Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Damit sind die Voraussetzungen gewonnen, um die »weiße« Revolution in ihrem vollen Umfang, ihren Zielen, ihrer Dauer und ihrer logischen Entwicklung zu zeichnen, was bisher niemand gewagt hat und was vielleicht auch nicht möglich war, bevor sie mit den Folgen des ersten Weltkrieges in die entscheidenden Jahrzehnte trat. Die Skepsis, die Voraussetzung des historischen Blicks, des Untersichsehens der Geschichte – wie die Menschenverachtung die notwendige Voraussetzung tiefer Menschenkenntnis ist – steht nicht am Anfang der Dinge.
Diese Revolution beginnt nicht mit dem materialistischen Sozialismus des 19. Jahrhunderts und noch viel weniger mit dem Bolschewismus von 1917. Sie ist seit der Mitte des 18. Jahrhunderts »in Permanenz«, um eine ihrer geläufigen Phrasen zu gebrauchen. Damals begann die rationalistische Kritik, die sich stolz Philosophie der Aufklärung nannte, ihre zerstörende Tätigkeit von den theologischen Systemen des Christentums und der überlieferten Weltanschauung der Gebildeten, die nichts war als Theologie ohne den Willen zum System, den Tatsachen der Wirklichkeit, dem Staat, der Gesellschaft, zuletzt den gewachsenen Formen der Wirtschaft zuzuwenden. Sie begann die Begriffe Volk, Recht und Regierung ihres geschichtlichen Gehaltes zu entleeren und gestaltete den Unterschied von Reich und Arm ganz materialistisch zu einem moralischen Gegensatz, der mehr agitatorisch behauptet als ehrlich geglaubt wurde. Hierher gehört die Nationalökonomie, die als materialistische Wissenschaft um 1770 von A. Smith im Kreise von Hartley, Priestley, Mandeville und Bentham begründet wurde und die sich anmaßte, die Menschen als Zubehör zur wirtschaftlichen Lage zu betrachten und die Geschichte von den Begriffen Preis, Markt und Ware aus zu »erklären«. Von ihm stammt die Auffassung der Arbeit nicht als Lebensinhalt und Beruf, sondern als Ware, mit welcher der Arbeitende Handel treibt. Alle die Geschichte gestaltenden Leidenschaften und schöpferischen Züge starker Persönlichkeiten und Rassen sind vergessen, der auf Befehlen und Herrschen, auf Macht und Beute gerichtete Wille, der Erfinderdrang, der Haß, die Rache, der Stolz auf eigene Kraft und deren Erfolge und auf der anderen Seite der Neid, die Faulheit, die giftigen Gefühle der Minderwertigen. Es bleiben nur die »Gesetze« des Geldes und Preises, die in Statistiken und graphischen Kurven ihren Ausdruck finden.
Daneben beginnt der Flagellantismus der sinkenden, allzu geistreich gewordenen Gesellschaft, die zu ihrer eigenen Verhöhnung Beifall klatscht: »Figaros Hochzeit« des Herrn » de « Beaumarchais, die dem königlichen Verbot zum Trotz im Schlosse Gennevilliers vor dem grinsenden Hofadel aufgeführt wurde, die Romane des Herrn » de « Voltaire, die von London bis Petersburg in den höchsten Kreisen verschlungen worden sind, die Zeichnungen Hogarths, Gullivers Reisen und Schillers »Räuber« und »Kabale und Liebe«, die einzigen genialen Werke revolutionärer Dichtung, die es gibt, beweisen das durch ihr Publikum, das durchaus nicht den unteren Schichten angehörte. Was in den »durchgeistigten« Kreisen der hohen Gesellschaft selbst geschrieben wurde, die Briefe des Lord Chesterfield, die Maximen des Herzogs von Larochefoucauld, das Système de la nature des Barons Holbach, war außerhalb derselben schon infolge der geistreichen Diktion unverständlich, ganz abgesehen davon, daß Lesen und Schreiben nicht einmal in den mittleren Schichten allgemein verbreitet waren.
Um so besser verstanden die Berufsdemagogen der städtischen Unterwelt, die nichts gelernt hatten als Reden halten und Pamphlete schreiben, daß sich aus diesen Schriften vortreffliche Schlagworte für die Agitation unter der Masse gewinnen ließen. In England begannen die Unruhen 1762 mit dem Fall Wilkes', der wegen Beleidigung der Regierung durch die Presse verurteilt und daraufhin immer wieder ins Unterhaus gewählt wurde. In Versammlungen und bei planmäßigen Krawallen (riots) war »Wilkes und Freiheit« der Ruf, mit dem Preßfreiheit, allgemeines Wahlrecht, sogar die Republik gefordert wurden. Damals hat Marat sein erstes Pamphlet: »The chains of slavery« in England und für Engländer geschrieben (1774). Der Abfall der amerikanischen Kolonien (1776), ihre Erklärung der allgemeinen Menschenrechte und der Republik, ihre Freiheitsbäume und Tugendbündler sind letzten Endes von englischen Bewegungen dieser Jahre ausgegangen. Von 1779 an entstehen die Klubs und geheimen Gesellschaften, die das ganze Land durchsetzten, eine Revolution anstrebten und seit 1790, die Minister Fox und Sheridan an der Spitze, dem Konvent und den Jakobinern Glückwunschadressen, Briefe und Ratschläge sandten. Wäre die herrschende englische Plutokratie nicht sehr viel energischer gewesen als der feige Hof von Versailles, so wäre die Revolution in London noch früher ausgebrochen als in Paris. Die Pariser Klubs, vor allem die Feuillants und Jakobiner, sind einschließlich ihrer Programme, ihrer Verzweigung über ganz Frankreich und der Form ihrer Agitation nichts als Kopien der englischen, und diese wieder haben das französische citoyen als Anrede ihrer Mitglieder durch citizen und das neugebildete citizeness übersetzt und die Phrase Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit wie die Bezeichnung der Könige als Tyrannen übernommen. Seitdem und heute noch ist das die Form der Vorbereitung von Revolutionen geblieben. Damals entstand das »allgemeine« Verlangen nach Preß- und Versammlungsfreiheit als Mittel dafür, die Kernforderung des politischen Liberalismus, des Freiseinwollens von den ethischen Bindungen alter Kultur, ein Verlangen, das nichts weniger als allgemein war, sondern von den Schreiern und Schreibern so bezeichnet wurde, die davon leben und die privaten Zwecke dieser Freiheit erreichen wollten. Die alte Gesellschaft aber, vom esprit besessen, die »Gebildeten«, die Spießbürger des 19. Jahrhunderts, die Opfer dieser Freiheit also, erhoben sie zu einem Ideal, das jeder Kritik seiner Hintergründe entzogen blieb. Heute, wo wir nicht nur die Hoffnungen des 18., sondern auch die Folgen des 20. Jahrhunderts vor uns sehen, läßt sich endlich darüber reden. Freiheit wovon, wofür? Wer bezahlte die Presse und die Agitation? Wer verdiente daran? Diese Freiheiten haben sich überall als das herausgestellt, was sie sind: Mittel des Nihilismus zur Einebnung der Gesellschaft, Mittel der Unterwelt, um der Masse der großen Städte diejenige Meinung einzuimpfen eine eigene hat sie nicht –, die für diesen Zweck die erfolgversprechendste ist. Deshalb werden diese Freiheiten – auch das allgemeine Wahlrecht gehört dazu – in dem Augenblick wieder bekämpft, beseitigt und in ihr Gegenteil verkehrt, wo sie ihren Zweck erfüllt und ihren Nutznießern die Gewalt in die Hände gegeben haben, im jakobinischen Frankreich von 1793, im bolschewistischen Rußland und in der Gewerkschaftsrepublik Deutschland seit 1918. Wann gab es hier mehr Zeitungsverbote, 1820 oder 1920? Freiheit war immer die Freiheit derjenigen, welche die Macht erobern, nicht beseitigen wollten.
Dieser aktive Liberalismus schreitet folgerichtig vom Jakobinismus zum Bolschewismus fort. Das ist kein Gegensatz des Denkens und Wollens. Es ist die Früh- und die Spätform, Anfang und Ende einer einheitlichen Bewegung. Und zwar beginnt sie um 1770 mit sentimentalen »sozialpolitischen« Tendenzen: der Bau der Gesellschaft nach Stand und Rang soll zerstört werden; man will zur »Natur«, zur gleichförmigen Horde zurück. An Stelle des Standes soll das treten, was nicht von Stand ist, Geld und Geist, Kontor und Katheder, die Rechner und Schreiber, an Stelle des formvollen Lebens das Leben ohne Form, ohne Manieren, ohne Pflichten, ohne Distanz. Erst um 1840 geht diese sozialpolitische Tendenz in eine »wirtschaftspolitische« über. Statt gegen den Vornehmen wendet man sich gegen den Besitzenden, vom Bauern bis zum Unternehmer. Nicht mehr Gleichheit der Rechte wird den Anhängern der Bewegung versprochen, sondern das Vorrecht der Besitzlosen, nicht mehr Freiheit für alle, sondern die Diktatur des großstädtischen Proletariats, der »Arbeiterschaft«. Aber das ist kein Unterschied der Weltanschauung – die war und blieb materialistisch und utilitaristisch –, sondern einzig und allein der revolutionären Methode: Die berufsmäßige Demagogie mobilisiert einen anderen Teil der Völker für den Klassenkampf. Zuerst, um 1770, hatte man sich zögernd an die Bauern und Handwerker gewandt, in England wie in Frankreich. Die Cahiers der ländlichen und kleinstädtischen Abgeordneten von 1789, welche den »Aufschrei der Nation« darstellen sollten, waren von berufsmäßigen Schreiern verfaßt und von den Wählern zum großen Teil gar nicht begriffen worden. Diese Schichten hatten zuviel wurzelhafte Tradition, um als Mittel und Waffe unbedingt brauchbar zu sein. Ohne den Pöbel der östlichen Vororte wäre die Herrschaft des Terrors in Paris nicht möglich gewesen. Man brauchte die stets gegenwärtigen Fäuste der großen Stadt. Es ist nicht wahr, daß es sich damals um »wirtschaftliche« Nöte gehandelt hätte. Steuern und Zölle waren Hoheitsrechte. Das allgemeine Wahlrecht sollte ein Schlag gegen die Gesellschaftsordnung sein. Daher der Mißerfolg des Konvents: Bauerntum und Handwerk waren für Berufsdemagogen keine zuverlässige Gefolgschaft. Sie besaßen angeborenes Distanzgefühl. Sie hatten zuviel Instinkt und zuwenig städtische Intelligenz. Sie waren fleißig und hatten etwas gelernt; außerdem wollten sie den Hof oder die Werkstatt den Söhnen hinterlassen: Programme und Schlagworte wirkten hier nicht auf die Dauer.
Erst um 1840 fand die sich gleichförmig fortentwickelnde schreibende und redende Demagogie Westeuropas ein besseres Mittel für ihre Zwecke: die entwurzelte Masse, die sich auf der nordeuropäischen Kohle ansammelte, den Typus des Industriearbeiters. Man muß sich endlich über eine Tatsache klar werden, die im Nebel der parteipolitischen Kämpfe gründlich verborgen geblieben ist: Nicht das »wirtschaftliche Elend«, das der »Kapitalismus« über das »Proletariat« gebracht hat, führte zur Entstehung des Sozialismus, sondern die Berufsagitation hat diese »zielbewußte« Anschauung der Dinge geschaffen, wie sie vor 1789 das vollkommen falsche Bild des verelendeten Bauernstandes zeichnete und zwar lediglich deshalb, weil sie hier eine bedingungslose Gefolgschaft zu werben hoffte. Und das gebildete und halbgebildete Bürgertum hat daran geglaubt und tut es heute noch. Das Wort »Arbeiter« wurde seit 1848 mit einem Heiligenschein umgeben, ohne daß man über seinen Sinn und die Grenzen seiner Anwendung nachdachte. Und die »Arbeiterklasse«, die es in der wirtschaftlichen Struktur keines einzigen Volkes gibt – denn was haben der Bergmann, der Matrose, der Schneidergeselle, der Metallarbeiter, Kellner, Bankbeamte, Ackerknecht und Straßenkehrer miteinander zu tun? –, wird zu einer politischen Wirklichkeit, zu einer angreifenden Partei, die alle weißen Völker in zwei Fronten gespalten hat, von denen die eine ein Heer von Parteifunktionären, Massenrednern, Zeitungsschreibern und »Volksvertretern« ernähren und mit ihrem Blut für deren private Ziele einstehen muß. Das ist der Zweck ihres Daseins. Der Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus – Worte, um deren Definition sich seitdem eine ungeheure Literatur vergebens bemüht hat, denn man definiert Schlagworte nicht – ist nicht aus irgendeiner Wirklichkeit abgeleitet, sondern lediglich eine aufreizende Konstruktion. Marx hat sie in die Verhältnisse der englischen Maschinenindustrie hineingetragen, nicht herausgelesen, und selbst das war nur möglich, wenn er vom Vorhandensein aller Menschen absah, die mit Landwirtschaft, Handel, Verkehr und Verwaltung beschäftigt waren. Dies Bild der Zeit hat so wenig mit der Wirklichkeit und deren Menschen zu tun, daß sich sogar theoretisch der Süden vom Norden getrennt hat: die Grenze liegt etwa auf der Linie Lyon-Mailand. Im romanischen Süden, wo man wenig zum Leben braucht und wenig arbeitet, wo es keine Kohle und deshalb keine Großindustrie gibt, wo man rassemäßig anders denkt und fühlt, entwickelten sich die anarchistischen und syndikalistischen Tendenzen, deren Wunschbild die Auflösung der großen Volksorganismen in staatlose, kleine, sich selbst genügende Gruppen, Beduinenschwärme des Nichtstuns ist. Im Norden aber, wo der strenge Winter die strengere Arbeit fordert und sie ebenso möglich wie notwendig macht, wo zum Kampf gegen den Hunger seit Urzeiten der gegen die Kälte tritt, entstehen aus dem germanischen, auf Organisation im Großen gerichteten Willen zur Macht die Systeme des autoritären Kommunismus mit dem Endziel einer proletarischen Diktatur über die ganze Welt. Und erst weil im Laufe des 19. Jahrhunderts die Kohlenfelder dieser nördlichen Länder eine Ansammlung von Menschen und von nationalem Reichtum von einer bis dahin unerhörten Größenordnung veranlaßt haben, hat auch die Demagogie in ihnen und über ihre Grenzen hinaus eine ganz andere Stoßkraft erhalten. Die hohen Löhne des englischen, deutschen und amerikanischen Fabrikarbeiters siegten, gerade weil sie nichts weniger als »Hungerlöhne« waren, über die niedrigen der Landarbeiter im Süden, und erst infolge dieser »kapitalistischen« Überlegenheit der Parteimittel hat der Marxismus über die Theorien von Fourier und Proudhon gesiegt. Das Bauerntum wird von ihnen allen nicht mehr beachtet. Es hat als Waffe für den Klassenkampf wenig Wert, schon weil es auf dem Straßenpflaster nicht jederzeit zur Verfügung steht und weil seine Traditionen von Besitz und Arbeit den Absichten der Theorie widersprechen, und es wird deshalb von den Schlagworten des kommunistischen Programms ignoriert. Bourgeoisie und Proletariat – das prägt sich ein, und je einfältiger man ist, desto weniger bemerkt man, was alles außerhalb dieses Schemas bleibt.
Jede Demagogie gestaltet ihr Programm nach dem Teil der Nation, auf dessen Mobilmachung sie für ihre Zwecke rechnet. In Rom war es von Flaminius bis auf C. Gracchus die italische Bauernschaft, die Land haben wollte, um es zu bestellen. Daher die Aufteilung des gallischen Gebietes südlich vom Po durch den ersten und die Forderung der Aufteilung des ager publicus durch den andern. Aber Gracchus ging zugrunde, weil die Bauern, die in Masse zur Abstimmung nach Rom gewandert waren, der Ernte wegen wieder nach Hause mußten. Seitdem rechnete die Demagogie vom Schlage des Cinna und Catilina auf die Sklaven und vor allem statt auf die fleißigen Tagelöhner, wie es in den griechischen Städten seit Kleon geschehen war, auf den berufslosen Pöbel jeder Herkunft, der auf den Straßen Roms herumlungerte und gefüttert und unterhalten sein wollte: panem et circenses! Gerade weil man sich ein Jahrhundert lang um die Wette bemühte, diese Massen durch immer größeren Aufwand für sich zu gewinnen, sind sie zu einem Umfang angewachsen, der noch nach Cäsar eine ständige Gefahr für die Regierung des Weltreiches bildete. Je minderwertiger ein solches Gefolge, desto brauchbarer ist es. Und deshalb hat der Bolschewismus seit der Pariser Kommune von 1871 weit weniger auf den gelernten fleißigen und nüchternen Arbeiter zu wirken gesucht, der an seinen Beruf und seine Familie denkt, als auf das arbeitsscheue Gesindel der großen Städte, das in jedem Augenblick bereit ist zu plündern und zu morden. Deshalb haben in Deutschland von 1918 bis in die Jahre der großen Arbeitslosigkeit hinein die regierenden Gewerkschaftsparteien sich wohl gehütet, zwischen Arbeitslosen und Arbeitsscheuen einen gesetzlichen Unterschied entstehen zu lassen. Damals hat neben der Unterstützung angeblicher Arbeitslosigkeit ein Mangel an Arbeitern bestanden, vor allem auf dem Lande, und niemand wollte das ernstlich verhindern. Die Krankenkassen wurden von Tausenden mißbraucht, um der Arbeit aus dem Wege zu gehen. Die Arbeitslosigkeit ist in ihren Anfängen vom Marxismus geradezu gezüchtet worden. Der Begriff des Proletariers schließt die Freude an der Arbeit aus. Ein Arbeiter, der etwas kann und stolz auf seine Leistung ist, empfindet sich nicht als Proletarier. Er hindert die revolutionäre Bewegung. Er muß proletarisiert, demoralisiert werden, um für sie brauchbar zu sein. Das ist der eigentliche Bolschewismus, in dem diese Revolution ihren Höhepunkt, aber noch lange nicht ihren Abschluß findet.
Es kennzeichnet die Oberflächlichkeit des Denkens der gesamten »weißen« Welt, wenn dieser Bolschewismus als russische Schöpfung betrachtet wird, die Westeuropa zu erobern drohe. In Wirklichkeit ist er in Westeuropa entstanden, und zwar mit folgerichtiger Notwendigkeit als letzte Phase der liberalen Demokratie von 1770 und als letzter Triumph des politischen Rationalismus, das heißt der Anmaßung, die lebendige Geschichte durch papierne Systeme und Ideale meistern zu wollen. Sein erster Ausbruch großen Stils war nach den Junischlachten von 1848 die Pariser Kommune von 1871, die nahe daran war, ganz Frankreich zu erobern. Nur die Armee hat das verhindert – und die deutsche Politik, die diese Armee moralisch stützte. Damals, nicht 1917 in Rußland, sind aus den Tatsachen einer belagerten Hauptstadt heraus die Arbeiter- und Soldatenräte entstanden, die Marx, ein Tropf in praktischen Fragen, als mögliche Form einer kommunistischen Regierung seitdem empfohlen hat. Damals sind zuerst die massenhaften Abschlachtungen der Gegner durchgeführt worden, die Frankreich mehr Tote gekostet haben als der ganze Krieg gegen Deutschland. Damals herrschte in Wirklichkeit nicht die Arbeiterschaft, sondern das arbeitsscheue Gesindel, Deserteure, Verbrecher und Zuhälter, Literaten und Journalisten, darunter wie immer viele Ausländer, Polen, Juden, Italiener, selbst Deutsche. Aber es war eine spezifisch französische Form der Revolution. Von Marx war keine Rede, um so mehr von Proudhon, Fourier, den Jakobinern von 1792. Ein loser Bund der großen Städte, das heißt ihrer untersten Schichten, sollte das flache Land und die Kleinstädte unterwerfen und beherrschen – ein typischer Gedanke des romanischen Anarchismus. Etwas Ähnliches hatte schon 1411 der Fleischer Caboche mit dem militärisch organisierten Pöbel von Paris versucht. Das ist 1917 in Petersburg nur kopiert worden, mit einem gleichartigen »westlichen« Pöbel und mit den gleichen Schlagworten. Die »asiatische« Seite dieser russischen Revolution aber, die damals kaum in Erscheinung trat und der es auch heute noch nicht gelungen ist, die westlich-kommunistischen Formen der Sowjetherrschaft zu überwinden, hat ihren frühesten Ausdruck im Aufstand Pugatschews 1772-75 gefunden, der das ganze obere Wolgagebiet ergriff und zeitweise Moskau und damit den Zarismus bedrohte. Das religiös begeisterte Bauerntum, darunter ganze Kosakenstämme, tötete alles, was ihm von Vertretern des petrinischen, »europäisch« geformten Rußland in die Hände fiel, Offiziere, Beamte, vor allem die Adligen der neuen Art. Man hätte es ebenso mit den Vertretern der Sowjetbürokratie gemacht, und ihre Nachkommen würden es heute gern und werden es morgen vielleicht wirklich tun. Der Haß gegen diese in fremden Systemen denkende Herrschaft, gegen den sich das Moskau dieser Tage immer weniger zu verteidigen vermag, ist sehr alt und geht bis zu den Aufständen der Strelitzen gegen Peter den Großen zurück. Demokraten und Sozialisten des Westens können ihn aus ihrem Denken heraus überhaupt nicht nachfühlen. Hier tritt der Gegensatz zutage zwischen dem wirklichen Bolschewismus, der im Untergrund aller »weißen« Völker brütet und dem diese Demokratie und dieser Sozialismus selbst angehören, und dem Haß, der sich in allen farbigen Bevölkerungen der Welt gegen die weiße Zivilisation als Gesamtheit, einschließlich ihrer revolutionären Strömungen, ansammelt.
Wie aber stellt sich die »Gesellschaft« der westeuropäischen Zivilisation, die sich im heutigen England gern als Mittelklasse, auf dem Festland als Bürgertum bezeichnet – denn sie hat den Bauern ebenfalls vergessen –, seit 1770 und vor allem seit 1848 zur Tatsache dieser fortschreitenden Revolution von unten, die längst ihre liberale Vorstufe und deren von der politischen Aufklärung geforderte Freiheiten, die der Presse, Vereine, Versammlungen und des allgemeinen Wahlrechts, verachtet und verspottet, nachdem sie sie bis zu den äußersten Möglichkeiten der Zersetzung ausgenützt hat? Es ist ein Kapitel der Schmach, das hier dem künftigen Historiker zu erzählen bleibt. Aufgebaut auf den urmenschlichen Tatsachen von Herrschaft, Stand und Besitz, hat sie den nihilistischen Angriff darauf ertragen, »verstanden«, gefeiert, unterstützt. Dieser intellektuelle Selbstmord war die große Mode des vorigen Jahrhunderts.
Es muß immer wieder festgestellt werden: diese Gesellschaft, in der sich eben jetzt der Übergang von der Kultur zur Zivilisation vollzieht, ist krank, krank in ihren Instinkten und deshalb auch in ihrem Geist. Sie wehrt sich nicht. Sie findet Geschmack an ihrer Verhöhnung und Zersetzung. Sie zerfällt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts immer mehr in liberale und erst im Widerspruch, in der verzweifelten Abwehr dagegen, in konservative Kreise. Auf der einen Seite gibt es eine kleine Zahl von Menschen, die aus sicherem Instinkt für die politische Wirklichkeit sehen, was vor sich geht und wohin es geht, die zu verhindern, zu mäßigen, abzuleiten versuchen, Persönlichkeiten nach Art des Scipionenkreises in Rom, aus dessen Anschauungen heraus Polybius sein Geschichtswerk geschrieben hat: Burke, Pitt, Wellington, Disraeli in England, Metternich und Hegel, später Bismarck in Deutschland, Tocqueville in Frankreich. Sie haben die erhaltenden Mächte der alten Kultur, den Staat, die Monarchie, das Heer, das Standesbewußtsein, den Besitz, das Bauerntum zu verteidigen versucht, selbst wo sie Einwände hatten, und werden deshalb als »reaktionär« verschrien, ein Wort, das von den Liberalen erfunden worden ist und heute von ihren marxistischen Zöglingen auf sie selbst angewendet wird, seit sie die letzten Folgen ihrer Taten zu verhindern suchen: darin liegt der gepriesene Fortschritt. Auf der andern Seite befindet sich nahezu alles, was städtische Intelligenz besitzt oder sie zum mindesten als Zeichen zeitgemäßer Überlegenheit und als Macht der Zukunft bewundert – einer Zukunft, die heute schon Vergangenheit ist.
Hier wird der Journalismus zum herrschenden Ausdruck der Zeit erhoben. Es ist der kritische esprit des 18. Jahrhunderts, zum Gebrauch für geistig Mittelmäßige verdünnt und verflacht, und man vergesse nicht, daß das griechische krinein scheiden, zerlegen, zersetzen bedeutet. Drama, Lyrik, Philosophie, sogar Naturwissenschaft und Geschichtsschreibung werden Leitartikel und Feuilleton, mit einer maßlosen Tendenz gegen alles, was konservativ ist und einmal Ehrfurcht eingeflößt hat. Die Partei wird zum liberalen Ersatz für Stand und Staat, die Revolution in der Form periodischer Massenwahlkämpfe mit allen Mitteln des Geldes, des »Geistes« und selbst nach gracchischer Methode der körperlichen Gewalt zu einem verfassungsmäßigen Vorgang erhoben, das Regieren als Sinn und Aufgabe staatlichen Daseins entweder bekämpft und verhöhnt oder zu einem Parteigeschäft herabgewürdigt. Aber die Blindheit und Feigheit des Liberalismus geht weiter. Toleranz wird den zerstörenden Mächten der großstädtischen Hefe gewährt, nicht von ihnen gefordert. Mit widerlicher Sentimentalität werden russische Nihilisten und spanische Anarchisten von der »guten« Gesellschaft Westeuropas bewundert, gefeiert, von einem eleganten Salon an den anderen weitergegeben. In Paris und London, vor allem in der Schweiz wird nicht nur ihr Dasein, sondern auch ihre untergrabende Tätigkeit sorgfältig geschützt. Die liberale Presse hallt wider von Verwünschungen der Gefängnisse, in denen die Märtyrer der Freiheit schmachten, und kein Wort fällt zugunsten der zahllosen Verteidiger der staatlichen Ordnung bis zum einfachen Soldaten und Polizisten herab, die in Ausübung ihrer Pflicht in die Luft gesprengt, zu Krüppeln geschossen, abgeschlachtet worden sind.
Der Begriff des Proletariats, von sozialistischen Theoretikern mit wohlüberlegter Absicht geschaffen, wird vom Bürgertum akzeptiert. Er hat mit den tausend Arten strenger und sachkundiger Arbeit – vom Fischfang bis zum Buchdruck, vom Baumfällen bis zum Führen einer Lokomotive – in Wirklichkeit gar nichts zu tun, wird von fleißigen und gelernten Arbeitern verachtet und als Schimpf empfunden und sollte lediglich dazu dienen, diese dem großstädtischen Pöbel zum Zweck des Umsturzes der gesellschaftlichen Ordnung einzugliedern. Erst der Liberalismus, indem er ihn als feststehenden Begriff verwendete, hat ihn zum Mittelpunkt des allgemeinen politischen Denkens gemacht. Unter dem Namen Naturalismus entstand eine armselige Literatur und Malerei, welche den Schmutz zum ästhetischen Reiz und das gemeine Fühlen und Denken gemeiner Menschen zur bindenden Weltanschauung erhob. Unter »Volk« verstand man nicht mehr die gesamte Nation, sondern den Teil der städtischen Masse, der sich gegen diese Gemeinschaft auflehnte. Der Proletarier erschien als Held auf der Bühne des fortschrittlichen Spießbürgertums, und mit ihm die Dirne, der Arbeitsscheue, der Hetzer, der Verbrecher. Es gilt von nun an als modern und überlegen, die Welt von unten zu sehen, aus der Perspektive von Winkelkneipen und verrufenen Gassen. Damals, in liberalen Kreisen Westeuropas und nicht 1918 in Rußland, ist der »Proletkult« entstanden. Eine folgenschwere Einbildung, halb Lüge, halb Dummheit, beginnt sich der Köpfe von Gebildeten und Halbgebildeten zu bemächtigen: »Der Arbeiter« wird der eigentliche Mensch, das eigentliche Volk, der Sinn und das Ziel der Geschichte, der Politik, der öffentlichen Sorge. Daß alle Menschen arbeiten, daß vor allem andere mehr und wichtigere Arbeit leisten, der Erfinder, der Ingenieur, der Organisator, ist vergessen. Niemand wagt es mehr, den Rang, die Qualität einer Leistung als Maßstab ihres Wertes zu betonen. Nur die nach Stunden gemessene Zeit gilt noch als Arbeit. Und »der Arbeiter« ist zugleich der Arme und Unglückliche, der Enterbte, Hungernde, Ausgebeutete. Auf ihn allein werden die Worte Sorge und Not angewendet. Niemand denkt mehr an den Bauern wenig fruchtbarer Landstriche, seine Mißernten, die Gefahren von Hagel und Frost, die Sorge um den Verkauf seiner Erzeugnisse, an das elende Leben armer Handwerker in Gebieten mit starker Industrie, an die Tragödien kleiner Kaufleute, Hochseefischer, Erfinder, Ärzte, die in Angst und Gefahr um jeden Bissen täglichen Brotes ringen müssen und die zu Tausenden unbeachtet zugrunde gehen. »Der Arbeiter« allein findet Mitleid. Er allein wird unterstützt, versorgt, versichert. Mehr noch, er wird zum Heiligen, zum Götzen der Zeit erhoben. Die Welt dreht sich um ihn. Er ist der Mittelpunkt der Wirtschaft und das Schoßkind der Politik. Das Dasein aller ist um seinetwillen da; die Mehrheit der Nation hat ihm zu dienen. Man darf sich über den dummen und dicken Bauern, den trägen Beamten, den betrügerischen Krämer lustig machen, um vom Richter, Offizier und Unternehmer, den bevorzugten Objekten gehässiger Witze, ganz zu schweigen, aber niemand würde es wagen, über »den Arbeiter« den gleichen Hohn auszugießen. Alle anderen sind Müßiggänger, nur er nicht. Alle sind Egoisten, nur er nicht. Das gesamte Bürgertum schwingt die Weihrauchfässer vor diesem Phantom; wer auch noch so viel in seinem eigenen Leben leistet, muß vor ihm auf den Knien liegen. Sein Dasein ist über jede Kritik erhaben. Erst das Bürgertum hat diese Art der Dinge zu sehen völlig durchgesetzt, und die geschäftstüchtigen »Volksvertreter« schmarotzen von dieser Legende. Sie haben sie den Lohnarbeitern so lange erzählt, bis sie daran glaubten, bis sie sich wirklich mißhandelt und elend fühlten, bis sie jeden Maßstab für ihre Leistung und ihre Wichtigkeit verloren. Der Liberalismus gegenüber den Tendenzen der Demagogie ist die Form, in welcher die kranke Gesellschaft Selbstmord begeht. Mit dieser Perspektive gibt sie sich selbst auf. Der Klassenkampf, der gegen sie geführt wird, erbittert und erbarmungslos, findet sie zur politischen Kapitulation bereit, nachdem sie geistig die Waffen des Gegners schmieden half. Nur das konservative Element, so schwach es im 19. Jahrhundert war, kann und wird das Ende in Zukunft verhindern.