Fjodor Ssologub
Der Kuß des Ungeborenen und andere Novellen
Fjodor Ssologub

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Die trauernde Braut

Wann sollte es auch Absonderheiten geben, wenn nicht in unseren Tagen, in den grausamen und traurigen Tagen, wo der vielfältige Reichtum der sich im Leben verwirklichenden Möglichkeiten unerschöpflich erscheint?

So traten vor nicht langer Zeit mehrere junge Mädchen zu einer Art Verein zusammen, dem beizutreten außerordentlich schwer war und dessen Zweck und Tätigkeit gewiß als seltsam zu bezeichnen sind:

So oft in der Stadt ein junger Mann starb, der noch keine Braut hatte, mußte eines der Mädchen Trauer anlegen und an Stelle einer Braut zur Beerdigung kommen.

Die Verwandten staunten darüber sehr, die Bekannten weniger, doch die einen wie die andern glaubten, daß über dem frischen Grabe irgendein schönes und trauriges Geheimnis schwebe.

Diesem Verein gehörte auch eine gewisse Nina Alexejewna Bessonowa an, ein sich immer grundlos langweilendes, nicht gerade hervorragend schönes, aber doch recht anmutiges junges Mädchen. Viele waren in sie sogar verliebt, – was hätten alle die jungen Gymnasiasten auch sonst anfangen sollen? – Sie langweilte sich aber nichtsdestoweniger.

Endlich kam auch an Nina die Reihe, einen ihr unbekannten Bräutigam zum Grabe zu geleiten.

»Der Nächste ist der Ihrige!« sagte man ihr.

Diejenigen, die noch nicht an der Reihe gewesen waren, beneideten sie. Die Freundinnen, die ihre düstere und schöne Bestimmung bereits erfüllt hatten, blickten Nina mitleidig und traurig an.

Nina kam an jenem Tage in seltsamer Aufregung nach Hause.

Nun begann für sie eine endlose Reihe ermüdender Tage voll untätiger Sehnsucht und Trauer.

Auf jedem Schritt und Tritt quälten sie schwere Vorahnungen und Vorbedeutungen, die Tränen und Tod eines geliebten Wesens kündeten.

So bedrückend war das Wissen, daß nach Ablauf einer bestimmten, doch unbekannten Zeit ein Unbekannter, doch Geliebter und Teurer sterben müsse! Und daß mit ihm auch die Möglichkeit eines Glücks entschwinden werde!

Wer ist dieser Todgeweihte? Warum ist es ihm nicht beschieden, ihren Weg noch vor der Sterbestunde zu kreuzen? Vielleicht könnte sie ihn warnen, retten? Vielleicht könnte sie ihm vom unerbittlichen Schicksal Tage und Stunden süßen Vergessens erflehen?

Ich weiß nicht, wer er ist, aber er tut mir so leid!

So jung ist er, und der unerbittliche Tod lauert schon auf ihn, und nichts kann ihn warnen oder retten!

Nina beneidete manchmal ihre Freundinnen, die den schönen und traurigen Brauch bereits erfüllt halten und ihre leichten Trauergewänder nur noch auftrugen. Die Trauergewänder, die ihnen so gut zu Gesicht standen, daß die Leute auf der Straße manchmal stehen blieben und ihnen nachsahen.

Man konnte ja nicht im voraus wissen, ob das Ereignis nicht schon sehr bald eintreffen würde. Nina mußte immer bereit sein, dem ersten Rufe zu folgen. Sie ließ sich daher sofort die ganze Trauerausstattung machen. Natürlich ohne Wissen der Ihrigen. Obwohl es ihr recht ärgerlich war, alles vor ihren Angehörigen verheimlichen zu müssen.

Um die Kosten der Trauerkleider brauchte sie sich nicht zu kümmern: die Vereinskasse zahlte alles. Der Verein hatte eine recht straffe Organisation und erhob von seinen Mitgliedern monatliche Beiträge; wie jeder andere Verein hatte er ab und zu auch noch andere Einkünfte.

Obwohl sie sich also um die Kosten nicht zu kümmern brauchte und die bestellten und gekauften Sachen gut in ihrem Zimmer verstecken konnte, mußte sie die Trauerkleider doch früher oder später einmal anlegen. Es wäre natürlich vernünftiger gewesen, die Angehörigen schon vorher darauf vorzubereiten. Nina scheute sich aber aus irgendeinem Grunde, mit ihrer Mutter darüber zu reden.

Wie sollte sie es ihr auch sagen?! Sie hätte ihr ja alles erklären müssen; die Mitglieder des Vereins waren aber verpflichtet, jedem Unbeteiligten gegenüber strengste Verschwiegenheit zu bewahren. Sie hätte also der Mutter etwas vorlügen müssen, aber sie empfand Ekel vor jeder Lüge. Sie schob die Aussprache von Tag zu Tag hinaus und beschloß zuletzt, alles dem Zufall zu überlassen.

»Es wird sich schon irgendwie machen,« sagte sie sich.

Man brachte ihr das Kleid, – Nina hatte dazu eine Stunde gewählt, wo ihre Mutter nicht zu Hause war, – und sie verwahrte es in ihrem Zimmer.

Jeden Abend holte sie die Trauersachen hervor und breitete sie auf dem Bett und auf den Stühlen aus. In ihrem Zimmer war alles weiß und rosa; vor den Fenstern schwebten leichte durchsichtige Vorhänge; zart und liebevoll dufteten die Feldblumen in den hübschen Gläsern und Vasen, und draußen glühte über dem stahlblauen Meere in mädchenhafter Scham das Abendrot. All das Mädchenhaft-Keusche und Lichte ließ die schwarzen Gewänder noch düsterer erscheinen. Ihr Anblick erfüllte das Herz mit Grauen und entlockte den sehnsuchtsvollen Augen Ströme schnell blinkender Tränen.

Sie betrachtete die schwarzen Gewänder und weinte. Lange weinte sie so.

Manchmal legte sie die Kleider an und trat vor den Spiegel. Das einfache schwarze Kleid und der Hut von strenger Form standen ihr ungewöhnlich gut zu Gesicht, und dies vertiefte noch mehr ihre Trauer und vergrößerte ihren Drang zu weinen.

Wenn sie des Morgens die Augen aufschlug, fragte sie sich voller Angst, ob das erwartete Unglück nicht schon eingetroffen sei. Die Sonne – ein böser Drache – stand hoch am Himmel, der Garten leuchtete, von ihrem grausamen Licht übergossen, in glühender Pracht, und ein neuer rasender Tag blickte durch die zarten Vorhänge herein und blendete die Augen. Nina schleuderte aber dem Tageslicht und dem wahnsinnig dahinhastenden Leben die bösen, von quälender Vorahnung vergifteten Worte entgegen:

»Mein Geliebter wird bald sterben!«

Finster, wie benebelt, trat sie ins Eßzimmer, und die Trauer ihrer lieblichen Züge stand in seltsamem Widerspruch zu ihrer lichten Erscheinung.

Die Mutter sah sie bestürzt an und fragte:

»Warum bist du so traurig, Ninotschka? Was hat dich so aufgeregt? Was ist denn los?«

Nina gab keine Antwort und lächelte nur traurig und geheimnisvoll vor sich hin. Still und sanft, hübsch gekleidet und frisiert, der Heldin eines Romans gleich, dessen erstes Kapitel kein glückliches Ende verheißt, setzte sie sich auf ihren Platz am Frühstückstisch.

Die Mutter konnte von ihr unmöglich herausbekommen, was sie hatte.

Als sie aber einmal nach dem Abendtee auf der Veranda saß, schmiegte sie sich plötzlich, von ihrer eigenen Trauer gerührt, von der Stille der nordischen weißen Nacht bezaubert, vom Anblick der Raketen, die man irgendwo in der Nähe irgendeinem unbekannten Geburtstagskinde zu Ehren steigen ließ, aufgeregt, in einer Anwandlung von Offenherzigkeit, zutraulich an die Mutter, von deren dunkelgrauem Kleide sie sich als weißer Nebelfleck abhob, brach in Tränen aus und sagte sehr leise:

»So schwer ist es mir ums Herz! Mich quält eine trübe Vorahnung . . . Daß mir irgendein Unheil droht . . .«

Die Mutter wurde unruhig. Sie umarmte Nina. Sie tröstete sie, wie man ein kleines Kind tröstet:

»Was fällt dir ein, Ninotschka? Gott sei mit dir! Was soll denn kommen? Kind, glaube nicht an Vorahnungen, du bist ja kein Großmütterchen. Wer glaubt heutzutage noch an solche Dinge?«

Nina wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte mit erzwungenem Lächeln und geheuchelter Ruhe:

»Du hast recht, Mutter, ich weiß selbst, daß es dumm ist. Und doch habe ich das Gefühl, daß ihm irgendein Unheil droht.«

»Wem denn, Nina?« fragte die Mutter.

Sie rückte von ihr etwas weg und blickte die Tochter mit ihren kurzsichtigen grauen Augen an. Und Nina antwortete, mit Mühe die Tränen zurückhaltend:

»Meinem Geliebten, meinem Bräutigam.«

»Was sagst du, Ninotschka?!« fragte die Mutter erstaunt. »Was für einem Geliebten? Hast du denn einen Bräutigam?«

»Ich habe keinen Bräutigam,« erwiderte Nina traurig. »Nein, ich habe keinen, aber das hat doch nichts zu sagen! Ich habe nur die Vorahnung, daß ich mich in ihn verlieben werde, daß er mir teurer als mein Leben sein wird, und daß er plötzlich sterben muß.«

Nina brach wieder in Tränen aus. Die erstaunte Mutter bemühte sich, sie zu trösten, und gab ihr irgendwelche beruhigende Tropfen ein. Nina blickte ihr ins erschrockene und erstaunte Gesicht, das ihr plötzlich komisch vorkam, und mußte lachen.

An diesem Abend sah sie sich ihre Trauerkleider nicht an und schlief ruhig ein. Als sie aber am Morgen die Augen aufschlug und das lustige Vogelgezwitscher und die Stimmen Minkas und Tinkas, die über etwas stritten, hörte, fühlte sie sich wieder von Gram ergriffen.

Ihre beiden kleinen Brüder, die Gymnasiasten Minka und Tinka, machten sich über ihre geheimnisvolle Trauer lustig und neckten sie.

Ihr war aber so traurig zumute, daß sie den dummen Jungen, die ihr so furchtbar zusetzten, gar nicht zürnte: was verstehen solche Bengel?!

*

Der Tag neigte dem Abend zu. Auf der in festliche Sommergewänder gekleideten Erde war es aber noch heiß, und die Weite und Stille der hohen Himmelskuppel erschien ungewöhnlich feierlich. Nina stand am Strande und blickte in die Ferne des Himmels und des Wassers.

Kleine, schnelle Vögel jagten geschäftig hin und her, und Nina hörte über sich ihre feinen gedehnten Schreie.

Der feste, von den Wellen glattgestampfte Sand teilte ihren Sohlen seine warme Sprödigkeit und Feuchtigkeit mit. Er kitzelte leise die zarte Haut ihrer Füße, die gegen die Berührung des schönen Sandes der irdischen Gestade noch nicht abgestumpft war.

Die sanften breiten Wellen des nahen, lieben Meeres, in dem die Menschen ebensogut wie in einem fernen Meere ertrinken konnten, plätscherten und küßten ihre schlanken, von der Sonne gebräunten Beine. Freudig und frei atmeten unter dem leichten Gewand die beiden Wellen ihrer gebräunten Brüste.

So stand sie da, blickte in die blaue Ferne und gab sich ihren süßen, traurigen Gedanken hin.

»Wer ist er denn, mein Geliebter, den ich zum Grabe geleiten, an dessen Bahre ich weinen werde? Seine Augen werden mich niemals sehen, und seine Lippen werden mir niemals lächeln . . .

»Nie wird er mich umarmen, nie wird er mir sagen:

›Ich liebe dich, Geliebte! Du bist mir lieber als das Leben!‹«

Ihr Herz verzehrte sich in einer trüben Vorahnung, sie wollte so gerne weinen, sie wußte aber noch nicht, um wen.

Wie wonnevoll wäre es, auf den Sand niederzufallen, in grenzenloser Verzweiflung zu schluchzen und die Trauer der verdüsterten Seele den Winden und den Wellen anzuvertrauen!

Es fiel ihr ein, was sie gestern von einer ihrer Freundinnen gehört hatte. Die Rede war vom bevorstehenden Duell zwischen dem Fürsten Ordyn-Ulussow und dem Gatten der Frau, die ihn liebte. Wie schade, daß sie dem Sarge des jungen und schönen Fürsten nicht folgen darf! Er liebt ja eine andere, und die Geschichte dieser schönen, rührenden und wahnsinnigen Liebe ist der ganzen Stadt bekannt: die wahre Liebe setzt sich ja über alle Vorurteile des Lebens hinweg und behauptet sich selbst nach dem Tode.

Es ist ja auch möglich, daß keiner der Rivalen den andern tötet, und daß die Sache glücklich abläuft. Soll er nur leben, was kümmert es sie?!

Die Spannung der Vorahnung wuchs immer mehr an und wurde unerträglich.

Das glühende Abendrot vergiftete die stille Trauer ihrer Seele mit Leidenschaft und ergoß unter der verschmachtenden Wüste des kalten Zenits Ströme brennenden Blutes über die Welt.

Nina ging nach Hause. Nun erschien ihr der Sand unangenehm feucht. Sie ärgerte sich schon, daß sie ihre Schuhe zu Hause gelassen hatte und barfuß gehen mußte.

Nein, es war eigentlich kein Ärger, es war nur ein unklares Unlustgefühl, eine gegenstandslose Trauer. Eine Last, die sie tragen mußte.

In der Nähe ihrer Sommerwohnung erblickte sie eine wohlbekannte Gestalt. Sie sah genauer hin – es war Natascha Lestschinskaja.

Nina fühlte plötzliche Freude und zugleich Trauer. Ob die Freundin ihr nicht die ersehnte Trauerbotschaft brachte?

Da naht sie wie das Schicksal, um die Seele mit Gram zu beladen, um das verschmachtende Herz zu verwunden.

Nina konnte schon aus der Ferne sehen, daß Natascha aufgeregt war. Gewiß bringt sie irgendeine bedeutsame Nachricht.

Nina zitterten vor Aufregung die Hände, und sie spürte eine plötzliche Kälte in den Knien. Sie wollte schon der Freundin entgegenlaufen, ihr Herz begann aber plötzlich so heftig zu klopfen, daß sie stehen bleiben mußte.

Sie errötete. Sie stand lächelnd, die Arme auf der Brust gekreuzt, in seltsam ungeschickter Haltung da. So bestürzt und unsicher war ihr Lächeln.

»Natascha, bist du es?« sagte sie verlegen. »Wie freue ich mich!«

Sie verstummte, durch die Unnatürlichkeit ihres eigenen Tonfalles verwirrt.

»Ninotschka . . .« begann Natascha, auf sie zugehend, noch atemlos vom schnellen Gehen.

Ihr Gesicht hatte einen besorgten Ausdruck, und die schwarzen Locken, die vorne unter dem gelben, mit einer gelben Straußfeder geschmückten Strohhute hervorquollen, verliehen ihrem sonnenverbrannten Gesicht einen seltsam kecken und allzu selbstbewußten Ausdruck.

»Ja? Ist er tot? Der Meine?« stammelte Nina erschrocken.

Natascha erwiderte hastig:

»Er ist tot. Denk dir nur: er hat sich erschossen! Wie interessant, nicht wahr? Was für Glück du hast!«

Nina fing zu weinen an. So rührend und unglücklich erschien sie in der von rosa und blauem Licht durchfluteten Luft, in ihrem einfachen blauen, mit weißen Streifen besetzten Kleide, mit ihren sonnenverbrannten, schlanken, sanften Beinen vor der eleganten, rotbackigen, lebhaften, in üppiges Gelb gekleideten Freundin, die vom schnellen Gehen auf hohen Absätzen ermüdet war und schwer atmete.

Nina fragte leise weinend:

»Wer ist's?«

Ihre Stimme klang so leise und schüchtern wie die eines weinenden Kindes.

Natascha drückte ihr freundlich die Hand.

»Es ist allerdings sehr traurig,« sagte sie. »Er ist noch so jung. Es ist der Student Ikonnikow.«

»War er allein?« fragte Nina.

»Ja, als er sich erschoß, war er allein. Die ganze Familie war in der Sommerfrische. Er kam untertags in die leere Stadtwohnung, schrieb einige Briefe, trug sie selbst zum Briefkasten und übernachtete allein zu Hause. Am Morgen erschoß er sich. Im Hause hatte es niemand gemerkt, bis die Eltern in die Stadt kamen. Er hatte ihnen einen Brief aufs Land geschrieben. Sie wohnen, glaube ich, in Pawlowsk . . .«

Nina schwieg. Erst als sie im Garten bei ihrer Wohnung waren, sah sie Natascha fragend an. Natascha verstand den Blick und sagte:

»Übermorgen ist die Beerdigung. In Petersburg.«

Sie traten ins Haus.

»Was weinst du, Nina?« fragte die Mutter.

»Er ist tot,« antwortete Nina kurz und trocken, beinahe feindselig.

»Wer ist tot?«

Die Nachricht, daß jemand gestorben sei, ließ Alexandra Pawlownas Herz erkalten. Sie hatte, wie fast jede alternde Frau, eine dunkle Angst vor dem Tode; es war ihr, als ob ihr jemand mit deutlicher, dumpfer Stimme gesagt hatte:

»Auch du wirst sterben!«

»Ach, Mama,« antwortete Nina mit einer Gereiztheit, die ihr sonst fremd war. »Du kennst ihn ja nicht.«

»Auch ich selbst kenne ihn nicht,« dachte sie sich dabei.

Dieser Gedanke durchquerte das dunkle Gewebe des Erlebnisses wie ein lächerlicher weißer Faden, und es wurde ihr noch trauriger zumute.

Die Mutter wandte sich an die Freundin:

»Sagen Sie es mir wenigstens, Natascha: wer ist tot?«

Natascha, die gerade vor dem Spiegel stand und den Hut ablegte, sagte hastig, Gleichgültigkeit heuchelnd, doch sehr erregt

»Unser Bekannter, der Student Ikonnikow hat sich erschossen. In der Stadt. Niemand weiß, warum. So jung war er noch. Wissen Sie, in der letzten Zeit gibt es jeden Augenblick einen Selbstmord, und er tut uns furchtbar leid. So jung war er, und niemand kennt den Grund. Die Wunde ist an der Schläfe, wie ein kleiner blauer Fleck sieht sie aus. Das Gesicht ist aber ruhig.«

»Ich fahre zur Seelenmesse,« sagte Nina sehr entschieden.

»Nina!«

Die Mutter ließ sich in einen Sessel sinken, sah die Tochter an und wußte nicht, was zu sagen.

»Unbedingt! Halte mich, um Gottes willen, nicht zurück!« rief Nina aus.

Natascha setzte sich neben Alexandra Pawlowna und sagte leise:

»Machen Sie sich, bitte, keine Sorgen. Ich will mit ihr hinfahren und werde die ganze Zelt mit ihr sein.

Nina ging auf ihr Zimmer.

»Was hat sie? Wissen Sie es nicht, Natascha?« fragte Alexandra Pawlowna. »Sie war in den letzten Tagen so schwermütig. Was ist los? Wer ist dieser Ikonnikow?«

»Sie ist so furchtbar leicht erregbar,« antwortete Natascha. »Den Ikonnikow kenne ich ganz flüchtig. Ich weiß gar nicht, was ich Ihnen sagen soll. In unseren Tagen gibt es so viele Dinge, die einem das Herz schwer machen. Was Nina mit ihm hatte, weiß ich wirklich nicht.«

Nina kam bald in tiefer Trauer, mit schwarzem Schleier und Handschuhen, zum Ausgehen bereit, ins Zimmer, und die Mutter sah sie wieder erstaunt an.

»Nina, woher hast du die Trauerkleider?«

»Ach, Mama!«

»Nina, das ist keine Antwort. Ich will es wissen. Ich muß es wissen.«

»Mama, quäle mich nicht. Ich habe es auch ohnehin so schwer. Ich sagte dir ja, daß ich das Unglück vorhergeahnt habe. Mein Bräutigam ist tot. Ich fahre gleich hin.«

Sie schien fast ganz ruhig.

»Warte doch noch ein wenig, trinke wenigstens Tee. Es gibt ja jetzt sowieso keinen Zug,« sagte die Mutter bestürzt, erschrocken und geärgert.

Die langweilige Stunde der Erwartung schleppte sich langsam dahin. Alles erschien ihr so ekelhaft und überflüssig: das Teetrinken, das Essen, das Lampenlicht, das sich mit dem Widerscheine des verblutenden Abendrots vermengte, das Klirren der Teelöffel, das sie jedesmal zusammenfahren ließ, das Lachen Minkas und Tinkas und die erstaunten Fragen der Mutter. Und dabei mußte sie auch noch etwas sprechen!

Nina war sehr traurig. Sie fing einigemal zu weinen an. Natascha flüsterte ihr besorgt zu:

»Du fängst zu früh an. Du wirst schnell müde werden. In den entscheidenden Augenblicken wird es dir an Stimmung fehlen.«

»Natascha, hör auf. Du verstehst nichts,« entgegnete Nina verdrießlich flüsternd.

Endlich saß sie mit Natascha im Zuge.

Der Wagen war halb leer. Die wenigen zufälligen Reisegenossen blickten Nina entzückt und gerührt an.

Natascha fragte:

»Nina, du hast ihn doch sicher gekannt?«

»Natürlich nicht.«

»Warum weinst du dann so?«

»Glaubst du, daß es leicht ist, seinen Bräutigam zum Grabe zu geleiten?«

Nina fing plötzlich zu lachen an.

»Ich weine auch nicht mehr. Ich lache schon.«

»Und hast dabei Tränen in den Augen?«

»Die Tränen kommen vom Lachen.«

Und sie weinte weiter.

Natascha versuchte, ihre Gedanken auf lustige, angenehme und komische Dinge zu lenken. Das wollte ihr aber nicht gelingen.

»Pfui, du bist wie ein kleines Kind!« sagte Natascha. »Nimm dich, bitte, zusammen. Du bekommst noch einen hysterischen Anfall, – was fange ich dann mit dir an?«

*

Als sie durch die Straßen der sommerlichen Stadt fuhren, war es schon ganz dunkel, und alles erschien Nina wie ein schwerer Albdruck, der plötzlich zur Wirklichkeit wird.

Zwischen zwei Wolken schwebte der bleiche Mond, und sein schwankendes Spiegelbild flimmerte im Wasser des Kanals. Das unendlich stille Funkeln der Sterne über dem rohen Dröhnen der bösen, schmutzigen Straßen winkte wie ein bitteres Gift.

Vor einem Vergnügungspark leuchteten bunte Girlanden roter, gelber und blauer Lampions, und am langweiligen weißen Bretterzaune schrien freche Plakate.

Eine bunt gekleidete und roh geschminkte Menge strömte zu Fuß und zu Wagen herbei, und ein unsichtbarer, doch allen längst bekannter Zeigefinger deutete auf das unverhüllte häßliche Wort: »Billige Prostitution.«

Diese Menge, die sich vergnügen wollte, war vom Taumel ergriffen, von der armseligen, erzwungenen Freude um jeden Preis.

Wie beleidigend ist die Freude, wenn die Seele vor Trauer schluchzt. Diese grausamen Menschen! Wie können sie sich freuen, wenn er, der Junge und Schöne mit einer Schußwunde an der Schläfe tot daliegt?!

*

Nina übernachtete bei Natascha. Sie hatte es dort leichter als zu Hause. Natascha sagte ihren Angehörigen leise:

»Ihr Bräutigam ist gestorben.«

Alle ließen sie in Ruhe und sahen sie nur zärtlich und voller Mitgefühl an. Nachts hatte sie freundliche und traurige, dabei etwas unheimliche Träume.

Die gegen die irdische Trauer gleichgültige, grelle und böse Sonne schleuderte so plötzlich, als hätte sie zuvor lange gelauert, ihr flüssiges, erst belebendes und dann tötendes Feuer zum Fenster herein, und der Strom geschmolzenen Goldes stoß immer breiter und greller über den grünen Teppich.

Es war der Morgen eines Tages, der viel Trauer und Mühe und hoffnungslose Gebete verhieß.

Nina erwachte in einem fremden Bett, über dem vom flüssigen Gold übergossenen grünen Teppich. Sie hatte Tränen in den Augen, fühlte Mattigkeit im ganzen Körper und hörte nur das eine Wort:

»Tot!«

Niemand hatte das Wort gesprochen, – und doch krampfte sich das von Trauer gebundene Herz schmerzlich zusammen.

Und wieder kamen ihr Tränen . . .

Sie dachte: »Nun werde ich mein Leben lang jeden Morgen beim Erwachen daran denken, daß er, mein Geliebter, tot ist.«

Als sie sich anzog und sah, wie gut ihr die Trauerkleidung zu Gesicht stand, glitt ihr ein freudiges Lächeln über das Gesicht. Sie trieb Natascha, die sie zu dem Hause, wo ihr Geliebter aufgebahrt lag, begleiten sollte, zur Eile an. Zugleich ordnete sie sorgfältig die Falten des schwarzen Flors auf ihrem sonnengebräunten, doch blassen, lieblichen Gesicht.

Auf der Treppe der fremden Wohnung gab es viele Blumen und Teppiche, – grüne und orangegelbe Blattpflanzen in messinggefaßten Gläsern vor den Fenstern, – Bronzegeländer und Marmorsäulen: – so konnte ihre Trauer bis ans Ende ihre Schönheit bewahren. Sie brauchte nicht vor einer schmutzigen, nach Katzen riechenden Hintertreppe zu erschauern.

Vor der Wohnungstür im zweiten Stock sah sie einen weißen Sargdeckel stehen . . . Und die Mauern um sie her begannen zu schwanken . . .

Sie fühlte unter ihrem Arm Nataschas Hand. Sie hörte ihre leise Stimme:

»Hier, liebste Nina . . .«

Gramgebeugt, stumm, in lange schwarze Schleier gehüllt, trat Nina in die Wohnung. Ohne auf jemand zu achten, ging sie geradewegs in den Saal, wo auf hohem schwarzen Katafalk im weißen Sarge ihr Geliebter lag.

Jemand ging umher und verteilte Kerzen für die Seelenmesse. Aus einer Seitentüre zog Weihrauchduft herein. Im Saal waren nur wenige Menschen versammelt, und Ninas Erscheinen wurde sofort bemerkt. Niemand kannte sie, und alle staunten über das unbenannte weinende junge Mädchen in tiefer Trauer.

Nina kam näher, stand eine Weile vor dem Katafalk und stieg langsam die Stufen hinan. Sie sah das Bahrtuch, die Blumen und das gelbe Gesicht. Sie beugte sich über den Toten und betrachtete aufmerksam sein stilles Lächeln.

Wie kalt, wie schrecklich kalt ist das Lächeln der toten Lippen! Wie kalt berühren sie die sehnsüchtigen Lippen der Braut! Die toten und kalten Lippen können unter dem heißen Kuß nicht mehr zusammenzucken!

Von der Kälte der toten Lippen versengt, schrie Nina leise auf. Jemand nahm sie am Arm und half ihr die Stufen zum gelben, streng glänzenden Parkett hinuntersteigen. Im blauen Dunste des Weihrauchs begann eben die Seelenmesse, und Nina sank hin, wie wenn sie jemand in die Knie gezwungen hätte.

Die Verwandten tuschelten:

»Wer ist sie?«

»Diese da?«

»Wissen Sie es nicht?«

»Ich glaube, niemand weiß es.«

Natascha stand vor der Türe.

Jemand wandte sich flüsternd an sie:

»Wissen Sie nicht, wer das Fräulein in Trauer ist, das so furchtbar weint?«

Natascha antwortete ebenso leise:

»Es ist die Braut des Verstorbenen.«

»Niemand von der Familie kennt sie aber!« flüsterte der Fragende erstaunt.

»Ja. Es ist eine sehr traurige Geschichte.«

Der eine flüsterte es dem andern zu:

»Es ist die Braut des Verstorbenen.«

Die Verwandten waren erstaunt. Aber alle glaubten es. Wie sollte man es auch nicht glauben?!

Allen diesen nahen und fremden, verschieden gestimmten, traurigen und gleichgültigen Menschen erschien Nina, die niemand kannte, das weinende, rührende, liebliche junge Mädchen in tiefer Trauer als die wirkliche Braut des Studenten, der sich aus unbekanntem Grunde erschossen hatte und nun still und friedlich im schönen weißen Sarg ruhte. Niemand wußte, was für ein Geheimnis die Weinende mit diesem Sarge verband, – ob sie nicht die Ursache seines Todes gewesen sei? – sie erschien aber allen gleich rührend. So erhaben und schön erschien die stumme Trauer des knienden jungen Mädchens neben der Verzweiflung der greisen Mutter und dem stumpfen Schmerz des alten Vaters, die sich so unschön in den geröteten Augen, dem verweinten Schnupfen und den zerzausten grauen Haaren äußerten. Obwohl alle die Eltern kannten, und sie allen fremd war, hatte man doch mehr Mitleid mit ihr, der Rührenden und Lieblichen, die so andächtig kniete und unter den halbdurchsichtigen Falten des Kreppschleiers so bezaubernd aussah. Und selbst der Gedanke, der manchem kam, daß diese trauernde, weinende Braut den Tod des schönen jungen Menschen, der von Blumen, deren Duft ihn nicht erfreuen konnte, im Sarge lag, verschuldet haben könne, – selbst dieser grausame und harte Gedanke konnte das Mitleid mit ihr, das in den stillen Strömen ihrer lichten Tränen seinen Ursprung hatte, nicht niederzwingen. Eine so unendlich tiefe Trauer lag in ihrem tränenfeuchten, zum kalten Parkett gebeugten Gesicht und in ihrer ganzen Gestalt, – und wenn in dieser Trauer auch ein böser Hauch von Reue enthalten wäre, müßte sie deswegen nicht noch mehr Mitleid erregen? Unter Liebenden kommen ja Streitigkeiten und vorübergehende Entzweiungen vor; sie hatte ihn aber offenbar geliebt: – sonst würde sie nicht so weinen und hätte auch keine Trauer angelegt. Wer kann wissen, was zwischen den Liebenden vorgefallen war? Er aber hat wohl den leichten Schmerz nicht tragen können, er hat sich mit grausamer Hand getötet und ihr Herz in das Grauen der schrecklichen Erinnerung getaucht!

Und sie, die weinende und betende Braut des ihr unbekannten Bräutigams, die sich so willenlos ihrer gemachten Trauer hingab, – was mochte sie wohl empfinden?

Wie sehr sie sich auch danach gesehnt hatte, sich ganz dieser Trauer hinzugeben, wie sehr sie auch durch ihre voll bewußten Vorahnungen darauf vorbereitet war, – die Wirklichkeit übertraf doch alle ihre Erwartungen.

Der Zauber des jungen, von der Ruhe des Todes umschwebten Gesichts, das sie in der Anwandlung erkünstelten Schmerzes geküßt, hatte sich ihrer in diesem kurzen Augenblicke bemächtigt, und sie fühlte, daß sie sich niemals mehr von diesem süßen und versengenden Zauber befreien würde. Etwas, was schöner ist als die Schönheit, mächtiger als die Macht der Liebe, was die Kälte des Todes und die Finsternis des Grabes verachtet, etwas, was sich durch keinerlei menschliche Worte ausdrücken läßt, ein Zauber, den der Tod allein kennt, erfüllte ihr ganzes Wesen, und nun wußte sie es ganz sicher, daß der im weißen Sarge Liegende, von roten Rosen überschüttete, von den blauen Weihrauchwolken Umschwebte – wahrlich der von ihr ersehnte und geliebte Bräutigam war.

Und als sie die Stufen des schwarzen Katafalks hinabstieg und ihre Blicke durch den kalten Raum schweifen ließ, um ein Versteck zu finden, wo sie ihre Tränen verbergen könnte, war ihr Herz schon von unerträglichem Leid durchbohrt. Sie machte zwei oder drei Schritte und fühlte plötzlich, wie ihr der Kopf schwindelte. Sie wandte das Gesicht wieder dem Sarge zu, und ihre Knie zitterten vor Mattigkeit. Nun suchte sie sich keinen Platz mehr und sank dicht vor dem Sarge in die Knie. An ihrer Seite schluchzte die greise Mutter. Der schwarze Ornat des Geistlichen schwebte dicht vor ihren Augen. Sie drückte das Gesicht in die Hände, die sie auf dem Boden vor sich ausgestreckt hatte. Sie hörte über sich das Klirren des Weihrauchfasses, die tiefe, sichere Stimme des Diakons, – schön, wohlklingend und traurig schwebte der Gesang der Seelenmesse dahin, rührend und gewichtig waren die Worte, gewichtiger als der arme menschliche Glaube, so weise, so tröstend und so untröstlich. Das Gesicht in die Hände vergraben, der Worte und des Gesangs kaum achtend, den Weihrauch der Trauer kaum atmend, sah sie das Gesicht des Toten, das ihr plötzlich so lieb geworden war, deutlich vor sich. So lebendig sah sie es: die Augen lachten, die vom schwarzen Schnurrbart halbverdeckten Lippen bewegten sich und sprachen weise, wahre Worte, davon, was ihrem Herzen immer nahe und teuer war. Sie sah genauer hin, – und die Gesichtszüge, an die sich das Gedächtnis der plötzlich Verliebten im kurzen Augenblick des Kusses festgeklammert hatte, wurden in ihrem Geiste immer lebendiger, und sein geliebtes Antlitz stand immer deutlicher vor ihr. Jede Muskel dieses Gesichts sprach untrüglich von unendlich Liebem und Vertrautem.

Die Seelenmesse war zu Ende. Die Trauergäste verzogen sich. Die nächsten Verwandten trösteten die Eltern und flüsterten ihnen etwas zu.

Nina stand allein. Sie glaubte eine fremde, feindliche Atmosphäre um sich zu spüren.

Ganz allein stand sie da.

Sollte sie nun gehen? Den Geliebten allein lassen?

Sie weinte. Still, traurig, anmutig und rührend, von den tränenfeuchten Blicken der Eltern und Bekannten begleitet, verließ sie das Zimmer.

Auf dem untersten Treppenabsatz blieb sie weinend stehen, plötzlich hörte sie leichte, die Treppe heruntereilende Schritte. Sie blickte hinauf, – das Gefühl sagte ihr, daß jemand sie einholen wolle.

Ein Mädchen in schwarzem Kattunkleid mit schwarzem Krepphäubchen auf den blonden Haaren, mit sommersprossigem Gesicht und vor Weinen geröteten grauen Augen, – so pflegen Dienstboten um ihre Herrschaft, die gut gegen sie war, zu weinen, – lief schnell die Treppe hinunter. Sie blieb vor Nina stehen.

»Fräulein,« begann sie leise, vor Verlegenheit stotternd, »unsere Gnädige, die Mutter des jungen Herrn, bittet Sie, sich für einen Augenblick hinaufzubemühen.«

»Wozu?« fragte Nina schüchtern.

»Ich kann es nicht wissen, Fräulein,« antwortete das Dienstmädchen. Nina konnte aber ihrer Stimme anmerken, daß sie es wohl wußte und gerne sagen wollte. »Die Gnädige läßt Sie sehr bitten,« fuhr sie fort. »Ich glaube, sie hat einen Brief. Ich weiß es nicht genau. Sie läßt Sie inständigst bitten.«

Nina ging die Treppe wieder hinauf. Sie war von einem dunklen Angstgefühl ergriffen, aber die Unannehmlichkeiten, die ihr vielleicht drohten, waren zu nichtig im Vergleich mit ihrer tiefen Trauer. Sie dachte:

»Wird man mich vielleicht bitten, nicht wieder herzukommen? Was habe ich aber verbrochen? Oder wird man mich für den Tod meines Geliebten verantwortlich machen?«

Ein neuer Tränenstrom brach ihr aus den Augen. Sie taumelte vor Schwäche. Das Dienstmädchen stützte sie am Arm und blickte ihr teilnahmsvoll ins Gesicht.

»Sollen sie mich nur anklagen,« dachte Nina, »ich werde nicht widersprechen. Sollen sie mich für schuldig halten. Was weiß ich? Was kann ich überhaupt wissen?«

Das Dienstmädchen geleitete sie in den Salon.

Man konnte es allen Dingen ansehen, daß die Familie auf dem Lande wohnte und nur zur Beerdigung in die Stadt gekommen war. Die Möbel steckten in Überzügen und standen in einer andern Ordnung, als sie wohl im Winter zu stehen pflegten. Der Spiegel zwischen den beiden Fenstern war zum Zeichen der Trauer in großer Eile und ungleichmäßig mit einem weißen Laken verhängt.

Nina hob den Kreppschleier vom Gesicht, das unter der Sonnenbräune leichenblaß war und sogar etwas eingefallen schien, und blickte mit traurigen scheuen Augen auf die schlanke hagere Dame mit grauem Haar, die sich bei ihrem Erscheinen vom Sofa erhob.

»Es ist die Mutter,« dachte sich Nina.

Sie prägte sich mechanisch die Züge der alten Dame ein:

»Grau. Schlank. Hat blaue, helle Augen. Große Ähnlichkeit mit dem Sohn.«

Aus irgendeinem Grunde kam ihr der Gedanke: diese Frau mit den verweinten Augen und der Verzweiflung in den Zügen sei vor einigen Tagen noch gar nicht grau gewesen, – sie pflege sich wohl sonst das Haar zu färben und sorgfältig zu frisieren; nun sei sie auf einmal zusammengeklappt und denke nicht mehr an ihr Äußeres und an die zerzausten grauen Flechten.

Sie forderte sie zum Sitzen auf. Im gleichen Zimmer stand am Fenster der Vater, ein schlanker Greis in aufrechter Haltung. Er hatte sich halb zum Fenster gewandt, als wollte er das fremde junge Mädchen sehen und zugleich den Ausdruck der Trauer in seinem stolzen Greisengesicht verbergen.

»Sie sind hier die einzige,« sagte die Alte, »die wir nicht kennen. Darum denke ich, daß der Brief, den Sferjoscha hinterlassen hat, für Sie bestimmt ist. Ist es so?«

»Ich weiß nicht,« sagte Nina. »Wie kann ich das wissen?«

Sie gab sich Mühe, nicht zu weinen, die Tränen strömten ihr aber aus den Augen. Auch die Mutter begann zu weinen.

»Es kam so plötzlich,« sagte sie. »Wir erwarteten Sferjoscha zum Mittagessen, – er war für den ganzen Tag in die Stadt gefahren, – und plötzlich . . . Ja, ich sprach eben vom Brief . . .«

Die Alte entnahm dem Album, das vor ihr auf dem Tische lag, einen Brief in einem schmalen graugrünen Umschlag und sagte:

»Wen Sferjoscha meinte, konnten wir nicht erraten. Aber diesen Brief, er lag in einem andern Brief, der für mich bestimmt war, – bat er einer jungen Dame zu übergeben, die noch niemals bei uns im Hause gewesen sei, falls sie zur Seelenmesse oder zur Beerdigung käme. Man könne sie, schreibt er, daran erkennen, daß sie Trauer tragen und vielleicht auch weinen würde. Ihr solle man den Brief einhändigen. Falls sie aber nicht käme, möchte man den Brief ungelesen verbrennen. Nun frage ich mich, ob der Brief nicht für Sie ist.«

Und Nina sagte, ohne auch nur einen Augenblick zu schwanken:

»Ja, er ist für mich.«

Sie erbleichte. Voller Angst streckte sie die Hand nach dem Brief aus. Sind es Vorwürfe, mit denen sie der Geliebte von jenseits der geheimnisvollen Schwelle überschüttet? Oder Worte der zarten Liebe und des Trostes?

Plötzlich kam ihr der Gedanke:

»Und wenn die andere kommt? . . .«

Der Brief knisterte in den bebenden Fingern. Mit ungeduldiger Hand riß sie den Umschlag auf. Während sie den Brief aus dem Kerker des Umschlags herauszog, gingen ihr flüchtige Gedanken durch den Kopf:

»Wenn sie kommt, gebe ich ihn ihr. Sie kommt aber nicht. Sie ist schlecht, sie hat ihn vergessen. In den schrecklichen Stunden vor seinem Tode hat sie wohl gar keine quälenden Vorahnungen gehabt. Ich aber hatte Vorahnungen. Er ist mein. Doch wenn sie kommt, wenn sie Trauer trägt und weint, gebe ich ihr den Brief.«

Während sie den Brief las, standen der Vater und die Mutter vor ihr und blickten ihr ins Gesicht. Wie wenn sie in ihrem Gesicht die Lösung des schrecklichen Geheimnisses lesen wollten.

Sie las:

»Geliebte, ich schreibe Dir in der seltsamen, vielleicht wahnsinnigen Hoffnung, daß Du vielleicht doch zu meinem Sarge kommst, auf meinem Grabe weinst und wenigstens kurze Zeit Trauer trägst. Was brauche ich es? Ich weiß, daß es Unsinn ist, aber der Gedanke, daß Du kommen wirst, gibt mir Trost. Wenn Du kommst, gibt man dir diesen Brief. Und wenn Du nicht kommst, verbrennt man ihn. Ich habe meine Mutter darum gebeten, – sie ist gut, sie wird mich nicht betrügen, sie wird meine Bitte erfüllen. Ich weiß, daß Du sie mit keinem unbedachten Wort verletzen wirst. Siehst Du, ich muß sterben. Ich habe jetzt keinen andern Ausweg. Mache Dir keine Vorwürfe, Geliebte. An unserer Trennung bin ich selbst schuld, nur ich allein. Ich darf niemand anklagen. Es war so, wie wenn jemand aus dem Gewebe meines Lebens irgendeinen wichtigen, alles zusammenhaltenden Faden herausgezogen hätte. Nun fällt alles auseinander. Äußerlich bin ich der alte geblieben. Ich blieb in nichts hinter meinen Kollegen zurück und ließ nicht den Kopf hängen. Ich machte mich sogar an eine Aufgabe, die ich früher wohl auf einen Hieb bewältigt hätte. Nun hat sie mich erdrückt . . . Es ist schwer, einen Mord zu begehen, obwohl ich weiß, daß . . . Was soll ich noch darüber sprechen? Ich habe es auf mich genommen und kann es nicht vollbringen. Ich ziehe vor, mich selbst zu töten. Nicht etwa weil ich im Banne der alten Moralvorschriften stünde und an die Heiligkeit des menschlichen Lebens glaubte . . . Es ist übrigens möglich, daß auch diese Vorstellung mit im Spiele war. So furchtbar finster ist es um mich her. Ich bin ganz ermattet. Ich bin erledigt. (Die letzten Worte habe ich schon von jemand anderm gehört, aber es macht nichts.) Nun möchte ich Dir etwas Heiteres und Beruhigendes sagen. Vielleicht wirst Du unter Tränen lächeln, aber auch das ist mir gleich. Ich habe Dich noch immer furchtbar lieb, mein Kätzchen. Sei glücklich, denke an mich ohne Ärger und nicht allzu oft. Und wenn Du zu mir zurückkehrst . . . Was braucht ihr, die ihr lebt, die Vermächtnisse von Verstorbenen? Einen furchtbaren Unsinn schreibe ich da, nicht wahr? Und doch muß ich es Dir, geliebte Freundin, sagen: verächtlich ist der Mensch, der das Licht geschaut und sich von ihm fortgewandt hat.

Lebe wohl. Dein Ssergej.«

Nina schob den Brief wieder in den Umschlag. Sie wollte fortgehen, sie wollte allein sein, den Brief immer von neuem lesen, über ihn nachdenken und weinen. Sie wollte sich verabschieden. Flehende Blicke hielten sie aber zurück.

»Was schreibt Ihnen Sserjoscha?« fragte die Mutter.

Nina schwieg. Sie wußte nicht, was zu sagen. Die Alte fuhr fort:

»Versetzen Sie sich doch in unsere Lage; wir haben ja keine Ahnung, warum Sserjoscha das getan hat . . . Wenn wir wenigstens etwas wissen könnten!«

Nina dachte:

»Was kann ich ihr sagen? Und wenn die andere kommt? Wenn ich ihr den Brief geben muß? Soll sie es lieber sagen!«

Sie lächelte und weinte. Und sie sagte sehr entschieden:

»Entschuldigen Sie, ich sehe alles vollkommen ein, aber ich muß schweigen. Ich darf Ihnen nichts sagen.«

»Fräulein,« begann der Vater, der bis dahin geschwiegen hatte, mit seltsam scharfer knarrender Stimme: »Wir hätten Ihnen den Brief auch nicht einhändigen können. Unter diesen Umständen hätten wir das Recht, ihn selbst zu öffnen. Sie verheimlichen es aber vor uns . . .«

Er kam nicht weiter. Er schluchzte sonderbar auf und wandte sich weg.

Nina schlug die Augen nieder und sagte leise:

»Ja, Sie haben wohl die Möglichkeit gehabt, den Brief zu lesen, aber Sie haben es nicht getan.«

»Nein, natürlich nicht!« sagte die Mutter. »Wer sagt denn das? Einen fremden Brief würden wir natürlich niemals lesen. Aber unser Schmerz . . . unser Schmerz . . . Ich flehe Sie an, haben Sie Mitleid mit einer alten Frau!«

»Um Gottes willen,« rief Nina aus, »warten Sie noch, warten Sie bis morgen. Ich schwöre Ihnen, daß ich es jetzt nicht kann. Morgen will ich Ihnen alles sagen. Morgen, wenn man ihn . . . wenn man Sserjoscha . . . Um Gottes willen . . .«

Sie umarmten einander und weinten. Die Mutter stieß Nina plötzlich zurück.

»Gott wird Ihnen kein Glück geben, wenn er es Ihretwegen getan hat!« schrie sie leise auf und stürzte schluchzend aus dem Zimmer.

Der Vater folgte ihr. Nina blieb allein.

*

Der Tag zog sich stumpf und langsam hin. Ninas Gedanken waren aufgewühlt und verworren. Sie las den Brief des Geliebten immer von neuem. Und sie fragte sich immer voller Angst:

»Und wenn die andere, die Schlechte kommt?«

So bitter war ihr der Gedanke, daß sie ihr die lieben, mit der feinen, schnellen, deutlichen Handschrift beschriebenen Blätter weggeben müssen wird. Und sie tröstete sich:

»Nein sie wird nicht kommen!«

Sie erwartete mit Ungeduld den Abend, wo sie zur zweiten Seelenmesse gehen würde. Sie wollte dem Geliebten eine weiße Rose in den Sarg legen, den weißen Kranz der trauernden Braut am Katafalk niederlegen. Und erfahren, ob die böse Nebenbuhlerin gekommen sei.

So langweilig, überflüssig und lästig waren die Minuten des glühendheißen Tages.

Am Nachmittag sagte Nina zu Natascha:

»Der letzte Trost ist, einen Brief vom Geliebten zu bekommen. Ich habe ihn bekommen.«

Natascha blickte erstaunt auf den schmalen graugrünen Umschlag. Nina merkte erst jetzt, daß darauf etwas geschrieben stand. Sie las:

»Der trauernden Braut.«

Die andere war nicht gekommen. Sie war auch nicht bei der Seelenmesse am Abend, als auf den Stufen des schwarzen Katafalks der weiße Kranz lag und auf das schwarze Haar des Geliebten die weiße Rose, das letzte Geschenk der Braut, niederfiel. Sie kam auch nicht zur Beerdigung.

Die schöne Trauer der Braut wurde durch nichts gestört.

Nina ging mit den Eltern ihres Bräutigams hinter dem Sarge durch die heißen staubigen Straßen der gleichgültig lärmenden Stadt. Einer der Verwandten, ein elegant gekleideter hübscher Herr mit grauem Schnurrbart und der tadellosen Haltung eines alten Militärs, führte sie am Arm.

Sie schleifte ihre schöne Trauer durch die häßlichen, staubigen Straßen, unter der sengenden Sonne, an den gerührt stehenbleibenden und sich bekreuzenden fremden Menschen vorbei. So unheimlich hob sich ihre Schönheit von all dem Grauen und Gleichgültigen ab.

Sie war müde, wollte aber nicht in den Wagen steigen. Sie war zum Sterben müde. Die Müdigkeit erhöhte die Schönheit ihrer Trauer und ließ ihre Anmut den fremden Leuten noch rührender erscheinen.

Die Trauerzeremonie dauerte unendlich lange, – die Eltern sparten nicht mit Geld, – und in der schönen Kirche sang ein vorzüglicher Sängerchor. Welchen Trost konnte aber die Zeremonie der armen Braut des Bräutigams geben, der ihr im Tode nicht nur Worte der Liebe, sondern auch Worte des Vorwurfs zugerufen hatte? Und sie dachte sich:

»Wohin muß ich zurückkehren, um ihn zu trösten? Um nicht, wie er es auf seine offene, liebe Art gesagt hat, als ein verächtlicher Mensch dazustehen, der sich vom Lichte kleinmütig weggewandt hat?«

Und plötzlich glaubte sie zu wissen, wohin sie gehen solle, womit sie ihn trösten könne.

Am Grabe. Die letzten Schollen fielen auf den Sarg nieder.

Die Mutter und die Braut weinten: – die unschöne, alte Mutter mit geröteter Nase und auf die Seite gerutschtem Hut, und das blasse, verweinte junge Mädchen, das ihm, als er noch lebte, fremd gewesen und jetzt einzig nahe war.

Die beiden blieben am frischen Grabhügel allein. Die eine hatte den Sohn nicht behüten können; sein Herz war ihr dunkel und seine Gedanken weltfremd und unverständlich geblieben. Aber die andere, die seine lieben Augen niemals geschaut hatte, kannte sein Herz, – das schwache, unter der unerträglichen Last zusammengebrochene Herz eines Erdenmenschen, der nach einer Heldentat strebt und sie nicht vollbringen kann.

»Geliebter,« flüsterte sie, »ich kenne den Weg, den ich gehen muß, um mit dir zu sein, um dich zu trösten. Du konntest es nicht, du warst matt vor Trauer, so kalt und so finster hast du es in deinem Grabe. Aber sei unbesorgt: ich werde vollbringen, was deine Aufgabe war. Und wenn es auf deinem Wege Leiden gibt, so werden sie die meinen sein.

Sie sahen einander an. Nina dachte:

»Was soll ich ihr sagen? Womit kann ich sie trösten?«

Und sie begann leise:

»Sie sagten gestern, Gott werde mir kein Glück geben, wenn er es meinetwegen getan hat. Gott sei mein Zeuge, daß mich keine Schuld trifft. Aber was brauche ich Glück, wenn er, mein Geliebter, im Grabe ruht? Ich verstand nicht, mit ihm zu sein, als er noch lebte, – aber glauben Sie mir: ich werde seinem Andenken ewig treu bleiben. Ich will sein Vermächtnis erfüllen, seine Freunde sollen meine Freunde sein, seine Liebe – meine Liebe, sein Haß – mein Haß, und ich werde das tragen, woran er zugrunde gegangen ist.

 


 


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