Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ohne seine Tätigkeit auf dem Kornboden hätte Rentmeister Berkebusch es wahrscheinlich im Amt gar nicht ausgehalten. Das durchbrach etliche Male im Jahre das tägliche Einerlei des Dienstes. Da sah er den Acker, im Anblick der Kornhaufen, hörte er die Ähren rauschen, die Lerchen jubilieren darüber hin.
Der Kornboden, ein uralter gotischer Ziegelbau, mit Katzengiebel und einem runden Turm hinten, war ursprünglich das Fron- und Gerichtshaus, er hatte aber auch dem Kloster schon einmal gedient, denn unten in den düsteren Kellern, früheren Gefängnissen, lagerte altes klösterliches Gerümpel, wurmzerfressene Bet- und Beichtstühle, Kreuze, Prozessionsfahnen, der ehemalige Katholizismus des Klosters war hier nach Einführung der Reformation gewissermaßen hinabgesenkt und eingekerkert worden. Die vielen Räume im Erdgeschoß standen leer, weil man sich davor graulte. Im mittleren und zugleich größten und unheimlichsten hing nämlich vom Kreuzgewölbe herunter ein grausig vielsagender eiserner Ring, und so galt er für die ehemalige Folterkammer. Onkel Röhr erzählte gräßliche Malefizgeschichten, so allhier sich zugetragen hatten. Einmal habe der Henker »mißhauen«, und man hätte ihn dafür gelüncht. Ein anderes Mal, als einer gerädert werden sollte, hätte ein churfürstlicher Landreuter auf schaumbedecktem Rosse – leider zu spät! – noch die Gegenorder und Begnadigung gebracht.
Wo das Korn lagert, in riesigen Haufen, führt eine wackelige Leiter durch eine Luke in eine weißgetünchte Koje, mit einer wurmzerfressenen, uralten Lade, und darüber in der Wand ist ein Krampen befestigt: es hieß, hier habe der Nachrichter immer übernachtet, wenn Ein Hochnotpeinliches Halsgericht ihn herbeordert, und die Lade habe ihm zur Aufbewahrung des Richtschwertes gedient, am Krampen aber habe er das Rad aufgehängt.
Immer am Tage der Einlieferung des Getreidezehntens und später am Tage vor der Versteigerung muß der Rentmeister amtlich hin, und da muß ich auch mit dabei sein, das lasse ich mir nicht nehmen. Zuletzt aber steige ich hinauf in den Turm, und oben allerdings vergesse ich die unheimliche Henkerkoje und die Malefizgeschichten, hier schaue ich aus Schutt und Moder hinaus ins grüngoldene Leben, übers ganze Kloster hin und das Amt, dem Klosterpastoren gucke ich in seine Studierstube, und im Herrenhaus kann ich den verrückten Herrn Vetter sehen, im Amtsgarten den Herrn Amtmann, vor seiner Rosenschule, im herrlichen großen Klostergarten sehe ich die alte wunderliche Frau Äbtissin, wie sie auf den buchsumsäumten Wegen spazierenfährt, in ihrem zinnoberroten Eselwägelchen mit Fuchsschwänzen und Glöckchen, eine unnahbar adelstolze Dame aus der alten Welt, noch eine Krinoline tragend, Schmachtlocken, einen Schäferhut mit langen, langen und breiten Bändern. Mächtig bauscht die Krinoline im engen Wägelchen sich immer vor ihr auf, wie eine Bahnhofshalle. –
Mit einem Male wohnte der Klostertischler Dargel im Kornboden, der Vater von unserem Dortjen. Man hatte ihn in die Irrenanstalt bringen müssen, weil ihm vom vielen Beten, Fasten, Grübeln im Kopf ein paar Schrauben locker geworden waren. Er hatte sich dort allmählich beruhigt, und nun hatte man sein merkwürdig feines Gehör entdeckt, und er war Klavierstimmer geworden. Der alte Klostertischler war der Prophet unter den vielen Muckern, die es in der Heide gibt. Alle seine Söhne waren Missionare und predigten den Zulukaffern, den Buschmännern das Evangelium, und die hatten drei bereits erschlagen. Unser Dortchen nahm mich manchmal heimlich mit hin zu den großen Abendandachten. Unterm Vorlesen der langen Gebete und Traktätchen schlief ich zuletzt immer ein, sehr zum Verdruß des alten fanatischen Klostertischlers. Er kniete verschiedene Male vor mir nieder und flehte Gott um Gnade an für mich Sünder, es war ihm bitterer Ernst um mein Seelenheil.
Unterm Schutz der orthodoxen alten hannoverschen Landeskirche hatten die Mucker sich immerhin ganz zufrieden gefühlt. Als aber zu Anfang der siebziger Jahre mit Einführung der Zivilehe und anderer heidnischer Neuerungen an den Grundpfeilern des Christentums gerüttelt wurde nach ihrer Meinung, da schrien sie Zeter: Unser Hannoverland hat er bereits in seinen Krallen, der preußische Kuckuck, und nun reckt er seinen gierigen Schnabel auch noch aus auf unsern Glauben, die preußische unierte Kirche will man uns aufzwingen, weltlich und heidnisch will man uns machen! Mit nichten! Wir harren aus bis ans Ende! Mein Reich ist nicht von dieser Welt, sagt unser Herr Jesus. So kam's zur Separation. Hermannsburg mit seiner Missionsanstalt, das Rom und der Vatikan der frommen Haidjer, machte den Anfang. Der alte Klostertischler erklärte natürlich auch sofort seinen Austritt aus der Landeskirche, und seine Anhänger folgten ihm nach. Nun saßen sie im Kornboden wie die ersten Christen in den römischen Katakomben und bekannten ihren Glauben, nun kam man noch viel häufiger zusammen zum Singen, Posaunenblasen und Beten. Von Zeit zu Zeit kamen auch Missionare herüber, die schilderten mit Vorliebe die entsetzlichen Menschenfresser, ihre Verstocktheit, Verruchtheit. Hinterher hatte ich deshalb manchmal schreckliche Angstträume, und das wußte man zu Hause sich erst gar nicht zu erklären, besonders als ich im Traum zuletzt auch immer noch laut sprach, voller Entsetzen, man wolle mir die Haut abziehen und mich braten. Als ich aber anfing, vor jedem Bissen zu beten, ja, als ich schließlich in meine Eltern drang, Buße zu tun und sich auf den Himmel vorzubereiten: endlich kam man mir hinter die Schliche, und ich durfte nun nicht wieder mit hin zu den Muckern. Allmählich beruhigte ich mich und wurde wieder weltlich. Ich sah, daß der Himmel nicht aschgrau, sondern blau ist und die Erde grün und daß darauf blühen und duften Nelken und Rosen, und ich glaubte dem Vater, als er mir versicherte, unser Herrgott habe nicht aus Zorn die Welt erschaffen, sondern aus Liebe. Die Mucker im Kornboden aber legten in mir den Keim zu einer neuen Passion. Ich wurde vom Lesefieber ergriffen, ich las, daß mir der Kopf dampfte, und zunächst die Traktätchen, die mir Dortchen heimlich mitbrachte. Der alte Klostertischler versuchte nämlich noch eine Zeitlang aus der Ferne sein Bekehrungswerk an mir fortzusetzen. Danach nahm ich einen weltlichen Kurs. Ich las alles, was ich nur auftreiben konnte, mein Lesehunger war nicht zu ersättigen. Onkel Röhr mußte mir von den Büchern des verrückten Herrn Vetter welche leihen, die diesem von seinem Kurator immer in Massen geschickt wurden. Der Herr Vetter schmierte sie voll, mit gelehrten Notizen, deutsch, lateinisch, griechisch und hebräisch bunt durcheinander, ohne Sinn und Zusammenhang, und auch noch mit allerhand maßlos geringschätzenden Bemerkungen, mit Erlassen, Verordnungen, Androhungen, unterzeichnet: Der Oberkirchenrat m. p. L. S. Als ich auch damit durch war, ging ich zu Tante Nörchen: ihre vielen goldschnittgebundenen Almanache und Gedichtbücher von ihrem seligen Studierten – der Reihe nach schmökerte ich alles durch. Zuletzt auch Wielands »Oberon«. Alle »schönen Stellen« darin waren angestrichen von Tante Nörchens Hand, mit blassem Bleistift. Besonders alles auf Liebe Bezügliche.
* * *
Ich war inzwischen in die »Große Schule« aufgerückt, zu Herrn Küster Stute. Da eines Abends im März kommt der Vater unerhörtermaßen nicht zur rechten Zeit heim zum Abendbrot. Darob große Aufregung, Kopfzerbrechen, denn man hält der ländischen Sitte gemäß streng auf pünktliches Innehalten der Eßzeiten. Besonders Schwester Wieschen – unsere Kassandra – macht sich darüber schwere Gedanken.
Die Schwester half, schon seit sie konfirmiert war, dem Vater, sie ersparte ihm damit einen Schreiber. Und überhaupt sie kümmerte sich um alles, alles. Ihre Augen blickten immer ernst, ein Ausruhen, ein frohes Genießen des Daseins – sie kannte es nicht, immer lag's wie ein Druck auf ihr, immer war ihre Stirn umwölkt. Nicht daß sie eigentlich krank war –: dennoch wurde sie immer blasser, ihre Schultern spitzten immer schärfer sich zu, und immer flacher wurde ihre junge Brust. Wieschen kannte den Vater genau. Sie sah, wie wenig er paßte für sein Amt. Ihr entging nicht, wie seine Güte so vielfach mißbraucht wurde, wie man ihn um Vorschüsse anging, um Vorauszahlung der Gehälter und dergleichen mehr, und wie er alles, was der Amtskasse damit oft – ach nur zu oft! – verlorenging, aus seiner Tasche wohl oder übel ersetzen mußte. Schnell hatte sie sich eingearbeitet, bald wußte »Rentmeisters Wieschen« – so nannte man sie – in den Manualen und Registern besser Bescheid wie der Vater Rentmeister selber.
Horch! »Bimmellimmellimmel«: die Türklingel, und endlich kommt der Vater: »Es ist perfekt! Also kurz, eben hab' ich unterschrieben, Maack sein graugrünes Erkerhaus am Klosterweg ist jetzt unser Eigentum! Ihr kennt's, das liebe Häuschen, den netten Vorgarten. Hinterm Haus im Gemüsegarten wächst alles, was wir zum Leben brauchen. Dazu die vielen Bäume, auch Obstbäume, feine Sorten! Und die schöne Lage, der Wiethorn so nah, die Wiesen und darauf die Störche können wir sehen und sie klappern hören!«
Die Mutter, Wieschen ringen nach Worten.
»Ein Schwein wird fett gemacht. Hühner werden wir halten.«
Endlich platzt Wieschen heraus! »Aber Vater, zum Häuserkauf gehört –«
»Maack selber gibt die Hypothek. Nur tausend Taler sind nötig zur Anzahlung, der Tierarzt muß sie herausrücken, als letzte Abfindung für mich, er kann nicht darum herum. Vorerst leiht sie mir Maack auch noch.«
»Maack, um Gottes willen, er gilt für einen weißen Juden!«
Vater, beschwichtigend: »Wie manche Gefälligkeit hab' ich ihm erwiesen, er ist mir verpflichtet.«
»Ach, wenn's danach ginge, müßten wir wahrhaftig längst ein Rittergut haben!«
Auf den Garten wies der Vater immer wieder hin, auf das Schwein, die Hühner, was das alles für einen bannig großen Nutzen abwerfen würde, und vielleicht könne auch neben dem eigenen Schwein noch eins zum Verkauf fett gemacht werden. –
Nach knapp einer Woche siedeln wir schon über in unser Eigentum, am Klosterweg, in das graugrüne Erkerhaus mit dem riesigen, blechüberdachten Schornstein und den dunkelblauen Fensterläden. Obschon die Vorrichtung noch längst nicht beendet ist, Tischler und Schlosser dort noch klopfen, sägen, bosseln, feilen.
Feierlich ist der Einzug. Zu Anfang April ist's. Im lustigen Aprilenwind zappelt auf den Koppeln die junge Saat, überall brennende Sehnsucht ins Licht. Alles Gezweig ist übersät mit Knospen. Tausend und tausend tanzende Sternchen auf all den klebigen, dicken Knospen des Kastanienbaums, gleich an der Pforte. Nur die Eichen, schrägüber um die alte Schmiede, halten unwirsch und ungläubig den Frühling sich noch vom Leibe. Der Himmel quillt über in schönen, weißen Wolken, durchsprenkelt von lichtumsäumten Inselchen, und auch schon aus dem kleinsten Tüpfel Blau da oben spricht die volle Güte Gottes. Im Birnbaum vor der Haustür – er trug eine länglich-dicke und im Dorf besonders geschätzte Sorte, man nannte sie Bullenbeutelbirnen – da fängt, als wir anlangen, gerade die Stammamsel an zu flöten.
Ziemlich schnell waren wir eingerichtet. Auch der Schweinekoben, der Hühnerwiemen wurden gleich bezogen. Dafür sorgte Onkel Röhr, und auch einen Hund brachte er uns, eine Art Bracke, kohlschwarz, und er hieß Moor.
Grüner und schöner wird's mit jedem Tag. Nicht lange, und unsere Obstbäume blühen. Unsere! Der alte Birnbaum steht da wie eine beglückte Braut, er ist völlig überschneit von Blüten, und Onkel Röhrs Immen tun sich darin gütlich.
Frühling ist's, strahlender, jauchzender, grüngoldener Frühling – unser erster »eigener« Frühling, und alles genießt ihn und ist von seinen Wundern innigst beglückt, unser ganzes Haus, vom Schweinchen unten in der Bucht bis hinauf zu den wippenden Rotschwänzchen auf der First.
Schnell sind die Beete bestellt, vorne und hinten, und die eingesenkten Samenkörner, Knollen, Senker, Pflänzchen, sie keimen, fassen Wurzel, entwickeln sich. Eifrig werden sie begossen. Vorn auf den beiden Rundbeeten die Primeln, Aurikeln, Narzissen, Tulipanen, alles jubelt in den himmelschönsten Farben, widerspiegelnd unsere seligen Gefühle! Und immer neue Wunder kommen zu den alten, steht die allgewaltige Sonne doch erst im Widder und ist im Aufstieg. So werden aus Knospen Blüten, und Blüten aber setzen Früchte. Die ersten eigenen Salatblätter kommen auf den Tisch. Sie werden mit Rührung genossen, mit Feierlichkeit. Ebenso die ersten Radieschen. Es gibt keine schöneren! Obschon die Schnecken sie ziemlich arg angefressen hatten. Und nun aber nimmt die Begeisterung eine Richtung aufs Praktische. Täglich wird der Fruchtansatz untersucht der Johannis-, Himbeer- und Stachelbeersträucher, wie auch der Obstbäume. Man macht sich gefaßt auf einen nie dagewesenen Segen.
All seine Interessen, Gefühle, Freuden: der Vater hätte sich spalten mögen, zehnfach! Zu viel, es war zu viel, wie wenn ein vollerblühter Kirschbaum bestimmt wäre für eine Imme allein, die ganze Süße jeder einzelnen Blüte! Und als nach und nach angekommen waren auch die letzten der Zugvögel, da ertönte im Garten und vom Wiethorn herüber immerfort der herrlichste Vogelgesang. Das Gäckern der Hänflinge, das Gezwunsche der Grünlinge, der Finken feurig Würzgebier, das Gurgeln und Orgeln der grauen Grasmücken, der jubelhelle Überschlag der Schwarzplättchen und dazwischen die durchdringenden Rufe der Drosseln, ununterbrochen all das Klingeln, Schöckeln, Diedeln und Dittern, Lullen, Tiefen und Tüten und Trillern, das Gätzen, Tacken und Schnickern, immer hin und her und auf und ab! Auch die Frösche in der Katzenkuhle bekamen allgemach Gefühle und sangen abends ihre Kantaten, und das gefiel natürlich Storchens wohl, sie hörten von der Kate der alten Wehemutter ihnen gnädig zu und merkten sich die Plätze der besonderen hitzigen Heldentenöre.
Ja, wenn nur die Manuale und Register nicht wären und dazu der Geldkasten – überhaupt das Amt, das vermaledeite, denn zuvörderst ist Rentmeister Berkebusch doch von Staats wegen Beamter und hat seine Pflichten zu erfüllen!
Ganz ohne Innehaltung der Dienststunden geht's natürlich nicht ab. Aber nur halb ist der Rentmeister dabei, nur das Allerdringendste wird von ihm erledigt. Bergehoch liegen die Eingänge da, leichtfertig beiseite geschoben, und Staub lagert darauf. Die letzten Holzgelder zumal hätten längst erhoben und in die königliche Regierungshauptkasse abgeliefert sein müssen.
Wieschen beobachtet von ihrem Schreibpult aus den Vater, und schwere Sorgen macht sie sich. Unter ihren bläulich umschatteten Augen zeichnet eine eigentümliche Röte der Wangen fleckartig sich ab, scharf formt ihre Stirn sich heraus, unter dem dunkelbraunen und seidenweichen Haar. Ihre Stimme klingt belegt, sie hüstelt, es zu verbergen ist sie ängstlich beflissen.
Zum Glück tritt plötzlich Regenwetter ein. Das dämpft ein wenig, die Versuchung ist nun doch nicht mehr ganz so groß.
Im März hatte ein mörderischer Windbruch in den weitgedehnten Staatsforsten argen Schaden angerichtet und viele Holzverkäufe zur Folge gehabt. Das Holz ist längst gemacht und geklaftert, die Abfuhren sind gewesen, aber noch fehlt in der Amtskasse das meiste Holzgeld. Überhaupt noch nicht gerührt hatten sich die Herrschaften der »Hoffnungsliste«. In der Woche vor Pfingsten muß unbedingt alles erledigt sein, und Wieschen dringt darauf, daß die letzten scharfen Mahnungen endlich ergehen.
* * *
Pfingstsonnabend ist's. Nachmittags. Keine Minute Ruhe hatten sie sich gegönnt nach dem Mittagessen, Vater und Wieschen, gleich ließen sie die Federn wieder laufen. Eine schreckliche Woche war das gewesen, von früh an war die Schreibstube gar nicht leer geworden, sie glich einem Taubenschlag. Ein schöner Pfingstsonnabend das! Hohn der Hölle, und gerade heute Umschlag in der Witterung, nach dem trübseligen Regenwetter der letzten Tage regiert wieder die Sonne. Gold schwimmt wieder in der Luft. Mit tausend und tausend Blüten prangt unser alter Kastanienbaum, und dazu die Herrlichkeit des voll erblühten Goldregens, des Rotdorns, Schneeballs, der Syringen! Alles will die Sonne ja nun wieder gutmachen. Im Kastanienbaum schmettert ununterbrochen ein Fink. Früh am Morgen sind Küken ausgekommen, unsere ersten, man hört ihr beweglich Piepeln und der Glucke sorgenvolles Glucken. Unser Schweinchen studiert an einer richtigen dramatischen Arie. Ach Gott und der Vater –: das Holzgeld, das verdammte! Heute wird's ihm aber auch gar zu schwer gemacht. Wie oft hat er schon sehnsüchtige lange Augen gemacht, nach dem Fenster hin.
Im Hintergrunde, vor der graugestrichenen Registratur, an den mit Aufschriften versehenen Fächern sitzt Wieschen an ihrem Pulte, blaß und ernst und fleißig, wie immer. Wenn sie die Feder einmal absetzt, schaut sie sorgenvoll herüber: daß er nur ja heute fertig wird! Und die vielen noch unerledigten Eingänge auf dem Schreibtische streifen ihre Augen: wird man's merken oben? Es tut ihr weh, so schwer wird's dem Vater heute! Schon wieder laufen ihm die Augen weg, ins Fenster!
»Hm.«
Wie ein ertapptes Kind zuckt der Vater zusammen.
Wie der Vater, so der Sohn, nämlich auch ich mache ihr schwere Sorgen. Ich bin zum Stubenarrest verurteilt, weil ich in der Schule die mir aufgegebenen »Liederverse« zum Preise des heiligen Geistes nicht gekonnt und schmachvoll hatte nachsitzen müssen, daß ich sie nachlernen sollte. Ich war jedoch nicht zu bewegen gewesen, weder durch Gewalt noch durch gute Worte, die mir völlig unverständlichen Verse richtig zu lernen. Der heilige Geist, an den man zu denken und den man zu loben habe: Pfingsten, das Fest der »Ausgießung des heiligen Geistes –?« Auch merkte ich wohl, Vater stand heimlich auf meiner Seite. Wieschen aber setzte es durch: ich muß dafür büßen, Pfingstsonnabend, am Nachmittag, wo die Ferien bereits begonnen haben, es hilft mir alles nichts, da soll ich den heiligen Geist anerkennen, in Versen, die viel zu hoch für mich sind:
Nun bitten wir den heiligen Geist
Um den rechten Glauben allermeist,
Daß er uns behüte an unserm Ende,
Wenn wir heimfahren aus diesem Elende.
Kyrieleis!
Ich hocke in der Fensterecke auf dem Geldkasten, mit herabhängenden Beinen, steif und trotzig, über mir an der Wand hängt der sterbende Talbot. Vom Ofen schaut die geschiente Trappe stumm-verächtlich auf mich herab. Ich schiele zum Fenster hinaus. Ach, auch gar so schön ist's draußen! Blutsauer fällt mir das Lernen. Nur zum Schein blicke ich ins Buch und summsele die Worte halblaut und mechanisch vor mich hin:
»Wenn wir heimfahren aus diesem Elende.«
Nur der Schwester immer gleichmäßig eilige und fleißige Feder ist zu hören im Zimmer, und das unmutige und stoßweise Kritzeln des Vaters. –
Gar beweglich piepeln draußen mit einem Male wieder die Küken. Wie gerne brächte Vater ihnen wohl eine Hand voll Buchweizengrütze. Gleich jedoch muß es drei schlagen, und damit beginnt die Kassenzeit wieder, für den Nachmittag.
Horch: Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck! Zugleich klopft's auch schon.
»Herein!«
»Dag ok, Herr Rentmester. Ick bring nun Holtgeld.«
Wieder klopft's und wieder, und sie kommen herein getrampelt, die alten Haidjer, wie ein Auftrieb Rinder. Langsam, zögernd zieht man den Beutel, sehr mit Widerwillen.
Endlich ist die Stube wirklich einmal leer geworden. Vater atmet auf und wirft einen Blick in die Hoffnungsliste: »Natürlich, wer's wieder 'mal darauf ankommen läßt, ist der alte Krischan Prielop!«
Ein Wunder geschieht, der Genannte steht plötzlich da, pomadig und breitbeinig, und er verzieht den breiten Mund, zwinkert mit den Augen, und aus der Rocktasche holt er vorsichtig ein zusammengeknotetes, rotbaumwollenes Taschentuch heraus, in welchem es zappelt.
Vater aber stellt sich blind: »Mit Ihren lumpigen paar Klaftern Knüppeln –!«
»Kieken Sei mal, Herr Rentmester, 'ne lütje Kreihe heww ick Sei mitbrocht.«
Vater betrachtet mit Entzücken den jungen Vogel. Vergessen ist das Holzgeld, die Hoffnungsliste und alle Folterpein der Woche. Er kann sich nicht satt daran ergötzen, trotzdem Wieschen schon wiederholt »Hm« gemacht hat. Mit einem Male, wupp, sitzt die junge Krähe auf dem Schreibtisch, dicht neben dem Tintenfaß. Als man sie greifen will, flattert sie auf die Registratur, und da läßt sie zynisch etwas fallen just auf die stolze Bezeichnung »Königliche Regierungshauptkasse«.
Der Spaß ist denn doch zu gut, und sogar Wieschen schüttelt den Kopf und lächelt.
Jetzt ist die Gelegenheit günstig: »Och, Herr Rentmester, mit dat olle beschettene Holt, bet Jehanni möt sei mick noch Frist gewen.«
Wie oft schon hat Vater dem alten Sünder Frist gegeben und regelmäßig zuletzt das Nachsehen gehabt.
»Adjüs ok, Herr Rentmester, ick bedank mick ok.«
Für mich ist's mit dem Weiterlernen nun vorbei, alle Ermahnungen der Schwester sind vergeblich, die junge Krähe läßt mich nicht wieder los.
Drei Grünröcke kommen, sie sehen aus, haarig, sonnenverbrannt und verwittert, wie drei alte Faune aus dem Walde. Ihren erst Johannis fälligen Quartalsgehalt hätten sie gern schon zu Pfingsten. Man blinkt, die junge Krähe gewahrend, sich zu, und Förster Schrager von Sprakensehl macht eine nachdenkliche Nase: »Nanu, Herr Rentmeister, 'n Galgenvogel hier im Haus, wenn da man nicks dahinter is –?« Danach vom Börkeloh der alte Revierförster: »Deuker, auf'm ollen Kirchhof heute die Amseln und Grasmücken – wie sie singen, nich zu beschreiben, furns hin und sie hören, Herr Rentmeister, Feierabend machen, morgen is Pfingsten!«
Ganz still ist's nun im Zimmer. Die schon ziemlich tief stehende Sonne lugt fragend herein –? Vater blickt verstohlen nach der Kuckucksuhr. Verdammt, noch 'ne halbe Stunde Kassenzeit! Ich bin schon längst vom Geldkasten heruntergesprungen. Vater sieht etwas gezwungen pädagogisch mich an. Ich lasse ihn gar nicht erst zu Worte kommen und plappere meine Verse herunter, indem ich sie heimlich ablese.
Luft! Luft!
»Wieschen, ich – es – ja, was ich sagen wollte, wenn noch welche kommen, du weißt mit dem Holzgeld ja Bescheid.« Mütze und Stock ergreift er darauf hastig, und nach der jungen Krähe schaut er sich noch einmal um: »Sie wird doch nicht etwa –? In die Ofenröhre will ich sie zunächst setzen. So. Ist ja noch jung und harmlos.«
Bald sind wir auf dem gänzlich verwilderten alten Friedhof angelangt. Hier wird schon seit langen Jahren nicht mehr begraben, und so gehört er den Vögeln völlig zu eigen. Im Eichenkratt, in den verwilderten Rosen, Akazien, Lebensbäumen können sie trefflich nisten. Es ist hier so still, so lauschig, als horchten auch sie allesamt mit uns auf die holden Schnäbel, so längst da ruhen unterm Rasen. –
Abend wird's. Vor uns, hinter den Buchweizen-, Lupinen-, Hafer-, Roggen-, Kartoffelbreiten sinkt die Sonne, zögernd, wehmütig, wie ein leise sich abwendendes, tränenumflortes und doch glückliches Auge. So viele Freude hat sie heut gebracht in die Welt, so viel Fruchtbarkeit und Wachstum, so viel Glanz, so viel Schönheit! Als Pfingstsonne wird freudig nach einer kurzen Frist sie wieder heraufsteigen, an der anderen Seite, überm Wiethorn drüben, just da, wo das spitzige Türmchen der Klosterkirche über die Wiethornbäume zu uns herauflugt. Immer entschiedener breiten die Abendschatten sich aus. Wie von mütterlichen Händen ist sachte, sachte alles Leben um uns nun zugedeckt und zur Ruhe gebracht. Aus der Heide plötzlich ein lauer Südwind streichelt die glänzenden jungen Birkenblätter, den zarten Maiwuchs der Fuhren, Wacholder, die Halme unten und Kräuter. Würzige Düfte schmeichelt er ihnen ab, die nimmt er mit und trägt sie ins Dorf, und da ruht in stillfroher Erwartung des Pfingstfestes alles nun aus von der Arbeit.
Wir kommen zurück an unser Haus. Ein wildes Hin und Her dort – die Stimme meiner Mutter – nun Wieschen, Dortchen –: ist denn Feuer ausgekommen, sind Diebe dagewesen?
Plötzlich schallt's aus dem Birnbaum hart und boshaft: »Krah!« Und es poltert, flattert ungestüm in den Zweigen herum. Wir reißen die Gartenpforte auf. Meine Mutter vor der Haustür deutet in die Zweige:
»Ja, Berkebusch, dein junger Galgenvogel macht seinem Namen Ehre! Die Klappe an der Ofenröhre hat er sich selber geöffnet. Schreckliches Unheil hat er angerichtet. Hinausgejagt haben wir ihn!« Mit gedämpfter Stimme darauf: »Und erschrick man nicht, der Revisor wartet auf dich!«
Allerdings, schauerlich sieht's in der Schreibstube aus! Grünspecht und Lemming sind gänzlich zerrupft. Auch das präparierte Mäuseskelett ist hin. Akten sind aus den Fächern gerissen, durcheinandergeworfen und beschmutzt, auf dem Schreibtisch sind Sandbüchse und Tintenfaß umgeworfen, Stempel und Petschaft liegen auf dem Fußboden herum und auch sämtliche Gewichte der Goldwage. Ferner eine Fensterscheibe ist gänzlich zersplittert, zwei andere sind geborsten. Und vorm Schreibtisch, etwas abgerückt, da sitzt und wartet, finster und unheimlich wie eine Kreuzspinne: der Herr Revisor.
»Krahkrah!« krächzt draußen der Galgen- und Unglücksvogel, es klingt wie teuflischer Hohn, jawohl, und morgen ist Pfingsten.