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Zweiter Teil.


Kapitel 6.
»Musikant, sonst nichts!«

Mensch, alles, was du willst, ist schon zuvor in dir:
Es lieget nur an dem, daß du's nicht wirkst herfür.

Angelus Silesius.

Die Fahrt ging über die Landeshauptstadt und weiter südwärts durch das fruchtbare Tal der Leine. Allgemach rückten die Harzberge näher. Wir saßen in Erwartung der kommenden Dinge still und einsilbig da. Endlich war die Bahnstation erreicht. Ein alter Fettwanst mit finnigem Gesicht, wulstigen Lippen, auf kurzen Beinen mit nach innen gerichteten Füßen, der erwartete uns hier und gab sich zu erkennen als der Onkel Tierarzt. Von oben bis unten musterte er uns zunächst: »Nu, so fein is man –?«

Vorm Stammhause angelangt, kam lange niemand zum Vorschein. »Bün hier unten und schrape Käs,« quäkt's endlich aus dem Keller herauf, und gleich danach sehen wir auch die Tante. Hager ist sie, klapperig, wie aus Holz geschnitzt, herb wie eine Essiggurke, völlig anders wie ihr Bruder, unser Vater. Man ist beiderseits schwerhörig und schreit sich an, und gleich zankt man sich auch.

Zum Abendbrot gibt's Kleckerklütchen. Davor habe ich einen Abscheu.

»Nu, Ihr eßt gewiß zum Frühstück all Schweinebraten.«

Die Tante geht danach ans Butterfaß und buttert. Schweigen. Nur immer das gleichmäßige, prosaische Geräusch des Butterns. Endlich holt sich die Schwester ihr Häkelzeug aus der Handtasche. Ich beobachte, hinterm Rücken der Tante jippert der Onkel Wieschen lüstern an.

»Kannst dich mal nützlich machen, mir gleich mal 'n büschen rechnen helfen,« wendet er sich an mich. »Fix zähl' mal zusammen: 67 Dahler, vier Gute Groschen und 6 Pfennig und zukommen 22 Dahler und zwei Mariengroschen und noch 15 Dahler, 2 Silbergroschen und acht Pfennige, und davon gehen ab: 36 Dahler, 5 Mariengroschen und 3 Pfennige und noch 12 Dahler und 8 Pfennige. Was macht das, und was bleibt Rest?«

Meine Rechenkunst, oh, ich schwitze Blut!

»Nu, so nöhlig?«

Ich stottere schließlich eine Summe.

»Büst mir'n schönen Rechenmeister! Wie will das durch die Welt kommen!«

Endlich quäkt die Tante: »Zu Bett!«

Verschiedentlich hatte der Onkel Wieschen wieder angejippert. Sie trug eine leichte Sommerbluse, an den Armen durchbrochen und durchschimmernd.

»Will ihr 'naufleuchten. Der Junge schläft unten.«

Aber die Tante versetzt ihm einen Puff: »Beide schlafen se oben und ich – ich! – leucht se 'nauf!«

In unserm Zimmer weinten wir uns zunächst aus. Im Morgengrauen endlich eingeschlafen, wecken uns plötzlich langgezogene Töne. Es ist der Gemeindehirt mit seinem Horn, und das Vieh treibt er hinaus auf die Weide, nacheinander die Gänse, Ziegen, Kühe – die schönen, roten Harzkühe. Die Sonne lugt schon über die Berge herein ins Dorf, voller mütterlicher Güte. Ein einzelnes Wölkchen segelt am Himmel dahin, wie eine freudenbeschwingte erlöste Seele. Schwalben flitzen herum. Nach Wald, nach Klee, nach taufrischen Wiesen riecht's, wunderbar würzig. Die glücklichen Ziegen und Kühe, die da hinaus jetzt dürfen, weit von den Menschen weg, wie beneiden wir sie! –

Beim Morgenkaffee unterbrach plötzlich der Onkel sein widerliches Schluppern und Schmatzen: »Von der Hauptsache haben wir noch nich gesprochen, ich mein', weswegen man doch hergekommen is. Freilich, auch 'n Lohgerber muß 'n büschen rechnen können, freilich. Nu, wollen jetzt mal hin.«

Wir folgten ihm, zögernd.

»Man hat woll keine Lust nich?«

Sehr voller Argwohn zeigte er uns die betreffenden Baulichkeiten. Wir schwiegen beklommen. Endlich bemerkte Wieschen, sich ein Herz fassend: »Muß es denn – kann es denn nicht – was anderes sein – ein anderes Gewerbe –«

»Wie – wo – was?« Wie ein Nußknacker riß der Onkel das Maul auf. »Nich gut genug! Nu, wenn nich, denn nich. Die Kreterschen im Kruge sind auch mit uns verwandt. Da hat man nich solchen Prökel.«

So giftig er auch den ganzen Tag über war, am Abend war er plötzlich wieder zuckersüß, als er Wieschen wieder in ihrer luftigen Bluse sah. Als nun die Tante einmal hinausschlurrte, girrte er vor ihr wie ein Täuberich. Ausfahren wolle er mit ihr. »Gleich morgen früh spann' ich an.«

»Morgen früh sollste zu Schuster Hinkels Kuh, die will nicht fressen, haste das vergessen, du Türke!«

Nämlich die Tante war geräuschlos wieder hereingekommen. Und so scharf sie ihm nun aufpaßte, dennoch –. Weinend, bleich, von Entsetzen erfüllt, bestimmte die Schwester unsere sofortige Abreise, über die nächste Stadt, denn da wohnten Bekannte aus unserem Dorf, Buchhalter Uthoffs.

Beim Einpacken bedeckte man uns mit Vorwürfen, Schimpfworten. Erbschleicher wären wir. Man wartete nur auf ihren Tod. Aber es sollte anders kommen. Nicht eine Käsekrume kriegten wir, und was sie uns aus Barmherzigkeit zugedacht hätten, als armen Verwandten, sollten nun alles die Kreterschen im Kruge haben.

Schließlich geht's fix, wir sind auf der Straße, wir wissen selber nicht wie. Bei den Kreterschen im Kruge müssen wir vorüber. Hohnlachen gellt von da an unser Ohr, und ein Klumpen Mist fliegt uns vor die Füße.

* * *

Herr Uthoff war Buchhalter in einer der großen Schnapsbrennereien. Vom Segen der Kornernten in der güldenen Aue erzählte er uns, und wie herrlich deshalb alle die großen Brennereien in Blüte ständen, besonders seine, und den großen Umsatz rechnete er uns vor. Ganz feierlich war ihm dabei zumute, und er faltete seine großen, roten Hände. Er führte uns auch herum und zeigte uns in der Stadt die mancherlei Altertümlichkeiten, aber mehr so im Vorübergehen, die Essen der Brennereien galten ihm für weit sehenswerter.

Am zweiten Tage wurde am zeitigen Nachmittag ein Ausflug gemacht. Wir waren hochbeglückt. Nach den ausgestandenen Leiden. Da der Tag so schön gewesen war, wurde beschlossen, ihm eine strahlende Krone aufzusetzen und das Konzert abends zu besuchen, im »Gehege«, dem Stadtwald. Ein großes, richtiges Konzert, obschon im Freien, so geblasen wie gestrichen!

Bald ist die Lichtung erreicht, wo stolz der Musikpavillon sich erhebt. Davor, auf einem schilfumsäumten Teich, schwimmen Schwäne herum. Ringsum sind verschiedene Gartenwirtschaften, mit freundlich einladenden Tischen und Bänken. Es ist alles so überirdisch schön in meinen Augen! Und nun tritt auch noch der Mond hinter einer Buche hervor, im Teiche sich spiegelnd. Schon viele Menschen wandelten herum, unter Lachen und Scherzen, vor dem Musikpavillon und auch immer herum um den Teich. Plötzlich aber sichert alles sich Plätze, denn gleich wird das Konzert beginnen.

Wir finden gute Plätze, ganz in der Nähe des hellerleuchteten Musentempels. Zuerst erklingt ein fröhlicher Marsch. Folgen ein paar Tanznummern. Ich aber bin noch zerstreut, die Schwäne, die vielen Menschen, die verschiedenen Schießbuden und nicht zuletzt: das Glas Limonade, köstlich erfrischend, das mir der gute Herr Buchhalter hatte bringen lassen – alles das lenkt mich ab.

Nach einer launigen Gavotte, die sogar dem Herrn Buchhalter gefällt, der sich sonst aus Musik nichts macht, da sagt dieser: »Die nächste Nummer is was for Kenner. Was Klassisches. Schenken wir uns.«

Ich stutze: Ouvertüre zu Oberon, König der Elfen, von Karl Maria von Weber!

»Komm, Junge, will dich mal schießen lassen.«

Da, ein weicher und schwelliger und langgehaltener Hornton macht mir das Herz erzittern! Ich stehe und horche, wie festgebannt.

»Dah-da-duhhh« –.

Allerdings kenne ich die Dichtung! Das Horn Hüons, und so voll holder Schwärmerei. Und nun die vorüberhuschenden Elfen, in den zartesten, hohen geblasenen Tönen. Nun die Trompete, marschartig, energisch. Darauf in tollem Wirbel der Ritt ins romantische Land. Die Geigen flitzen und jubeln. Straffe Akkorde dazu. Die schöne Rezia jetzt, sie naht, in den süßesten Tönen der Klarinette. Widersacher aber tauchen auf. Kampf. Um die Braut. Sieg! Die Liebe triumphiert! Es jauchzt, jubelt, rauscht und wirbelt, schmettert, rasselt und prasselt – greifen ein alle Instrumente und nach dem Wink des Dirigenten, eines ältlichen Herrn mit säuerlichen Gesichtszügen. Zuletzt allein wieder das Horn, das wunder-wundervolle! – Dazu die herrliche Natur, der Mond und die Sterne, im Spiegel des Teiches, die Schwäne, und ringsum die Buchen, sie rauschen und raunen! Ich bin außer mir, bin hingerissen, eine unaussprechliche Seligkeit erfüllt mich, ich denke: die glücklichen Musikanten, o könntest du da so mitspielen! Ich fühle, dieses ungeheure Erlebnis bedeutet einen Wendepunkt in meinem Leben. Nun weiß ich, wozu ich auf der Welt bin. Musikant will ich werden, die Violine spielen lernen, nun endlich will ich's, üben will ich Tag und Nacht, um schnell vorwärts zu kommen!

Ich bin wie traumwandelnd, ohne zu wissen wie, ans Orchester gelangt und starre hinein in das zauberische Getriebe. Viele Konzertbesucher haben längst mich bemerkt, sie stoßen sich an und lachen.

Plötzlich ergreift Wieschen meine Hand, und ich falle ihr um den Hals: »Musikant will ich werden!«

Sie sieht meine Begeisterung, und das rührt sie.

Immer mehr Neugierige sammeln sich um uns. Buchhalters ist das peinlich. Angesehene Bekannte könnten kommen und sich wundern, mit was für sonderbaren Leuten sie da zusammen sind. Womöglich die Familie des reichen Brennereibesitzers, die man uns vorhin zeigte.

Erklingen danach zunächst wieder Tänze, Unterhaltungsstücke. Einen Namen jedoch verzeichnet noch das Programm, einen sehr berühmten, ich weiß es, nämlich Mozart, und gespielt wird die Ouvertüre zum Don Juan. Gleich im ersten markerschütternden Akkord, paukenumwirbelt: da steht er, der von den Sternen herabgestiegene Steinerne!

»Musikant! Lieber sterben sonst! Musikant, sonst nichts!«

Wiederum schaut sich alles um nach uns, und jetzt auch der bewußte große Brennereibesitzer.

Nur mit Mühe bin ich zum Fortgehen zu bewegen, als das Konzert aus ist. Die Nacht verbringe ich schlaflos. Immerfort bin ich beschäftigt mit dem Erlebten. »Musikant, sonst nichts!«

Ganz in der Frühe, als noch alles schläft im Hause, stehe ich heimlich auf, klettere zum Fenster hinaus und laufe schnell noch einmal ins Gehege, zum Musikpavillon.

Mit dem Frühzug wollen wir abreisen. Ich komme eben noch rechtzeitig zurück. Wir reisen wieder nach Hause, wo nun das neue Leben seinen Anfang nehmen soll und wie ich hoffe: im Zeichen der Musik.


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