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Sind die Vereinigten Staaten eine Macht, die Zukunft hat? Flüchtige Beobachter redeten vor 1914 von unbegrenzten Möglichkeiten, nachdem sie sich ein paar Wochen lang umgesehen hatten, und die neue »Gesellschaft« Westeuropas nach 1918, aus Snob und Mob gemischt, schwärmt vom jungen, starken, uns weit überlegenen und schlechtweg vorbildlichen Amerikanertum, aber sie verwechseln Rekorde und Dollars mit der seelischen Kraft und Tiefe des Volkstums, die dazugehören, wenn man eine Macht von Dauer sein will, den Sport mit Gesundheit der Rasse und geschäftliche Intelligenz mit Geist. Was ist der »hundertprozentige« Amerikanismus? Ein nach dem unteren Durchschnitt genormtes Massedasein, eine primitive Pose oder ein Versprechen der Zukunft? Sicher ist, daß es hier bisher weder ein wirkliches Volk noch einen wirklichen Staat gibt. Können sich beide durch ein hartes Schicksal noch herausbilden oder schließt das der Typus des Kolonialmenschen aus, dessen seelische Vergangenheit anderswo lag und abgestorben ist? Der Amerikaner redet wie der Engländer nicht von Staat oder Vaterland, sondern von this country . In der Tat handelt es sich um ein unermeßliches Gebiet und um eine von Stadt zu Stadt schweifende Bevölkerung von Trappern, die in ihm auf die Dollarjagd gehen, rücksichtslos und ungebunden, denn das Gesetz ist nur für den da, der nicht schlau oder mächtig genug ist, es zu verachten.
Die Ähnlichkeit mit dem bolschewistischen Rußland ist viel größer als man denkt: Dieselbe Weite der Landschaft, die jeden erfolgreichen Angriff eines Gegners und damit das Erlebnis wirklicher nationaler Gefahr ausschließt und so den Staat entbehrlich macht, infolge davon aber auch ein echt politisches Denken nicht entstehen läßt. Das Leben ist ausschließlich wirtschaftlich gestaltet und entbehrt deshalb der Tiefe, um so mehr als ihm das Element der echten geschichtlichen Tragik, das große Schicksal fehlt, das die Seele der abendländischen Völker durch Jahrhunderte vertieft und erzogen hat. Die Religion, ursprünglich ein strenger Puritanismus, ist eine Art von pflichtgemäßer Unterhaltung geworden und der Krieg war ein neuer Sport. Und dieselbe Diktatur der öffentlichen Meinung hier und dort, ob sie nun parteimäßig oder gesellschaftlich vorgeschrieben ist, die sich auf alles erstreckt, was im Abendland dem Willen des einzelnen freigestellt ist, Flirt und Kirchgang, Schuhe und Schminke, Modetänze und Moderomane, das Denken, Essen und Vergnügen. Alles ist für alle gleich. Es gibt einen nach Körper, Kleidung und Seele genormten Typus des Amerikaners und vor allem der Amerikanerin, und wer sich dagegen auflehnt, wer das öffentlich zu kritisieren wagt, verfällt der allgemeinen Ächtung, in New York wie in Moskau. Und endlich findet sich eine fast russische Form des Staatssozialismus oder Staatskapitalismus, dargestellt durch die Masse der Trusts, die den russischen Wirtschaftsverwaltungen entsprechend Produktion und Absatz bis ins einzelne planmäßig normen und leiten. Sie sind die eigentlichen Herren des Landes, hier wie dort. Es ist der faustische Wille zur Macht, aber aus dem organisch Gewachsenen ins seelenlos Mechanische übersetzt. Der Dollarimperialismus, der ganz Amerika bis nach Santiago und Buenos Aires hin durchdringt und überall die westeuropäische, vor allem die englische Wirtschaft zu untergraben und auszuschalten sucht, gleicht mit seiner Einordnung der politischen Macht in wirtschaftliche Tendenzen genau dem bolschewistischen, und dessen Losung: »Asien den Asiaten« entspricht im wesentlichen durchaus der heutigen Auffassung der Monroedoktrin für Lateinamerika: Ganz Amerika für die Wirtschaftsmacht der Vereinigten Staaten. Das ist der letzte Sinn der Gründung »unabhängiger« Republiken wie Kuba und Panama, des Eingreifens in Nikaragua und des Sturzes unbequemer Präsidenten durch die Macht des Dollars bis nach dem äußersten Süden hin.
Aber diese staat- und gesetzlose »Freiheit« des rein wirtschaftlich gerichteten Lebens hat eine Kehrseite. Es ist aus ihm heraus eine Seemacht entstanden, die stärker zu werden beginnt als die Englands, und die zwei Ozeane beherrscht. Es sind Kolonialbesitzungen entstanden: die Philippinen, Hawaii, die Westindischen Inseln. Und man ist von geschäftlichen Interessen und durch die englische Propaganda immer tiefer in den ersten Weltkrieg bis zur militärischen Beteiligung hineingezogen worden. Damit aber sind die Vereinigten Staaten ein führendes Element der Weltpolitik geworden, ob sie es wissen und wollen oder nicht, und sie müssen nun nach innen und außen staatspolitisch denken und handeln lernen oder in ihrer heutigen Gestalt verschwinden. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Ist der »Yankee« dieser schweren Aufgabe gewachsen? Stellt er eine unzerstörbare Art des Lebens dar oder ist er nur eine Mode der leiblichen, geistigen und seelischen Kleidung? Aber wieviel Einwohner des Landes gehören diesem herrschenden angelsächsischen Typus innerlich überhaupt nicht an? Von den Negern ganz abgesehen sind in den zwanzig Jahren vor dem Kriege nur noch wenige Deutsche, Engländer und Skandinavier eingewandert, aber 15 Millionen Polen, Russen, Tschechen, Balkanslaven, Ostjuden, Griechen, Vorderasiaten, Spanier und Italiener. Sie sind zum großen Teil nicht mehr im Amerikanertum aufgegangen und bilden ein fremdartiges, andersdenkendes und sehr fruchtbares Proletariat mit dem geistigen Schwerpunkt in Chikago. Sie wollen ebenfalls den gesetzlos freien Wirtschaftskampf, aber sie fassen ihn anders auf.
Gewiß, es gibt keine kommunistische Partei. Die hat es als Organisation für Wahlzwecke auch im Zarenreich nicht gegeben. Aber es gibt hier wie dort eine mächtige Unterwelt fast Dostojewskischer Prägung mit eigenen Machtzielen, Zersetzungs- und Geschäftsmethoden, die infolge der üblichen Korruption der Verwaltungs- und Sicherheitsorgane, vor allem durch den Alkoholschmuggel, der die politische und soziale Demoralisation bis zum äußersten gesteigert hat, bis in sehr wohlhabende Schichten der Gesellschaft hinaufreicht. Sie schließt das Berufsverbrechertum ebenso ein wie die geheimen Gesellschaften von der Art des Ku-Klux-Klan. Sie umfaßt Neger und Chinesen so gut wie die entwurzelten Elemente aller europäischen Stämme und Rassen, und sie besitzt sehr wirksame, zum Teil schon alte Organisationen nach Art der italienischen Camorra, der spanischen Guerillas und der russischen Nihilisten vor und Tschekisten nach 1917. Das Lynchen, die Entführungen und Attentate, Mord, Raub und Brand sind längst erprobte Mittel der politisch-wirtschaftlichen Propaganda. Ihre Anführer nach Art der Jack Diamond und Al Capone besitzen Villen, Autos und verfügen über Bankguthaben, welche die vieler Trusts und selbst mittlerer Staaten übertreffen. In weiten, dünnbevölkerten Gebieten haben Revolutionen notwendig eine andere Form als in den Hauptstädten Westeuropas. Die lateinamerikanischen Republiken beweisen das unaufhörlich. Hier gibt es keinen starken Staat, der durch den Kampf gegen ein Heer mit alten Traditionen gestürzt werden müßte, aber auch keinen, der die bestehende Ordnung schon durch die Ehrfurcht vor seinem Dasein verbürgt. Was hier government heißt, kann sich sehr plötzlich in nichts auflösen. Schon vor dem Kriege haben die Trusts bei einem Streik oft genug ihre Werke durch eigene Befestigungen und Maschinengewehrschützen verteidigt. Es gibt im »Lande der Freiheit« nur den Entschluß freier Männer, sich selbst zu helfen – der Revolver in der Hosentasche ist eine amerikanische Erfindung –, aber er steht den Besitzenden ebenso frei wie den andern. Erst kürzlich haben die Farmer in Iowa ein paar Städte belagert und mit Aushungern bedroht, wenn ihnen ihre Produkte nicht zu einem menschenwürdigen Preis abgenommen würden. Vor wenig Jahren hätte man jeden für irrsinnig erklärt, der das Wort Revolution in Beziehung auf dies Land ausgesprochen hätte. Heute sind derartige Gedanken längst an der Tagesordnung. Was werden die Massen von Arbeitslosen tun – ich wiederhole: zum überwiegenden Teil nicht »hundertprozentige Amerikaner« –, wenn ihre Hilfsquellen vollständig erschöpft sind und es keine staatliche Unterstützung gibt, weil es keinen organisierten Staat mit genauer und ehrlicher Statistik und Kontrolle der Bedürftigen gibt? Werden sie sich der Kraft ihrer Fäuste und ihrer wirtschaftlichen Interessengemeinschaft mit der Unterwelt erinnern? Und wird die geistig primitive, nur an Geld denkende Oberschicht im Kampf mit dieser ungeheuren Gefahr auf einmal schlummernde moralische Kräfte offenbaren, die zum wirklichen Aufbau eines Staates führen und zur seelischen Bereitschaft, Gut und Blut für ihn zu opfern, statt wie bisher den Krieg als Mittel zum Geldverdienen aufzufassen? Oder werden die wirtschaftlichen Sonderinteressen einzelner Gebiete doch stärker bleiben und, wie 1861 schon einmal, zum Zerfall des Landes in einzelne Staaten führen – etwa den industriellen Nordosten, die Farmergebiete des Mittleren Westens, die Negerstaaten des Südens und das Gebiet jenseits der Rocky Mountains?
Es gibt, wenn man von Japan absieht, das lediglich den Wunsch hat, seine imperialistischen Pläne in Ostasien und nach Australien hin ungestört durchzuführen, nur eine Macht, welche alles tun und jedes Opfer bringen würde, um einen solchen Zerfall zu fördern: England. Es hat das schon einmal getan, bis dicht an eine Kriegserklärung heran: 1862-64 während des Sezessionskrieges, als für die Südstaaten in britischen Häfen Kriegs- und Kaperschiffe gebaut oder gekauft wurden, die, in europäischen Gewässern ausgerüstet und bemannt – die »Alabama« sogar mit britischen Seesoldaten –, die Handelsschiffe der Nordstaaten überall verbrannten und versenkten, wo sie sich auch trafen. Damals war England noch unbestrittene Herrin der Meere. Es war der einzige Grund, weshalb die Regierung von Washington den Krieg nicht wagte. Die »Freiheit der Meere« war die englische Freiheit des Handelns, nichts anderes.
Das ist seit 1918 zu Ende. England, im 19. Jahrhundert das Kontor der Welt, ist heute nicht mehr reich genug, um im Tempo des Flottenbaues die Spitze zu halten, und seine Macht reicht nicht mehr aus, um andere mit Gewalt an der Überflügelung zu hindern. Das Vorgefühl dieser historischen Grenze war einer der Gründe für den Krieg gegen Deutschland, und der November 1918 wahrscheinlich die letzte, allzu kurze Zeit, in der sich diese Macht von gestern die Illusion eines großen Sieges gönnen durfte. Aber abgesehen von der wachsenden Unterlegenheit im Bau von Schlachtschiffen hat sich, wie eben gezeigt wurde, der Begriff der Seebeherrschung grundlegend verändert. Neben den Unterseebooten sind die Flugzeuge eine überlegene Waffe geworden und damit das Hinterland wichtiger als Küste und Häfen. Gegenüber französischen Bombengeschwadern hat England aufgehört, strategisch eine Insel zu sein. Mit dem schweren Schlachtschiff sinkt das seebeherrschende England in die Vergangenheit.
Aber auch die englische Nation ist der Seele und Rasse nach nicht mehr stark, nicht mehr jung und gesund genug, um diese furchtbare Krise mit Zuversicht durchzukämpfen. England ist müde geworden. Es hat noch im 19. Jahrhundert zuviel wertvolles Blut für seine Besitzungen hingegeben, durch Auswanderung an die weißen Dominions, durch klimatische Verheerungen in den farbigen Kolonien. Und vor allem fehlt ihm die rassenmäßige Grundlage eines starken Bauerntums. Die seit der Normannenzeit herrschende Oberschicht aus Germanen und Kelten – es gibt keinen Unterschied dazwischen – ist aufgebraucht. Überall dringt die massenhafte Urbevölkerung, die man fälschlich Kelten nennt, mit ihrem andersgearteten, »französischen« Lebensgefühl in die herrschende Stellung ein und hat z. B. schon die alte, oligarchische Form der vornehmen parlamentarischen Regierung in die kontinentale und anarchische Art schmutziger Parteikämpfe umgewandelt. Galsworthy hat diese Tragik des Erlöschens mit tiefem schmerzlichen Verstehen in seiner Forsyte Saga geschildert. Damit siegt wirtschaftlich das Rentnerideal über den kapitalistischen Imperialismus. Man besitzt noch erhebliche Reste des einstigen Reichtums, aber der Antrieb fehlt, neuen zu erkämpfen, Industrie und Handel veralten langsam in ihren Methoden, ohne daß die schöpferische Energie da wäre, nach amerikanischem und deutschem Vorbild neue Formen zu schaffen. Die Unternehmungslust stirbt ab, und die junge Generation zeigt geistig, sittlich und in ihrer Weltanschauung einen Absturz von der Höhe, zu der die Qualität der englischen Gesellschaft im vorigen Jahrhundert hinaufgezüchtet war, der erschreckend und in der ganzen Welt ohne Beispiel ist. Der alte Appell: England expects everyman to do his duty , den vor dem Kriege jeder junge Engländer aus guter Familie in Eton und Oxford an sich persönlich gerichtet fühlte, hallt heute in den Wind. Man beschäftigt sich spielerisch mit bolschewistischen Problemen, treibt Erotik als Sport und Sport als Beruf und Inhalt des Lebens. Es sind die Leute der älteren Generation, die schon als Männer in hohen Stellungen tätig waren, als der Krieg ausbrach, welche sich in Sorge und Verzweiflung fragen, wer denn das Ideal des Greater Britain nach ihnen verteidigen soll. Bernhard Shaw hat im »Kaiser von Amerika« angedeutet, daß »einige« lieber den hoffnungslosen Kampf gegen Amerikas Übermacht durchfechten als die Waffen strecken würden, aber wie viele werden das in zehn, in zwanzig Jahren sein? Im Westminsterstatut von 1931 hat England die weißen Dominions als Commonwealth of nations sich völlig gleichgestellt. England hat auf den Vorrang verzichtet und verband sich mit diesen Staaten auf Grund gleicher Interessen, vor allem des Schutzes durch die englische Flotte. Aber morgen schon können Kanada und Australien sich ohne Sentimentalität den Vereinigten Staaten zuwenden, wenn sie dort ihre Interessen, etwa als weiße Nationen gegen das gelbe Japan, besser gewahrt sehen. Jenseits von Singapur ist die einstige Stellung Englands schon aufgegeben, und wenn Indien verloren geht, hat auch die Stellung in Ägypten und im Mittelmeer keinen eigentlichen Sinn mehr. Die englische Diplomatie alten Stils versucht vergebens, den Kontinent wie einst für englische Zwecke gegen Amerika – als Schuldnerfront – und gegen Rußland – als Front gegen den Bolschewismus – mobil zu machen. Aber das ist bereits Diplomatie von vorgestern. Sie hat 1914 ihren letzten verhängnisvollen Erfolg gehabt. Und wie, wenn sich beim letzten Aufbäumen englischen traditionsgesättigten Stolzes Rußland und Amerika verständigen? Das liegt nicht außerhalb aller Möglichkeiten.
Gegenüber solchen Erscheinungen, in denen sich das Schicksal der Welt vielleicht für Jahrhunderte dunkel und drohend zusammenballt, haben die romanischen Länder nur noch provinziale Bedeutung. Auch Frankreich, dessen Hauptstadt im Begriff ist, eine historische Sehenswürdigkeit zu werden wie Wien und Florenz, und Athen in der Römerzeit. Solange der alte Adel keltischen und germanischen Blutes, dessen Stammbäume in die Zeit von der Völkerwanderung bis zu den Kreuzzügen zurückreichten, die große Politik in Händen hatte, etwa bis auf Ludwig XIV., gab es große Ziele, wie die Kreuzzüge selbst und die Kolonialgründungen des 17. Jahrhunderts. Das französische Volk aber hat von jeher immer nur mächtig gewordene Nachbarn gehaßt, weil deren Erfolge seine Eitelkeit verletzten, die Spanier, die Engländer, vor allem die Deutschen – im habsburgischen wie im Hohenzollernstaat –, gegen die der uralte Haß seit der mißglückten »Rache für Sadowa« ins Irrsinnige wuchs. Es hat niemals in die Fernen des Raumes und der Zeit zu denken vermocht, in der Politik so wenig wie in der Philosophie, und sein Streben nach gloire immer nur durch die Einverleibung oder Verwüstung von Landstrichen an der Grenze befriedigt. Welcher echte Franzose begeistert sich im Grunde für den riesigen Besitz in Westafrika mit Ausnahme von hohen Militärs und Pariser Geldleuten? Oder gar für Hinterindien? Und was geht sie selbst Elsaß-Lothringen an, nachdem sie es »zurückerobert« haben? Mit dieser Tatsache hat es jeden Reiz für sie verloren.
Die französische Nation sondert sich immer deutlicher in zwei seelisch grundverschiedene Bestandteile. Der eine, weitaus zahlreichere ist das »girondistische« Element, der Provinzfranzose, der Schwärmer für ein Rentnerideal, der Bauer und Bourgeois. Sie wollen nichts als die Ruhe eines in Schmutz, Geiz und Stumpfheit müde und unfruchtbar gewordenen Volkstums, ein wenig Geld, Wein und »amour« , und wollen nichts mehr von großer Politik, von wirtschaftlichem Ehrgeiz, vom Kampf um bedeutende Lebensziele hören. Darüber aber liegt die langsam kleiner werdende jakobinische Schicht, die seit 1792 das Schicksal des Landes bestimmt und den Nationalismus französischer Prägung nach einer alten Lustspielfigur von 1831 auf den Namen Chauvin getauft hat. Sie setzt sich zusammen aus Offizieren, Industriellen, den höheren Beamten der von Napoleon streng zentralisierten Verwaltung, den Journalisten der Pariser Presse, den Abgeordneten ohne Unterschied der Parteien und ihrer Programme – Abgeordneter sein bedeutet in Paris ein Privat-, kein Parteigeschäft – und einigen mächtigen Organisationen wie der Loge und den Frontkämpferverbänden. Im stillen geleitet und ausgenützt wird sie seit einem Jahrhundert von der internationalen Pariser Hochfinanz, welche die Presse und die Wahlen bezahlt. Chauvinismus ist längst in weitem Umfange ein Geschäft.
Die Herrschaft dieser Oberschicht beruht heute auf der namenlosen aber echten Angst der Provinz vor irgendwelchen außenpolitischen Gefahren und vor neuer Entwertung der Ersparnisse, einer Angst, die durch die Pariser Presse und die geschickte Art, Wahlen zu machen, aufrechterhalten wird. Aber diese Stimmung ist noch auf Jahre hinaus eine Gefahr für alle Nachbarländer, England und Italien so gut wie Deutschland. Sie hat sich vor 1914 von England und Rußland für deren Ziele gebrauchen lassen und würde heute noch einem geschickten Staatsmann eines fremden Landes als Instrument zur Verfügung stehen. Die Gestalt Chauvins wächst langsam zum Gegenteil des spanischen Don Quichote empor und erregt heute schon in ihrer grandiosen Komik das Lächeln der halben Welt: Der greisenhaft gewordene Draufgänger, der nach vielen Heldentaten, mit dem größten Goldhaufen der Welt hinter sich, bis an die Zähne bewaffnet und mit allen möglichen Rüstungsstücken behängt, von schwerbewaffneten Dienern umgeben und alle Freunde von gestern zu Hilfe rufend in seinem zur Festung umgebauten Hause zitternd aus dem Fenster blickt und beim Anblick jedes kaum bewaffneten Nachbarn außer sich gerät. Das ist das Ende der grande nation . Ihr Erbe im Gebiet des Mittelmeers und Nordafrikas wird vielleicht die Schöpfung Mussolinis sein, wenn sie sich unter seiner Leitung lange genug bewährt, um die nötige seelische Festigkeit und Dauer zu gewinnen.
Von keiner dieser Mächte kann man heute sagen, ob sie um die Mitte des Jahrhunderts in ihrer heutigen Gestalt noch vorhanden ist. England kann auf seine Insel beschränkt, Amerika zerfallen sein; Japan und Frankreich, die heute allein wissen, was ein starkes Heer wert ist, können in die Hände kommunistischer Gewalthaber gefallen sein. Die künftigen Möglichkeiten Rußlands lassen sich zum Teil nicht einmal vermuten. Aber beherrscht wird die augenblickliche Lage von dem Gegensatz zwischen England und Rußland im Osten und zwischen England und Amerika im Westen. In beiden Fällen geht England wirtschaftlich, diplomatisch, militärisch und moralisch zurück, und die schon verlorenen Positionen sind zum Teil überhaupt nicht, auch nicht durch einen Krieg wieder zu gewinnen. Bedeutet das die notwendige Wahl zwischen Krieg und Kapitulation? Oder steht dem Unterliegenden nicht einmal diese Wahl mehr frei? Die meisten Angelsachsen auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans glauben sich durch Blut und Tradition fester verbunden, als daß sie hier vor eine Entscheidung gestellt werden könnten. Aber der Glaube, daß Blut dicker sei als Wasser, hat für England und Deutschland seine Probe schlecht bestanden. Der Bruderhaß ist unter Menschen immer stärker gewesen als der Haß gegen Fremde, und gerade er kann aus kleinen Anlässen plötzlich zu einer Leidenschaft wachsen, die kein Zurück mehr gestattet.
So sieht die Welt aus, von der Deutschland umgeben ist. In dieser Lage ist für eine Nation ohne Führer und Waffen, verarmt und zerrissen, nicht einmal das nackte Dasein gesichert. Wir haben Millionen in Rußland abschlachten und in China verhungern sehen, und es war für die übrige Welt nur eine Zeitungsnachricht, die man am Tage darauf vergaß. Kein Mensch würde draußen in seiner Ruhe gestört werden, wenn Schlimmeres irgendwo in Westeuropa geschähe. Man erschrickt nur vor Drohungen; mit vollendeten Tatsachen findet der Mensch sich schnell ab. Ob einzelne oder Völker sterben, sie hinterlassen keine Lücke. Angesichts dieser Lage haben wir Deutschen bisher nichts aufgebracht als den Lärm um Parteiideale und das gemeine Gezänk um die Vorteile von Berufsgruppen und Länderwinkeln. Aber der Verzicht auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen. In denselben Jahren, als Kolumbus Amerika entdeckte und Vasco da Gama den Seeweg nach Ostindien fand, als die westeuropäische Welt ihre Macht und ihren Reichtum über den Erdball zu erstrecken begann, wurde auf Antrag der englischen Kaufmannschaft der Stahlhof in London geschlossen, das letzte Zeichen einstiger hanseatischer Großmacht, und damit verschwanden deutsche Kauffahrer von den Ozeanen, weil es keine deutsche Flagge gab, die von ihren Masten wehen konnte. Damit war Deutschland ein Land geworden, zu arm für eine große Politik. Es mußte seine Kriege mit fremdem Geld und im Dienste dieses Geldes führen und führte sie um elende Fetzen eigenen Landes, die von einem Zwergstaat dem andern fortgenommen wurden. Die großen Entscheidungen in der Ferne wurden weder beachtet noch begriffen. Unter Politik verstand man etwas so Erbärmliches und Kleines, daß sich nur Menschen von sehr kleinem Charakter damit beschäftigen mochten. Soll das wiederkommen, jetzt in den entscheidenden Jahrzehnten? Sollen wir als Träumer, Schwärmer und Zänker von den Ereignissen verschlungen werden und nichts hinterlassen, was unsere Geschichte in einiger Größe vollendet? Das Würfelspiel um die Weltherrschaft hat erst begonnen. Es wird zwischen starken Menschen zu Ende gespielt werden. Sollten nicht auch Deutsche darunter sein?