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Es kam die Nacht. Und sie war traurig, still, finster und lang wie die letzte Nacht.
Die Mutter spielte Theater. Sie hatte die ersehnte Rolle bekommen, und heute war die erste Vorstellung. Die Mutter freute sich sehr und ging gleich nach dem Essen fort. Wenn sie heimkommt, wird Kolja schon schlafen: nach der Vorstellung wird man bis vier Uhr tanzen.
Das Dienstmädchen gab Kolja seinen Abendtee, brachte ihn zu Bett, versperrte die Wohnung und ging spazieren. Kolja blieb allein zu Hause. Er war es schon gewohnt und hatte keine Angst.
Als aber der leise metallische Ton des Türschlosses sein Ohr erreichte, bemächtigte sich seiner plötzlich das kalte Gefühl der völligen Abgeschiedenheit.
Er lag im Bett auf dem Rücken und blickte mit dunklen Augen zur dunklen Decke hinauf.
– Und die Mutter? – ging es ihm durch den Kopf.
– Es gibt keine Mutter! – Sprach eben jemand diese Worte, oder tauchten sie nur in seiner Erinnerung auf?
Kolja lächelte vor sich hin. Dann stieg er aus dem Bett und kleidete sich an. Er wollte auch die Schuhe anziehen, erinnerte sich aber, daß die Erde um diese Stunde feucht und kühl sei: sie wird seine Füße so weich und zärtlich liebkosen.
Feuchte Mutter Erde!
Kolja warf die Schuhe unter das Bett und trat ans Fenster. Am Himmel stand der hellgrüne unschöne Vollmond. Er schien hinter den Baumwipfeln zu lauern und aufzupassen. Sein Licht war stumm und leblos und die betörenden, scheuen Strahlen drangen auch durch das Laub . . .
Wanja kam durch die Hinterhöfe in Koljas Garten geschlichen. In allen Fenstern war es dunkel. Wanja klopfte leise an Koljas Fenster. Es ging auf. Kolja blickte hinaus: er war blaß und lächelte schwach. Das Mondlicht fiel gerade auf Wanjas Gesicht.
»Du bist ganz grün!« sagte Kolja.
»Ich bin, wie ich bin,« antwortete Wanja.
Sein Gesicht war ruhig und ausdrucklos, wie leblos. Nur seine Augen lebten und leuchteten mit flüssigem, durchsichtigem Glanz.
»Wollen wir gehen,« sagte er, »es ist Zeit.«
Kolja klammerte sich mit seinen kleinen weißen Händen ungeschickt an das Fensterbrett und kletterte hinaus. Wanja half ihm dabei.
»Du solltest doch deine Schuhe nehmen, es ist kalt,« sagte Wanja.
»Und du?« entgegnete Kolja.
»Mir macht das nichts. Ich fürchte die Kälte nicht,« sagte Wanja mit traurigem Lächeln.
»Auch mir macht das nichts,« erwiderte Kolja leise.
Die Knaben gingen aus dem Garten und schlugen den schmalen Feldweg zum Walde, der in der Nähe dunkelte, ein. Wanja flüsterte:
»Schau, wie hell der Mond ist. Auch dort hat es einst Menschen gegeben, sie sind aber alle gestorben. Damals war unsere Erde noch eine Sonne. Auf dem Monde war es warm; es gab dort Luft und Wasser, Tage und Nächte wechselten ab; es wuchs auch Gras, und über das taubedeckte Gras liefen lustige, barfüßige Jungen. Nun sind sie alle tot, mein Lieber, und niemand weint ihnen eine Träne nach!«
Kolja wandte sein Gesicht mit dem süßsauren, traurigen Lächeln Wanja zu und flüsterte: »Auch wir werden sterben.«
»Blase nur kein Trübsal,« sagte Wanja finster. »Du bist wohl imstande zu weinen. Ist dir kalt?«
»Es macht nichts,« antwortete Kolja leise. »Sind wir bald da?«
»Sofort.«
Die Jungen stiegen zum Fluß hinunter. Sein Lauf war an dieser Stelle eingeengt: drüben war ein jäher Absturz, und hier fiel das Ufer steil zum Wasser herab. Am Ufer und im Wasser lagen einige große Steine. Es war still. Der helle kalte Mond stand über dem Absturz. Er blickte gespannt herab und wartete. Das Wasser schien unbeweglich und dunkel. Bäume und Sträucher waren stumm und starr. Aus dem Grase lugten kleine, unschöne Blüten hervor, weiß waren sie und unheilkündend.
Wanja scharrte neben dem einen der großen Steine herum und brachte zwei Handnetze mit abgebrochenen Griffen zum Vorschein. Er befestigte am oberen Rande der beiden Netze Schnüre, und sie sahen nun wie zwei Wandertäschchen aus. In jedes legte er einen Stein.
»Es sind zwei Wandertäschchen,« sagte er leise.
Die beiden Knaben standen auf einem breiten und flachen Stein, der einer Grabplatte glich, und blickten mit der gleichen Angst in das dunkle Wasser. Sie standen wie festgebannt da, und es gab kein Zurück mehr. Ein jeder hatte an der Brust ein Täschchen mit einem Stein hängen, und die Schnüre schnitten sich ihnen in die Nacken ein.
»Geh,« sagte Wanja, »erst du, dann ich.«
»Machen wir es lieber zusammen!« erwiderte Kolja schüchtern mit seiner hellen Stimme.
»Gut, zusammen!« sagte Wanja entschlossen und lächelte.
Wanjas Gesicht erschien auf einmal eingefallen und finster. Die kalte Willenlosigkeit der Sterbestunde lastete schon auf ihm.
Kolja wollte sich bekreuzigen. Wanja packte ihn aber bei der Hand.
»Was fällt dir ein? Das darfst du nicht!« sage er böse. »Glaubst du denn immer noch? Gut, wenn Er dich retten will, so soll Er diesen Stein im Täschchen in Brot verwandeln.«
Kolja hob die Augen gen Himmel. Der tote Mond blickte ihn stumpf an. In seiner ohnmächtigen Seele wollte sich kein Gebet regen. Der Stein blieb Stein . . .
Kolja bemerkte über seinem Kopfe einen seinen Zweig mit kleinen Blättchen, der sich vom dunkelblauen Himmel als zierliche schwarze Silhouette abhob.
– Wie hübsch! – dachte sich Kolja.
Eine leise Stimme rief ihn von hinten an, sie klang wie die Stimme seiner Mutter:
»Kolja!«
Es war aber zu spät. Sein Körper beugte sich schon über das Wasser und fiel.
Kolja stürzte vom Stein. Das Wasser spritzte mit schwerem Klatschen auf. Kalte, schwere Tropfen flogen Wanja ins Gesicht.
Kolja war sofort ertrunken. Eine kalte, schmerzliche Sehnsucht bemächtigte sich Wanjas. Sie zog ihn unaufhaltsam hinunter, wo Kolja verschwunden war. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer schmerzlichen Grimasse. Ein seltsamer Krampf durchzuckte seinen Körper. Er krümmte sich zusammen, wie wenn er sich von jemand, der ihn festhielte und ins Wasser stieße, losreißen wollte. Er streckte plötzlich beide Arme aus, schrie leise auf und fiel ins Wasser. Das Wasser tat sich vor ihm auf und spritzte empor. Dunkle Kreise liefen über den Wasserspiegel und erstarben. Und dann war wieder alles still.
Der tote Mond stand kalt und hell über dem dunklen Absturz.