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Am nächsten Morgen führte ihn die Mutter selbst zur Schule. Unterwegs weinte sie, schimpfte und traktierte Mitja mit Püffen. Mitja ging daher gebückt und stolperte in einem fort. Er sah fast nichts von den Dingen, die ihn umgaben, und empfand nichts außer dem unerträglichen Kopfweh. Die Augenblicke, wo sein Bewußtsein erwachte, waren qualvoll, und es zog seinen Kopf immer zu den harten Steinen nieder, um den grausamen Kopfschmerz zu zerschmettern.
In der Schule nahm er das Höhnen der Kameraden und Lehrer mit stumpfer Gleichgültigkeit hin. Er war ebenso finster wie der düstere, regnerische Tag. Er witterte irgendein Unheil. Ab und zu dachte er traurig an Dunja. Er hatte schon vergessen, daß sie vom Dachboden fortgezogen war, und fürchtete, daß sie dort vor Hunger und Kälte sterben würde.
Eine Stunde vor Unterrichtsschluß, in der großen Pause lief Mitja unbemerkt fort. Seine Bücher ließ er in der Schule zurück. Ein kaum bewußtes Verlangen, den Verfolgungen und der Suche zu entrinnen, trieb ihn in die Straßen, die von der Schule am entlegensten waren. Unermüdlich und ruhelos irrte er dort umher. Er ging in Höfe und Gärten hinein, verirrte sich in eine Kirche, wo gerade die Abendmesse gelesen wurde, lief einem Leierkastenmann nach, sah exerzierenden Soldaten zu und ließ sich mit Hausmeistern und Schutzmännern in Gespräche ein. Und er vergaß schon im nächsten Augenblick alles, was er eben erst getan hatte.
Ab und zu regnete es wie aus einem feinen Sieb. Von den Bäumen fielen nasse, gelbe Blätter herab.
Das Fieber hatte nun die ganze Natur ergriffen, alles war gespenstisch und vergänglich, die Gegenstände erstanden plötzlich vor den Blicken und starben ebenso plötzlich hin. Rajas Blick leuchtete manchmal auf und erlosch gleich wieder . . .
Mitja kam schließlich ins Haus, wo die Wlassows gewohnt hatten. Auf dem Dachboden ergriff ihn plötzlich Entsetzen: die Türe war abgeschlossen. Mitja blieb auf der letzten Stufe stehen und starrte verzweifelt auf das Schloß. Dann fing er an, mit den Fäusten auf die Türe zu hämmern. In diesem Augenblick kam aus der Wohnung im oberen Stock der Hausmeister, ein mürrischer schwarzbärtiger Kerl mit trägen Bewegungen.
»Was suchst du hier?« fragte er Mitja, ihn argwöhnisch musternd. »Was hast du auf einer fremden Treppe zu schaffen?«
»Hier haben die Wlassows gewohnt,« sagte Mitja schüchtern. »Ich bin zu den Wlassows gekommen.«
»Niemand hat hier gewohnt!« entgegnete der Hausmeister. »Man kann hier gar nicht wohnen: hier ist der Dachboden.«
Mitja begann hinabzusteigen, sich mit den Händen ungeschickt am leichten Eisengeländer festhaltend. Der Hausmeister blickte ihm, auf dem Treppenabsatz stehend, unverwandt nach und brummte etwas vor sich hin. Mitja tat es weh, den stechenden Blick erst auf seinem Gesicht und dann auf seinem Rücken zu fühlen.
Mitja wollte nicht glauben, daß die Wlassows nicht mehr da seien. »Wo sollen sie hinkommen seien?« fragte er sich. »Sie sind wohl auf dem Dachboden umgekommen. Die bösen Geister haben sie totgequält. Dieser Schwarze hat das Schloß aufgehängt und bewacht sie.«
Als Mitja wieder durch die Straßen ging, sah er den Dachboden ganz deutlich vor Augen. Er glaubte ein leises Röcheln zu hören. Und er sah Dunja und ihre Mutter auf ihren gewohnten Plätzen sitzen. Dunja, war ausgehungert und halb erfroren, und ihre Mutter saß ihr gegenüber, das tote, blinde Gesicht in den Nacken geworfen, die geballten Fäuste vorgestreckt und beide starben langsam hin und erstarrten . . .
Nun sind sie schon tot. Unbeweglich und kalt sitzen sie einander gegenüber. Der Wind aus der Dachluke umweht die gelbe Stirn der Alten und bewegt die grauen, feinen Härchen, die unter dem Kopftuche hervorgucken.
Mitja fing zu weinen an. Langsam und kalt flossen seine Tränen dahin. Nun begann ihn auch noch der Hunger zu quälen.