Oswald Spengler
Jahre der Entscheidung
Oswald Spengler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8

In diesem Zeitalter des Übergangs, der Formlosigkeit »zwischen den Zeiten«, das wahrscheinlich noch lange nicht auf der Höhe der Verwirrung und der flüchtigen Gestaltungen angelangt ist, zeichnen sich ganz leise neue Tendenzen ab, die darüber hinaus in die fernere Zukunft deuten. Die Mächte beginnen sich zu bilden, der Form und der Lage nach, welche bestimmt sind, den Endkampf um die Herrschaft auf diesem Planeten zu führen, von denen nur eine dem Imperium mundi den Namen geben kann und wird, wenn nicht ein ungeheures Schicksal es vernichtet, bevor es vollendet war. Nationen einer neuen Art sind im Begriff zu entstehen, nicht wie sie heute noch sind: Summen gleichgeordneter Individuen von gleicher Sprache, auch nicht wie sie vormals waren, als man in der Renaissance ein Gemälde, eine Schlacht, ein Gesicht, einen Gedanken, eine Art von sittlicher Haltung und Meinung mit Sicherheit dem Stil, der Seele nach als italienisch erkannte, obwohl es einen italienischen Staat gar nicht gab. Faustische Nationen vom Ende des 20. Jahrhunderts werden Wahlverwandtschaften von Menschen mit gleichem Lebensgefühl sein, mit gleichen Imperativen eines starken Willens, selbstverständlich mit der gleichen Sprache, ohne daß die Kenntnis dieser Sprache sie bezeichnet oder abgrenzt, Menschen von starker Rasse, nicht im Sinne heutigen Rasseglaubens, sondern in meinem Sinne, der die starken Instinkte meint, zu denen auch die Überlegenheit des Blickes für die Dinge der Wirklichkeit gehört, den man heute in den großen Städten und unter Bücherschreibern nicht vom »Geist« bloßer Intelligenzen zu unterscheiden weiß, Menschen, die sich zu Herren geboren und berufen fühlen. Was kommt auf die Zahl an? Sie hat nur das vorige Jahrhundert tyrannisiert, das vor Quantitäten auf den Knien lag. Ein Mann bedeutet viel gegenüber einer Masse von Sklavenseelen, von Pazifisten und Weltverbesserern, die Ruhe um jeden Preis ersehnen, selbst um den der »Freiheit«. Es ist der Übergang vom populus Romanus der Zeit Hannibals zu den Repräsentanten des »Römertums« im 1. Jahrhundert, die wie Marius und Cicero zum Teil gar nicht »Römer« waren.

Es scheint, daß Westeuropa seine maßgebende Bedeutung verloren hat, aber von der Politik abgesehen scheint es nur so. Die Idee der faustischen Kultur ist hier erwachsen. Hier hat sie ihre Wurzeln und hier wird sie den letzten Sieg ihrer Geschichte erfechten oder rasch dahinsterben. Die Entscheidungen, wo sie auch fallen mögen, geschehen um des Abendlandes willen, seiner Seele freilich, nicht seines Geldes oder Glückes wegen. Aber einstweilen ist die Macht in die Randgebiete verlegt, nach Asien und Amerika. Dort ist es die Macht über die größte Binnenlandmasse des Erdballs, hier – in den Vereinigten Staaten und den englischen Dominions – die über die beiden durch den Panamakanal verbundenen weltgeschichtlichen Ozeane. Indessen, von den Weltmächten dieser Tage steht keine so fest, daß man mit Sicherheit sagen kann, sie werde in hundert, in fünfzig Jahren noch eine Macht, ja überhaupt noch vorhanden sein.

Was ist heute eine Macht großen Stils? Ein staatliches oder staatähnliches Gebilde, mit einer Leitung, die weltpolitische Ziele hat und der Wahrscheinlichkeit nach auch die Kraft, sie durchzusetzen, gleichviel auf was für Mittel sie sich stützt: Heere, Flotten, politische Organisationen, Kredite, mächtige Bank- oder Industriegruppen von gleichem Interesse, endlich und vor allem eine starke strategische Position auf dem Erdball. Man kann sie alle durch die Namen von Millionenstädten bezeichnen, in denen die Macht und der Geist dieser Macht gesammelt sind. Ihnen gegenüber sind ganze Länder und Völker nichts als »Provinz«.

Da ist vor allem »Moskau«, geheimnisvoll und für abendländisches Denken und Fühlen völlig unberechenbar, der entscheidende Faktor für Europa seit 1812, als es staatlich noch zu diesem gehörte, seit 1917 für die ganze Welt. Der Sieg der Bolschewisten bedeutet geschichtlich etwas ganz anderes als sozialpolitisch oder wirtschaftstheoretisch. Asien erobert Rußland zurück, nachdem »Europa« es durch Peter den Großen annektiert hatte. Der Begriff Europa verschwindet damit wieder aus dem praktischen Denken der Politiker oder sollte es tun, wenn wir Politiker von Rang hätten. Dies »Asien« aber ist eine Idee, und zwar eine Idee, die Zukunft hat. Rasse, Sprache, Volkstum, Religion in den heutigen Formen sind daneben gleichgültig. Das alles kann und wird sich grundlegend umgestalten. Was heute da ist, ist lediglich die durch Worte nicht zu bestimmende, ihrer selbst unbewußte neue Art von Leben, mit dem eine große Landschaft schwanger ist und das sich auf dem Wege der Geburt befindet. Die Zukunft definieren, festlegen, in ein Programm bringen wollen heißt das Leben mit einer Phrase darüber verwechseln, wie es der herrschende Bolschewismus tut, der sich seiner westeuropäischen, rationalistischen und großstädtischen Herkunft nicht hinreichend bewußt ist.

Die Bevölkerung dieses gewaltigsten Binnenlandes der Erde ist von außen unangreifbar. Die Weite ist eine Macht, politisch und militärisch, die noch nie überwunden worden ist; das hat schon Napoleon erfahren. Was sollte es einem Feinde nützen, wenn er noch so große Gebiete besetzt? Um auch den Versuch dazu wirkungslos zu machen, haben die Bolschewisten den Schwerpunkt ihres Systems immer weiter nach Osten verlegt. Die machtpolitisch wichtigen Industriegebiete sind sämtlich östlich von Moskau, zum großen Teil östlich vom Ural bis zum Altai hin, und südlich bis zum Kaukasus aufgebaut worden. Das ganze Gebiet westlich Moskaus, Weißrußland, die Ukraine, einst von Riga bis Odessa das lebenswichtigste des Zarenreiches, bildet heute ein phantastisches Glacis gegen »Europa« und könnte preisgegeben werden, ohne daß das System zusammenbricht. Aber damit ist jeder Gedanke an eine Offensive von Westen her sinnlos geworden. Sie würde in einen leeren Raum stoßen.

Dies Bolschewistenregiment ist kein Staat in unserem Sinne, wie es das petrinische Rußland gewesen war. Es besteht wie Kiptschak, das Reich der »goldenen Horde« in der Mongolenzeit, aus einer herrschenden Horde – kommunistische Partei genannt – mit Häuptlingen und einem allmächtigen Khan und einer etwa hundertmal so zahlreichen unterworfenen, wehrlosen Masse. Von echtem Marxismus ist da sehr wenig, außer in Namen und Programmen. In Wirklichkeit besteht ein tatarischer Absolutismus, der die Welt aufwiegelt und ausbeutet, ohne auf Grenzen zu achten, es seien denn die der Vorsicht, verschmitzt, grausam, mit dem Mord als alltäglichem Mittel der Verwaltung, jeden Augenblick vor der Möglichkeit, einen Dschingiskhan auftreten zu sehen, der Asien und Europa aufrollt.

Der echte Russe ist in seinem Lebensgefühl Nomade geblieben, ganz wie der Nordchinese, der Mandschu und Turkmene. Heimat ist ihm nicht das Dorf, sondern die endlose Ebene, das Mütterchen Rußland. Die Seele dieser unendlichen Landschaft treibt ihn zum Wandern ohne Ziel. Der »Wille« fehlt. Das germanische Lebensgefühl hat ein Ziel, das erobert werden muß, ein fernes Land, ein Problem, einen Gott, eine Macht, Ruhm oder Reichtum. Hier wandern Bauernfamilien, Handwerker und Arbeiter von einer Gegend in die andere, von Fabrik zu Fabrik, ohne Not, nur dem inneren Drange folgend. Keine Gewaltmaßnahme der Sowjets hat das hindern können, obwohl es das Entstehen eines Stammes gelernter und mit dem Werk verbundener Arbeitskräfte unmöglich macht. Schon daran scheitert der Versuch, eine Wirtschaft westeuropäischer Art ohne fremde Mitarbeit zu schaffen und zu erhalten.

Aber ist das kommunistische Programm überhaupt noch ernst gemeint, als Ideal nämlich, dem Millionen von Menschen geopfert worden sind und um dessen willen Millionen hungern und im Elend leben? Oder ist es nur ein äußerst wirksames Kampfmittel der Verteidigung gegen die unterworfene Masse, vor allem die Bauern, und des Angriffs gegen die verhaßte, nichtrussische Welt, die zersetzt werden soll, bevor man sie niederwirft? Sicher ist, daß sich tatsächlich nicht viel ändern würde, wenn man eines Tages aus Gründen der machtpolitischen Zweckmäßigkeit das kommunistische Prinzip fallen ließe. Die Namen würden anders werden; die Verwaltungszweige der Wirtschaftsorganisationen würden Konzerne heißen, die Kommissionen Aufsichtsräte, die Kommunisten selbst Aktienbesitzer. Im übrigen ist die westlich-kapitalistische Form längst vorhanden.

Aber diese Macht kann keinen Auslandskrieg führen, weder im Osten noch im Westen, außer durch Propaganda. Dazu ist das System mit seinen westeuropäisch-rationalistischen Zügen, die noch aus der literarischen Unterwelt von Petersburg stammen, viel zu künstlich. Es würde keine Niederlage überleben, da es nicht einmal einen Sieg überleben würde: Einem siegreichen General gegenüber wäre die Moskauer Bürokratie verloren. Sowjetrußland würde durch irgendein anderes Rußland abgelöst und die regierende Horde wahrscheinlich abgeschlachtet werden. Aber damit wäre nur der Bolschewismus marxistischen Stils überwunden, der nationalistisch-asiatische würde hemmungslos ins Gigantische wachsen. Aber ist die Rote Armee überhaupt zuverlässig? Ist sie brauchbar? Wie steht es mit den berufsmäßigen und sittlichen Qualitäten des »Offizierskorps«? Was bei den Paraden in Moskau gezeigt wird, sind nur die Eliteregimenter aus zuverlässigen Kommunisten, die eigentliche Leibgarde der Machthaber. Aus der Provinz hört man immer wieder von unterdrückten Verschwörungen. Und sind die Eisenbahnen, Flugzeuge, Rüstungsindustrien einer ernsthaften Inanspruchnahme überhaupt gewachsen? Sicher ist, daß das russische Verhalten in der Mandschurei und die Nichtangriffspakte im Westen den Entschluß verraten, einer militärischen Probe unter allen Umständen aus dem Wege zu gehen. Die anderen Mittel, die wirtschaftliche Vernichtung der Gegner durch den Handel und vor allem die Revolution, nicht als ideales Ziel, sondern als Waffe gedacht, wie sie 1918 von England und Frankreich gegen Deutschland angewendet wurde, sind ungefährlicher und wirksamer.

Demgegenüber hat Japan eine sehr starke Stellung. Zur See ist es fast unangreifbar wegen der Inselketten, deren schmale Durchgänge mit Minenfeldern, Unterseeboten und Flugzeugen sicher gesperrt werden können, so daß das Chinesische Meer für keine fremde Flotte erreichbar ist. Darüber hinaus hat sich Japan in der Mandschurei ein Festlandgebiet von gewaltiger wirtschaftlicher Zukunft gesichert – die Sojabohne hat heute schon die Rentabilität der Kokos- und Ölpalme in der Südsee und in Westafrika zerstört –, dessen Menschenzahl ungeheuer wächst und dessen endgültige Grenzen heute noch ganz unbestimmt sind. Der geringste Versuch der Bolschewisten, militärisch gegen diese Machtverschiebung einzuschreiten, würde zur Fortnahme von Wladiwostok, der östlichen Mongolei und wahrscheinlich Pekings führen. Die einzige praktische Gegenwirkung ist die rote Revolution in China, aber sie ist seit der Gründung der Kuomintang immer wieder an »kapitalistischen« Angriffen gescheitert, nämlich an der Bestechung der Generäle und ganzer Armeen von irgendeiner Seite. Uralte Fellachenvölker wie die Inder und Chinesen können nie wieder eine selbständige Rolle in der Welt der großen Mächte spielen. Sie können die Herren wechseln, den einen vertreiben – etwa die Engländer aus Indien –, um dem nächsten zu erliegen, aber sie werden nie mehr eine eigene innere Form des politischen Daseins hervorbringen. Dazu sind sie zu alt, zu starr, zu verbraucht. Auch die Form ihrer heutigen Auflehnung samt deren Zielen – Freiheit, Gleichheit, Parlament, Republik, Kommunismus und dergleichen – sind ohne Ausnahme von Westeuropa und Moskau importiert. Sie sind Objekte und Kampfmittel für fremde Mächte, ihre Länder Schlachtfelder für fremde Entscheidungen, aber gerade dadurch können sie eine gewaltige, wenn auch vorübergehende Bedeutung erlangen.

Ohne Zweifel haben Rußland und Japan den Blick auf die hier ruhenden Möglichkeiten gerichtet und arbeiten im stillen mit Mitteln, die der »Weiße« weder kennt noch sieht. Aber steht Japan heute noch so fest wie zur Zeit des Russischen Krieges? Damals regierte die alte, stolze, ehrenhafte und tapfere Herrenschicht der Samurai, die mit zum besten gehört, was die ganze Welt an »Rasse« besitzt. Aber heute hört man von radikalen Parteien, Streiks, bolschewistischer Propaganda und ermordeten Ministern. Ist dieser prachtvolle Staat schon über den Gipfel seines Daseins hinaus, vergiftet von den demokratisch-marxistischen Verfallsformen der weißen Völker, jetzt wo der Kampf um den Stillen Ozean eben in die entscheidende Phase tritt? Sollte es seine alte Offensivkraft noch besitzen, dann ist es in Verbindung mit der unvergleichlichen strategischen Lage zur See jeder feindlichen Kombination gewachsen. Aber wer kommt hier als Gegner ernsthaft in Betracht? Rußland sicherlich nicht, und ebensowenig irgendeine westeuropäische Macht. Nirgends kann man das Herabsinken all dieser Staaten von ihrem einstigen politischen Rang so deutlich empfinden wie hier. Vor kaum zwanzig Jahren waren Port Arthur, Weihaiwei und Kiautschou besetzt und die Aufteilung Chinas in Interessensphären westlicher Mächte im Gang. Das pazifische Problem war einmal ein europäisches. Jetzt wagt nicht einmal England mehr, den seit Jahrzehnten geplanten Ausbau von Singapur durchzuführen. Es hatte der mächtige Stützpunkt der englischen Flotte bei ostasiatischen Verwicklungen sein sollen, aber läßt es sich gegen Japan und Frankreich halten, wenn dieses den Landweg über Hinterindien freigibt? Verzichtet England aber auf seine alte Stellung in diesen Meeren und gibt damit Australien dem japanischen Druck preis, so wird dieses mit Sicherheit aus dem Empire ausscheiden und sich Amerika anschließen. Amerika ist der einzige ernsthafte Gegner, aber wie stark ist er an dieser Stelle zur See, trotz des Panamakanals? San Franzisko und Hawaii liegen viel zu weit entfernt, um Flottenstützpunkte gegen Japan zu sein, die Philippinen sind kaum zu halten und Japan besitzt im lateinischen Amerika mögliche Verbündete gegen New York, deren Bedeutung sich nicht dadurch vermindert, daß man nicht von ihnen spricht.


 << zurück weiter >>