Oswald Spengler
Jahre der Entscheidung
Oswald Spengler

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Der politische Horizont

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Hat heute irgendein Mensch der weißen Rassen einen Blick für das, was ringsumher auf dem Erdball vor sich geht? Für die Größe der Gefahr, die über dieser Völkermasse liegt und droht? Ich rede nicht von der gebildeten oder ungebildeten Menge unserer Städte, den Zeitungslesern, dem Stimmvieh der Wahltage – wobei zwischen Wählern und Gewählten längst kein Unterschied des Ranges mehr besteht –, sondern von den führenden Schichten der weißen Nationen, soweit sie nicht schon vernichtet sind, von den Staatsmännern, sofern es welche gibt, von den echten Führern der Politik und der Wirtschaft, der Heere und des Denkens. Sieht irgend jemand über diese Jahre und über seinen Erdteil, sein Land, selbst über den engen Kreis seiner Tätigkeit hinaus?

Wir leben in einer verhängnisschweren Zeit. Die großartigste Geschichtsepoche nicht nur der faustischen Kultur Westeuropas mit ihrer ungeheuren Dynamik, sondern eben um dieser willen der gesamten Weltgeschichte ist angebrochen, größer und weit furchtbarer als die Zeiten Cäsars und Napoleons. Aber wie blind sind die Menschen, über die dieses gewaltige Schicksal hinwegbraust, sie durcheinanderwirbelnd, erhebend oder vernichtend. Wer von ihnen sieht und begreift, was mit ihnen und um sie her geschieht? Vielleicht ein alter weiser Chinese oder Inder, der schweigend, mit einer tausendjährigen Vergangenheit des Denkens im Geiste um sich blickt – aber wie flach, wie eng, wie klein gedacht ist alles, was an Urteilen, an Maßnahmen in Westeuropa und Amerika hervortritt! Wer begreift von den Bewohnern des Mittleren Westens der Vereinigten Staaten wirklich etwas von dem, was jenseits von New York und San Franzisko vor sich geht? Was ahnt ein Mann der englischen Mittelklasse von dem, was auf dem Festland drüben sich vorbereitet, um von der französischen Provinz zu schweigen? Was wissen sie alle von der Richtung, in welcher ihr eigenes Schicksal sich bewegt? Da entstehen lächerliche Schlagworte wie Überwindung der Wirtschaftskrise, Völkerverständigung, nationale Sicherheit und Autarkie, um Katastrophen im Umfang von Generationen durch prosperity und Abrüstung zu »überwinden«.

Aber ich rede hier von Deutschland, das im Sturm der Tatsachen tiefer bedroht ist als irgendein anderes Land, dessen Existenz im erschreckenden Sinne des Wortes in Frage steht. Welche Kurzsichtigkeit und geräuschvolle Flachheit herrschen hier, was für provinziale Standpunkte tauchen auf, wenn von den größten Problemen die Rede ist! Man gründe innerhalb unserer Grenzpfähle das Dritte Reich oder den Sowjetstaat, schaffe das Heer ab oder das Eigentum, die Wirtschaftsführer oder die Landwirtschaft, man gebe den einzelnen Länderchen möglichst viel Selbständigkeit oder beseitige sie, man lasse die alten Herren von der Industrie oder Verwaltung wieder im Stile von 1900 arbeiten oder endlich, man mache eine Revolution, proklamiere die Diktatur, zu der sich dann ein Diktator schon finden wird vier Dutzend Leute fühlen sich dem schon längst gewachsen – und alles ist schön und gut.

Aber Deutschland ist keine Insel. Kein zweites Land ist in dem Grade handelnd oder leidend in das Weltschicksal verflochten. Seine geographische Lage allein, sein Mangel an natürlichen Grenzen verurteilen es dazu. Im 18. und 19. Jahrhundert war es »Mitteleuropa«, im 20. ist es wieder wie seit dem 13. Jahrhundert ein Grenzland gegen »Asien«, und niemand hat es nötiger, politisch und wirtschaftlich weit über die Grenzen hinaus zu denken, als die Deutschen. Alles was in der Ferne geschieht, zieht seine Kreise bis ins Innere Deutschlands.

Aber unsere Vergangenheit rächt sich, diese 700 Jahre jammervoller provinzialer Kleinstaaterei ohne einen Hauch von Größe, ohne Ideen, ohne Ziel. Das läßt sich nicht in zwei Generationen einholen. Und die Schöpfung Bismarcks hatte den großen Fehler, das heranwachsende Geschlecht nicht für die Tatsachen der neuen Form unseres politischen Lebens erzogen zu haben. Man sah sie, aber begriff sie nicht, eignete sie sich innerlich mit ihren Horizonten, Problemen und neuen Pflichten nicht an. Man lebte nicht mit ihnen. Und der Durchschnittsdeutsche sah nach wie vor die Geschicke seines großen Landes parteimäßig und partikularistisch an, das heißt flach, eng, dumm, krähwinkelhaft. Dieses kleine Denken begann, seit die Staufenkaiser mit ihrem Blick über das Mittelmeer hin und die Hansa, die einst von der Schelde bis Nowgorod geherrscht hatte, infolge des Mangels an einer realpolitischen Stützung im Hinterlande anderen, sicherer gegründeten Mächten erlegen waren. Seitdem sperrte man sich in zahllose Vaterländchen und Winkelinteressen ein, maß die Weltgeschichte an deren Horizont und träumte hungernd und armselig von einem Reich in den Wolken, wofür man das Wort Deutscher Idealismus erfand. Zu diesem kleinen, innerdeutschen Denken gehört noch fast alles, was an politischen Idealen und Utopien im Sumpfboden des Weimarer Staates aufgeschossen ist, all die internationalen, kommunistischen, pazifistischen, ultramontanen, föderalistischen, »arischen« Wunschbilder vom Sacrum Imperium, Sowjetstaat oder Dritten Reich. Alle Parteien denken und handeln so, als wenn Deutschland allein auf der Welt wäre. Die Gewerkschaften sehen nicht über die Industriegebiete hinaus. Kolonialpolitik war ihnen von jeher verhaßt, weil sie nicht in das Schema des Klassenkampfes paßte. In ihrer doktrinären Beschränktheit begreifen sie nicht oder wollen nicht begreifen, daß der wirtschaftliche Imperialismus der Zeit um 1900 gerade für den Arbeiter eine Voraussetzung seiner Existenz war mit seiner Sicherung von Absatz der Produkte und Gewinnung von Rohstoffen, was der englische Arbeiter längst begriffen hatte. Die deutsche Demokratie schwärmt für Pazifismus und Abrüstung außerhalb der französischen Machtgrenzen. Die Föderalisten möchten das ohnehin kleine Land wieder in ein Bündel von Zwergstaaten ehemaligen Gepräges verwandeln und damit fremden Mächten Gelegenheit geben, den einen gegen den andern auszuspielen. Und die Nationalsozialisten glauben ohne und gegen die Welt fertig zu werden und ihre Luftschlösser bauen zu können, ohne eine mindestens schweigende aber sehr fühlbare Gegenwirkung von außen her.


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