folgerichtig zu der bolschewistischen Spätform von 1848, welche den Kampf vom politischen auf das wirtschaftliche Gebiet verlegt, nicht der Wirtschaft wegen, sondern um durch ihre Zerstörung das politische Ziel zu erreichen. Wenn hier von »bürgerlichen« Ideologen ein Unterschied von Idealismus und Materialismus gefunden wird, so sehen sie nicht über den Vordergrund der Schlagworte in die Tiefe der letzten Ziele hinein, die hier wie dort durchaus die gleichen sind. Alle Klassenkampftheorien sind zum Zweck der Mobilmachung großstädtischer Massen entworfen worden. Die »Klasse« sollte erst geschaffen werden, mit der sich kämpfen ließ. Das Ziel wurde 1848, wo man die ersten Erfahrungen von Revolutionen hinter sich hatte, als Diktatur des Proletariats bezeichnet, und hätte dort Diktatur der Bourgeoisie genannt werden können, denn der Liberalismus will nichts anderes sein. Das ist der letzte Sinn der Verfassungen, Republiken und des Parlamentarismus. Aber in Wirklichkeit war jedesmal die Diktatur der Demagogen gemeint, welche die Nationen mit Hilfe der planmäßig demoralisierten Masse zum Teil aus Rache vernichten, zum Teil aus Hunger nach Macht als Sklaven unter sich sehen wollten.

Jedes Ideal stammt von einem, der es nötig hat. Das Ideal des liberalen wie des bolschewistischen Klassenkampfes ist die Schöpfung von Leuten, die entweder ohne Erfolg in eine höhere Gesellschaftsschicht strebten oder die sich in einer befanden, deren ethischen Ansprüchen sie nicht gewachsen waren. Marx ist ein gescheiterter Bürger – daher sein Haß gegen das Bürgertum. Und dasselbe gilt von all den anderen Juristen, Literaten, Professoren und Priestern: sie hatten einen Beruf gewählt, zu dem sie nicht berufen waren. Das ist die seelische Voraussetzung des Berufsrevolutionärs.

Das Ideal des Klassenkampfes ist der berühmte Umsturz: nicht der Aufbau von etwas Neuem, sondern die Zerstörung von Vorhandenem. Es ist ein Ziel ohne Zukunft. Es ist der Wille zum Nichts. Die utopischen Programme sind nur für die seelische Bestechung der Massen da. Ernstgemeint ist ausschließlich der Zweck der Bestechung, die Schaffung der Klasse als Kampftruppe durch planmäßige Demoralisation. Nichts schmiedet besser zusammen als der Haß. Aber man sollte hier lieber von Klassenneid als Klassenhaß reden. Im Haß liegt stillschweigend die Anerkennung des Gegners. Der Neid ist der schiefe Blick von unten hinauf zu etwas Höherem, das unverstanden und unerreichbar bleibt und das man deshalb herabziehen, zu seinesgleichen machen, beschmutzen und verachten möchte. Zum Wunschbild der proletarischen Zukunft gehört deshalb nicht nur das Glück der meisten, das im vergnüglichen Nichtstun besteht – noch einmal: panem et circenses! –, und der ewige Friede, um es frei von aller Sorge und Verantwortung zu genießen, sondern mit echt revolutionärem Geschmack vor allem das Unglück der »wenigen«, der ehemals Mächtigen, Klugen, Vornehmen und Reichen, an dessen Anblick man sich weidet. Jede Revolution beweist es. Daß die Lakaien von gestern an der Tafel des Herrn schwelgen, ist nur ein halber Genuß: der Herr muß ihnen dabei aufwarten.

Das Objekt des Klassenkampfes, das um 1789 »die Tyrannen« waren – die Könige, »Junker« und »Pfaffen« –, wurde um 1850 mit der Verlegung des politischen Kampfes auf wirtschaftliches Gebiet »der Kapitalismus«. Es ist ein hoffnungsloser Versuch, dies Schlagwort – denn das ist es – definieren zu wollen. Es stammt gar nicht aus wirtschaftlicher Erfahrung, sondern ist moralisch gemeint, um nicht zu sagen halb christlich. Es soll den Inbegriff des wirtschaftlich Bösen bezeichnen, die große Sünde der Überlegenheit, den Teufel, der sich in Wirtschaftserfolge verkleidet hat. Es ist, sogar in gewissen bürgerlichen Kreisen, ein Schimpfwort für alle geworden, die man nicht leiden mag, alles was Rang hat, den erfolgreichen Unternehmer und Kaufmann so gut wie den Richter, Offizier und Gelehrten, sogar die Bauern. Es bedeutet alles, was nicht »Arbeiter« und Arbeiterführer ist, alle, die nicht auf Grund geringer Talente schlecht weggekommen sind. Es faßt alle Starken und Gesunden zusammen in den Augen aller Unzufriedenen, allen seelischen Pöbels.

»Der Kapitalismus« ist überhaupt keine Form der Wirtschaft oder »bürgerliche« Methode, Geld zu machen. Er ist eine Art, die Dinge zu sehen. Es gibt Nationalökonomen, die ihn in der Zeit Karls des Großen und in urzeitlichen Dörfern gefunden haben. Die Nationalökonomie seit 1770 betrachtet das Wirtschaftsleben, das in Wirklichkeit eine Seite des geschichtlichen Daseins der Völker ist, vom Standpunkt des englischen Händlers aus. Die englische Nation war wirklich damals im Begriff, den Welthandel zu ihrem Monopol zu machen. Daher ihr Ruf als Krämervolk, als Masse von shopkeepers . Der Händler ist aber nur Vermittler. Er setzt das Wirtschaftsleben selbst voraus, indem er seine Tätigkeit zu dessen Schwerpunkt zu machen sucht, von dem alle anderen Menschen in der Rolle von Erzeugern und Verbrauchern abhängig sind. Diese Machtstellung hat Adam Smith beschrieben. Das ist seine »Wissenschaft«. Deshalb geht die Nationalökonomie bis zum heutigen Tage vom Begriff des Preises aus und sieht statt des wirtschaftlichen Lebens und tätiger Menschen nur Waren und Märkte. Deshalb wird von nun ab, vor allem von der sozialistischen Theorie, die Arbeit als Ware und der Lohn als Preis betrachtet. In diesem System hat weder die Führerarbeit des Unternehmers und Erfinders noch die Bauernarbeit Platz. Man sieht nur Fabrikwaren und Hafer oder Schweine. Es dauert nicht lange und man hat den Bauern und Handwerker ganz vergessen und denkt wie Marx bei der Zerlegung der Menschen in Klassen nur noch an den Lohnarbeiter und – die andern, die »Ausbeuter«.

So entsteht die künstliche Zweiteilung der »Menschheit« in Erzeuger und Abnehmer, die sich unter den Händen der Klassenkampftheoretiker in den perfiden Gegensatz von Kapitalisten und Proletariern, von Bourgeoisie und Arbeiterschaft, von Ausbeutern und Ausgebeuteten verwandelt hat. Den Händler aber, den eigentlichen »Kapitalisten«, hat man verschwiegen. Der Fabrikbesitzer und der Landwirt ist der sichtbare Feind, weil er die Lohnarbeit entgegennimmt und den Lohn zahlt. Das ist sinnlos, aber wirksam. Die Dummheit einer Theorie war nie ein Hindernis für ihre Wirkung. Es handelt sich beim Urheber eines Systems um Kritik, beim Gläubigen immer um das Gegenteil.

»Kapitalismus« und »Sozialismus« sind gleich alt, im Innersten verwandt, aus derselben Betrachtungsweise hervorgegangen und mit denselben Tendenzen belastet. Der Sozialismus ist nichts als der Kapitalismus der Unterklasse. Die freihändlerische Manchesterlehre Cobdens und das kommunistische System von Marx sind beide um 1840 und in England entstanden. Marx hat den freihändlerischen Kapitalismus sogar begrüßt.

Der »Kapitalismus von unten« will die Ware Lohnarbeit so teuer wie möglich verhandeln, ohne Rücksicht auf die Kaufkraft des Abnehmers, und so gering wie möglich liefern. Daher der Haß sozialistischer Parteien gegen die Qualitäts- und Akkordarbeit und ihr Streben, die »aristokratische« Lohnspanne zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern möglichst zu beseitigen. Er will durch den Streik – der erste Generalstreik fand 1841 in England statt – den Preis der Handarbeit in die Höhe treiben und ihn endlich durch Enteignung der Fabriken und Bergwerke von der dann den Staat beherrschenden Bürokratie der Arbeiterführer frei bestimmen lassen. Denn das ist der geheime Sinn der Verstaatlichung. Der »Kapitalismus von unten« bezeichnet den erarbeiteten Besitz der Begabten und Überlegenen als Diebstahl, um ihn sich durch die größere Zahl der Fäuste ohne Arbeit aneignen zu können. So entsteht die Theorie vom Klassenkampf, der wirtschaftlich gestaltet und politisch gemeint war, jenes auf die Stimmung der Arbeiter, dieses auf den Vorteil der Arbeiterführer berechnet. Es war ein Zweck ohne Dauer. Niedrige Geister können gar nicht über den morgigen Tag in die Ferne der Zeiten blicken und für diese handeln. Der Klassenkampf sollte Zerstörung bringen und nichts anderes. Er sollte die Mächte der Tradition, der politischen wie der wirtschaftlichen, aus dem Wege räumen, um den Mächten der Unterwelt die ersehnte Rache und die Herrschaft zu geben. Was jenseits des Sieges kommt, wenn der Klassenkampf längst Vergangenheit ist, daran haben diese Kreise nie einen Gedanken verschwendet.

So beginnt seit 1840 ein vernichtender Angriff auf das wirkliche, unendlich verwickelte Wirtschaftsleben der weißen Völker von zwei Seiten her: die Gilde der Geldhändler und Spekulanten, die Hochfinanz, durchdringt es mit Hilfe der Aktie, des Kredits, der Aufsichtsräte, und macht die Führerarbeit des fachmännischen Unternehmertums, in dem sich sehr viele ehemalige Handarbeiter befinden, die sich durch Fleiß und Genie hinaufgearbeitet haben, von ihren Absichten und Interessen abhängig. Der eigentliche Wirtschaftsführer sinkt zum Sklaven des Finanzmannes herab. Er arbeitet am Gedeihen einer Fabrik, während sie im selben Augenblick vielleicht durch eine Börsenspekulation, von der er nichts weiß, ruiniert wird. Und von unten zerstört die Gewerkschaft der Arbeiterführer langsam und sicher den Organismus der Wirtschaft. Die theoretische Waffe der einen ist die gelehrte, »liberale« Nationalökonomie, welche die öffentliche Meinung über Wirtschaftsfragen formt und sich beratend und bestimmend in die Gesetzgebung mischt, die der anderen das kommunistische Manifest, mit dessen Grundsätzen von der linken Seite aller Parlamente aus ebenfalls in die Gesetzgebung eingegriffen wird. Und beide vertreten das Prinzip der »Internationale«, das rein nihilistisch und negativ ist: Es richtet sich gegen die geschichtlichen, grenzsetzenden Formen – jede Form, jede Gestalt ist Begrenzung – der Nation, des Staates, der nationalen Wirtschaften, deren Summe nur die »Weltwirtschaft« ist. Sie sind den Absichten der Hochfinanz wie der Berufsrevolutionäre im Wege. Deshalb werden sie verneint und sollen vernichtet werden.

Aber beide Arten von Theorie sind heute veraltet. Was gesagt werden konnte, ist längst gesagt worden, und beide haben sich seit 1918 durch ihre Voraussagen – in der Richtung auf New York oder auf Moskau – so bloßgestellt, daß man sie nur noch zitiert, ohne daran zu glauben. Die Weltrevolution hat in ihrem Schatten begonnen. Sie ist heute vielleicht auf ihrer Höhe angelangt, aber noch lange nicht zu Ende, indessen sie nimmt Formen an, die frei von allem theoretischen Gerede sind.


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