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Es gibt keine gefährlicheren Verbindungen
als mit Menschen, die die Rolle, die sie nur
spielen sollen, ernst nehmen.
Wilh. Raabe.
Ich hatte mir gleich ein »möbliertes Zimmer« gemietet – ein überaus bescheidenes Dachzimmerchen, bei einem Flickschneider, in der zum Wohnen billigsten Gegend der inneren Stadt, es war wahrhaftig das billigste, was ich in meiner großen Sparbeflissenheit finden konnte. Wehe aber! Gleich in der ersten Nacht wurde ich von gewissen Haustieren arg heimgesucht. Dergleichen kannte ich noch nicht. Als mein Entsetzen ob der heftig schmerzenden Beulen sich etwas beruhigt hatte und ich anfing nachzudenken, in krummer Haltung auf dem Bettrand sitzend, da – nun ich wußte ja etwas Naturgeschichte und war auch in der Bibel beschlagen: hm, die ägyptischen Plagen, im zweiten Buch Mosis. Gleich mietete ich mir ein anderes Dachzimmerchen, das um eine Mark und fünfzig monatlich besser sein sollte, barmherziger Gott, da aber war's noch schlimmer. Ich miete mir darauf eine noch um 50 Pfennig teurere Wohnung, wehe und auch da! Nun aber kaufe ich mir echt Persisches und bleibe in Gottergebenheit wohnen.
Klopfenden Herzens ging ich zur ersten Klavierstunde, sehr in Spannung auf den Lehrer, dessen Klassen ich zugeteilt war, als den Herrn Königlich und Großherzoglich und Fürstlich Schaumburg-Lippeschen Kammervirtuosen, Professor, Hofrat und Geheimen Hofrat und Ritter pp. pp. Theobald Seyerich. Es wäre freilich schwer bei ihm, hörte ich, denn er nähme es schrecklich genau, wer aber aushielte und gar seine Gunst erlange, wäre gemacht.
Mit noch zwei anderen Schülern teilte ich die Stunde, auf jeden kamen zwanzig Minuten Unterweisung. Meine Mitschüler waren ein verwachsener russischer Jude, mit affenartigen Armen, auslaufend in mit häßlichen platten Nägeln versehene Finger, er hieß Isidor Bachour, sprach sehr viel und sehr laut und schnell und war ungeheuer ehrgeizig. Der andere, ein Südafrikaner aus Bloemfontein, der war im Gegensatz zu Isidor phlegmatisch wie ein Tapir. Für Poesie hatte Mr. Theron keinen Sinn, sein Studium war ihm eine reine Geschäftsangelegenheit. Die Sache mit ihm wäre die, teilte er mir gleich mit, in gebrochenem Deutsch, er brauche nur die Reklame, in Deutschland ein paar Jahre auf irgend einem Konservatorium gewesen zu sein. Klarinetten-, Trompeten- und Geigenstunden wolle er auch noch nehmen, und auch vom Orgelspiel möchte er einen Begriff bekommen, auch das Klavierstimmen wolle er nebenbei lernen und in den Klavierniederlagen und Geigenbauanstalten schlau sich umsehen. Das wäre für ihn später alles wichtig. Überarbeiten wolle er sich übrigens nicht und oft in die Operette gehen. Nach seiner Heimkehr mache er gleich in Bloemfontein ein Konservatorium auf. Dortzulande nähme man's weniger genau wie hier, man wäre genügsam, und wenn man vorher nur sagte, das Stück wäre beispielsweise von Mendelssohn, so könnte man ihnen da vorspielen, was man wolle, es gefiele allemal. –
Endlich kommt unser Lehrer.
»So, man will Klavier studieren, und bei mir.«
Seine näselnde Sprechweise dämpft gleich unsere Angst ein wenig. Ist er schon ein Titan, da immerhin ein sächsischer.
An Isidor sich wendend: »Ihr Ziel?«
»Klaviervirtuos.«
»So!«
»Und Sie?«
»Kon... Konservatoriums-Direktor.«
»So! Auch nicht übel!«
»Na und Sie wohl gleich Generalmusikdirektor?«
Ja, was ihm antworten! Ein unaussprechliches ideales Ziel habe ich mir gesteckt. Vergeblich ringe ich nach Worten –.
»Beginnen wir. Sie zuerst. Etwas, das Sie zu können meinen.«
Lange kramt erst der Aufgerufene, Mr. Theron, in seiner Mappe herum, ein Heft nach dem anderen hervorziehend. Lauter Salonklepper sind's, geschmackloses Zeug.
Er stümpert nun irgend so eine Reverie herunter, oder Berceuse, oder Chant sans paroles, in As oder Des, ausdruckslos, zaghaft und oft stockend.
Lange schon sprungbereit, stürzt danach Isidor sich nur so auf die Tasten, und ein mir unbekanntes Virtuosenstück rasselt er herunter. Wie ein Orang-Utang sitzt er am Klavier, mit den krummen Beinen auf den Pedalen. Seine Gelenkigkeit und Fingerkraft sind verblüffend. Die Passagen rasen dahin wie ein Blitzzug.
Nun ist die Reihe an mir. Was spielen? Ich schwanke: die Bachsche D-Moll-Fuge – die Räuber-Sonate? Ich entscheide mich für mein altes Haupt-, Leib- und Kraftstück. Kaum bin ich aus dem Grave heraus und werde warm, da:
»Genug, genug!«
Ich zucke zusammen, gehorche.
Der Herr Königliche, Großherzogliche, Fürstliche Schaumburg-Lippesche Kammervirtuos usw. schaut vernichtend mich an, wie ein Staatsanwalt den überführten Schwerverbrecher: »Nicht eine Ahnung haben Sie auch nur vom Elementaren. Ganz unmögliche Arm-, Hand- und Fingerhaltung, Anschlag, Fingersatz – alles unmöglich, und der heilloseste Pedalmißbrauch – keine Pausenbeachtung, keine Beachtung der Notenwerte, kein Rhythmus, der Vortrag voller Willkür, jede Phrase verzerrt und Ihren Körperverrenkungen entsprechend, den reinsten Veitstanz, Mensch, führen Sie ja auf – kurzum das Ganze: übelster Dilettantismus.«
Tief nieder sinkt mir das Haupt.
»Ganz von vorne hätten Sie bei mir wieder anzufangen. Verschaffen Sie sich demgemäß meinen Systematisch-methodischen Lehrkursus zur gründlichen Erlernung des Pianofortespiels, Teil I, Heft 1a, und bereiten Sie sich vor daraus auf das Vorwort und die ersten drei Paragraphen.«
Und damit Schluß!
Isidor erlangt seine Fassung zuerst wieder: »Ha, der – er soll mich kennenlernen!«
Mr. Theron kann hauptsächlich die Geringschätzung seiner Stücke nicht begreifen. In Bloemfontein schliefe man bei Sonaten ein.
Mir ist schwer ums Herz. Die zwei Posaunenstöße des Schreckens, ach, sie dröhnen immer weiter mir durch die Seele.
»Übelster Dilettantismus! Ganz wieder von vorne!«
Sehr kleinlaut verlasse ich das Konservatorium. Ein Windstoß erinnert mich an meine Künstlerhaare. Scham überkommt mich, und ich krempe meinen Rockkragen darüber. Ziellos wandere ich herum. Immer tiefer sinkt mir das Herz. Mein Lehrer – streng ist er und ganz dämonisch! –
Von ungefähr an einer Konditorei nun verüberkommend, was sehe ich, da sitzt er, am Fenster, an einem Marmortischchen, und er löffelt an einem Punschtörtchen. So ist er doch auch nur ein Mensch!
Und das zwar nicht selbstgegessene und dennoch tröstende Punschtörtchen, es gibt mir wieder etwas Mut und Selbstvertrauen. Tapfer sein, ausharren! Ich schlage beherzt den Rockkragen von meinen Künstlerhaaren wieder zurück und gehe an die nächste Musikalienhandlung. Prangen im Ladenfenster Photographien einheimischer musikalischer Größen. Obenan natürlich die Übermenschen der Hofoper und zumeist in tragischen Posen. Da schau: auch er! Inmitten zahlreicher geschmackloser, phosphorgrüner Hefte und steht geschrieben auf jedem Heft, steil und zackig in Buchstaben wie aus Dornen geflochten: »Methodisch-systematischer Lehrkursus zur gründlichen Erlernung des Pianofortespiels«, Teil I, Heft 1a – Teil I, Heft 1b, Teil II, Heft 3c, Heft 4d usw.
Lange graulte ich mich zu Hause erst, hineinzusehen. Helf Gott, gleich die ersten Sätze des Vorwortes! Ich Musikant hier sein ganz und gar? Ach und spannt doch die allerentsetzlichste Schulmeisterei mich gleich wieder auf die Folter, es ist zum –! Oh, dies Vorwort! Ich versuche weiterzulesen. Immer elender wird mir. Ich höre wieder auf. Ach und dazu die ersten drei Paragraphen, die Arm-, Hand- und Fingerhaltung betreffend, mit Berechnungen, Abbildungen, anatomischen usw., barmherziger Gott! Die ganze Musik, sehe ich, ist meinem Lehrer etwas rein Begriffsmäßiges. Mir dagegen ist sie Phantasie- und Gefühlssache ganz und gar. –
Die Stunden nun und überhaupt der ganze Betrieb im Konservatorium. Bald hatte ich's heraus, wer am wenigsten fühlte und dagegen nur rein verstandsmäßig und äußerlich auf bloße Ohr- und Fingerdressur sich einzustellen vermochte, kam am schnellsten und sichersten vorwärts, auch bei den anderen Lehrern und überhaupt. Mir mangelte es nun allerdings an der rein technischen Veranlagung. Ach Gott, das fühlte ich bald immer mehr! Jawohl: Gertruds mir so peinvolle Frage! Von klein auf hatte ich meine Phantasie immer viel zu sehr auf Kosten des Verstandes genährt, und natürlich das rächte sich nun. Aber was zu tun, ich bin ihm nun einmal überantwortet, dem großen Klaviergewaltigen, und so gibt's kein Zurück mehr. Und so besuche ich seine Stunden, tu's mit den besten Vorsätzen, entschlossen auszuharren, koste es, was es wolle.
Mein Klavierlehrer war ein Pedant. Mußte sich der Schüler ihm unterordnen, bis zur vollständigen Aufgabe seiner selbst. Ich lag ihm nun einmal nicht, und so kamen wir einander nicht näher. Er hatte gewiß den besten Willen, mich zu fördern. Nur fing er's falsch an. Immer behandelte er mich ironisch. Höllenqualen mußte ich erdulden bei ihm, sich steigernd mit jeder Stunde!
Auch in den anderen Fächern, in der Harmonielehre, im Chorgesang fand ich keine rechte Förderung. Alles, alles hatte ich mir so anders gedacht, die ganze Musenwirtschaft im Konservatorium, wie ich sie mit jedem Tage nun genauer kennenlernte – es paßte rein nichts davon in mein rosenrotes Idealbild.
Der einzige Lehrer, der mich anregte, ja begeisterte, war der Lehrer in der Musikgeschichte, mit allerdings nur einem einzigen wöchentlichen Vortrag für die gesamte Schülerschaft, Herren und Damen gemeinsam. Ein kränklicher und halbblinder Professor, eine ganz innerliche Natur. Wie in der Chorstunde, wird auch hier schauderhaft Unfug getrieben. Man unterhält sich, flirtet, kichert, lacht, bewirft sich mit Papierkugeln. Niemand hört ernsthaft zu. Mag der weltfremde alte Idealist auch in noch so begeisterter Eindringlichkeit sich verbreiten über die großen Meister der Tonkunst. Ich hätte manchen der besonders schlimmen Frechlinge am liebsten durchgeprügelt. Das ging nun freilich nicht, jedoch ich versuchte wenigstens um mich herum dem Unfug zu steuern, soviel ich's vermochte. So warnte ich, ich zischte, drohte, ereiferte mich. Die Folge aber war, man hielt mich für einen Streber, Scheinheiligen und Angeber, und viele Unannehmlichkeiten erwuchsen mir daraus. Auf die Musikgeschichte freute ich mich trotz aller übeln Nebenumstände die ganze Woche. Nach kurzer Zeit aber war's vorbei damit, der alte Professor starb plötzlich, und sein Nachfolger wußte wohl gute Ordnung zu halten, sonst jedoch –.
Wenn ich manchmal so denke an den Oberförster, an Herrn Justus und unser Musizieren daheim, an unsere Begeisterung, unsere schwärmerische Liebe zur Sache: barmherziger Gott, wie ist mir da!
Freilich, es ist eine grausame Wahrheit: kann immer nur aus der Überwindung der Technik vollgültige Kunst erwachsen. Der Dilettant schmeckt wie der Schmetterling an der Blüte einzig nur den Honig und bleibt ihm erspart die Bitternis – das blutige Ringen um die Technik, die Form, und so lebt er beglückt immer nur im Himmel. Muß dagegen der Künstler auch auf sich nehmen und erdulden alle fürchterlichsten Qualen der Hölle.
Manchmal nach so einer entsetzlichen Klavierstunde schaue ich aus meinem Mansardenfensterchen in die Wolken und grübele. Wie lange in meinen Briefen meine Mutter noch immer so hinhalten? Denn wie mir's in Wahrheit hier ergeht, darf ich ihr doch um Gottes willen nicht schreiben! Und Herr Justus, ahnte er, wie die Musik, die geliebte, völlig zur höllischen Qual mir gleich hier wurde!
Ich brüte und zähle die Dachziegel, die windumzausten Schornsteine. Seufzend setze ich endlich mich wieder ans Klavier, aber, ach, nicht zu Bach, nicht zu Beethoven, Schubert, Schumann. So schauerlich einsam fühle ich mich, ich halt's nicht länger mehr aus, ich muß was haben um mich, etwas Lebendiges, das mich doch wieder etwas verbindet mit der Natur. Ich verschaffe mir ein Rotkehlchen. Wenn ich übe, singt es dazu und immer freudig, unbekümmert um Technik. –
Noch besondere mißliche Einblicke in die Musenwirtschaft sollte ich durch den ersten »Übungsabend« gewinnen. Hier übten sich die entsprechend fortgeschrittenen Schüler vor Lehrern und versammelter Schülerschaft im Auftreten, mit der Aussicht, bei gutem Gelingen auch in den öffentlichen Aufführungsabenden aufzutreten und hier schon fast richtig konzertmäßig.
Das Programm stand nun freilich nicht im Zeichen Haydns, Mozarts oder Beethovens. Klavierkompositionen von Liszt und Rubinstein sind verzeichnet, Cellostücke von Servais, Goltermann, Sätze aus Violinkonzerten von Ernst und Winiawsky, eine Koloraturarie von Bellini, Stücke für Trompete, für Flöte, Fagott und endlich noch drei Lieder von – Johannes Brahms. Wegen Aufnahme dieser Lieder, hörte ich, habe es erst einen Krach mit dem Direktor gesetzt, und die betreffende Sängerin habe sie sich geradezu ertrotzt.
Lehrer sind an diesem Übungsabend nur wenige anwesend. Man tuschelt, witzelt, flirtet auch während der Vorträge, mag der Herr Direktor noch so autoritätische Blicke werfen. Anfahende Gesangsschülerinnen gebärden sich wie schon ausgewachsene Primadonnen. Wird um mich herum schon von Musik gesprochen, da immer nur renommistisch von rein technischen Dingen. Vom Programm interessiert am meisten das Allerödeste. Ich fühle mich wie geächtet, in meinem aussichtslosen Suchen und Verlangen nach einer mir gleichgestimmten Seele.
Unter denen, die mitzuwirken haben, entdecke ich plötzlich eine Schülerin: die zieht stark mich an. Sie ist sehr anders wie alle übrigen. Weniger durch eigentliche Schönheit, als durch innere Eigenschaften, und die prägen sich aus in ihrer ganzen Erscheinung. Ihr einfaches, helles Kaschmirkleid. Dazu ihre frischen Farben. Ihr dunkles Haar. Ihre Augen blicken warm, treu und merkwürdig ernst, sorgenvoll, Mitgefühl unwillkürlich erweckend. Die schlanken und schön geformten Hände hat sie leise ineinandergefaltet. Im Herzausschnitt des Kleides hängt – das einzige Schmuckstück, das sie überhaupt an sich hat – ein kleiner Amethyst, an einem silbernen Kettchen.
Verstohlen muß ich immer wieder hinsehen.
Nun tritt der Klavierschüler, der vorhin Liszt gespielt hatte, an sie hin, und er lächelt sie an, er redet eindringlich auf sie ein. So zurückhaltend sie ihm auch antwortet, dennoch, hm, daß er sie überhaupt kennt –.
Auf die Koloraturarie, sehe ich, horcht sie besonders kritisch, und so ist sie wohl eine Gesangsschülerin.
Immer wieder mache ich nach ihr krumme Augen. Mit einem Male ist sie verschwunden. Auf dem Podium taucht sie plötzlich wieder auf, und sie singt nun die ertrotzten Brahmsschen Lieder. Ein nicht großer, aber wohlgebildeter Mezzosopran, gut ausgeglichen, sympathisch, weich, in der Färbung fast eine Altstimme und im Brustregister ganz unbeschreiblich persönlich.
Sie singt »Scheiden und Meiden«. Sodann: »Es kehrt die dunkle Schwalbe«. Und zuletzt: »Wie bist du meine Königin«. Jedes Lied singt sie in tiefster Beseelung.
Diese Lieder, alle drei, wie sind sie schön, eine Musik so in jeder Note persönlich, so erlebt im Tiefsten, im Satz und Ausdruck vornehm, kraftvoll und auch wieder zart, innig, so keusch, in ihrer wehmutsvollen Tiefe so urdeutsch! Eine Musik höchster Art, Beethoven-, Bach-verwandt. Das Schönste daran aber, Eigenste, in dieser Weise nie vorher Dagewesene, ist in Melodie wie Harmonie eine ganz eigentümliche Herbigkeit. Eine noch herbere Musik wie der herbste Beethoven.
Daß sie just diese Lieder sich ertrotzt hat!
Aber nur wenig Verständnis wird leider ihr entgegengebracht, sie hat unverdientermaßen nur wenig Erfolg.
Das letzte Lied besonders hat mich entzückt, dies »Wonnevoll« – ich bin gerührt davon zu Tränen.
So gut wie nichts war mir bisher von Brahms zu Gehör gekommen, kaum viel mehr wußte ich von ihm, als daß die Wagnerianer ihn auf Tod und Leben bekämpften.
Der durch Wagner hervorgerufene leidenschaftliche, ungeheure Parteienkampf damals noch in der Musik. Hie Wagner – hie Brahms! Wagner in seiner gänzlich aufs Theater gerichteten, grandiosen Einseitigkeit hatte kein Verständnis fürs Intime, für musikalische Klein- und Feinkunst. Seine wohl in der gesamten Kunstgeschichte beispielslose Intoleranz, sein bis zur Selbstanbetung gesteigertes Selbstbewußtsein! Er war überhaupt schon beinahe empört und setzte in seiner ewig lamentabeln und revolvermäßigen Art Himmel und Hölle in Bewegung, wenn ein Zeitgenosse es wagte, neben ihm auch zu komponieren und gar anders. Obschon Brahms, der »Abseiter«, ihm nicht im Wege stand in seinem gesamten Schaffen – Wagner hatte ihn in den Bann getan. Und die Kritik, von Wagner genährt, von Wagner erfüllt, beherrschte auf Jahrzehnte in der Öffentlichkeit so ziemlich das gesamte musikalische Leben. Wagner hatte auch hier Schule gemacht im Übermaß und – leider! in der Musikkritik nicht Schumann, der vornehme, der in seiner wahrhaft fördernden Art, wie er kritisierte, vorbildliche. Ein Robert Schumann schrieb keine »Zensuren«. So erbittert man Brahms nun auch begeiferte, und zwar eigentlich nur, weil er anders war als Wagner, man konnte damit sein Durchdringen wohl aufhalten, jedoch es nicht vereiteln. Und heute? Wagner hat inzwischen seinen Höhepunkt überschritten, es bröckelt ab an ihm, sein Einfluß ist stark im Schwinden. Wird Brahms dagegen, der Keller- und Storm-Verwandte, der unvergleichliche, große Meister des Intimen, mit jedem Tage ausgiebiger, ja neben Beethoven schon überhaupt am meisten gepflegt. Richard Wagner, der zaubergewaltige, sicherlich bleibt er noch auf lange hin der Gott der großen Menge. Um Brahms sammeln sich die Innenmenschen. Wer Ohren hat – musikalische! – zu hören, der höre. –
Lange denke ich über das am Übungsabend Erlebte nach. Schlaflos wälze ich mich die ganze Nacht herum. Spinnt zuletzt ein Grübelgedanke sich in den anderen und in trübseligen Variationen über das alte, angstdurchbebte Thema: wie wird's enden hier mit dir, wirst du dein Ziel erreichen?
Worte tun's freilich nicht in der Musik – die Finger tun's und die Ohren. So viel weiß ich jetzt schon, zur Genüge, und mit Küster Stutes altem Kraftspruch hat's schon seine Richtigkeit, wahrhaftig, ich kann's ihm bestätigen: »Vor dem Großen haben die Götter den Schweiß gesetzet!«