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Kapitel 16.
Bach

Endlich wäre ich so weit. Schön und gut, wie aber im Ernst leben können in der großen Kunststadt, auch bei allergrößter Sparbeflissenheit? Bin ich doch ohne alle Hilfsquellen, arm wahrhaftig in meiner Haut wie eine Kirchenmaus – ja, Himmelsakrament, die realen Bedenken! Im lodernden Feuer meiner ersten Begeisterung hatte ich wirklich gleich nach meiner Rückkehr um Beurlaubung aus dem Schuldienst gebeten, in hohen Worten, da ich die Absicht habe, Musik zu studieren. Gleich danach aber in der Besprechung der Angelegenheit mußte ich auf Hochwürdens einfache Kernfrage, ob ich dazu denn auch tatsächlich die zureichenden Mittel habe, ihm die Antwort schuldig bleiben. Bei allem Pochen sonst auf das mir verheißene Stipendium. Ach, er hatte schon recht, und ich sah's ein, ich hatte mich übereilt, hatte unüberlegt gehandelt. Herrgott, ich hätte vor ihm in die Erde sinken mögen!

Nur mit Hilfe eines Gönners könnte ich ans Ziel gelangen, mußte ich mir sagen. Wie und wo aber einen solchen finden, der ein Herz hat für die Kunst und ihre Jünger?

Selbstverständlich denke ich gleich an den Oberförster, als den sicherlich einzigen Musikverständigen im ganzen Lande Mufrika, der auch zugleich vermögend ist und mir allerdings helfen könnte. Aber hatte er mich nicht beleidigt, hatte er mich nicht klein gemacht, als er mich damals beim Komponieren überraschte? Als Komponist, ha, ist man empfindlich!

Von einem Rittergutsbesitzer im Nachbardorfe war viel Rühmens, er täte was für alle möglichen guten Zwecke, man müsse ihn nur richtig zu nehmen wissen. Hinzugehen getraute ich mich nicht, und so bat ich ihn schriftlich um seine Unterstützung. Ich versprach mit heiligen Worten, ich wolle sein Darlehen ihm hoch verzinsen und ehrlich in Raten zurückzahlen, Sicherung könne ich ihm allerdings keine weiter bieten als mein Talent und meinen ehrlichen Namen. Keine Antwort erfolgte. – Darauf wandte ich mich an einen wohlhabenden Kaufmann im Kirchdorfe. Da hatte ich mir unlängst eine Hose gekauft. Ich sah durchs Fenster, im Vorbeigehen: er hatte ein Pianino in seiner besten Stube stehen, unter einer winzigen Gipsbüste von Mozart – Mozart wenigstens schien gemeint zu sein. Auf dem Klavierdeckel stand ein plattgewalkter, gußeiserner Wagnerkopf, mit Barett, zum Abstreichen von Zigarrenasche bestimmt. Konnte demnach die Kunst ihm doch nicht ganz gleichgültig sein. Ich erhielt eine zwar höfliche, aber ablehnende Antwort. Noch drei andere Wohlhabende im Kirchspiel ging ich darauf an, zwei schwiegen überhaupt, der dritte aber, ein reicher Brennereibesitzer, der schrieb mir gereizt, er verbäte sich derlei »Anzapfungen« ein für allemal.

Diese schlimmen Erfahrungen auf der Gönnersuche drückten mich tief danieder. Ich sah's ein, ich rannte gegen Felsen. Und auf den Oberförster komme ich schließlich wieder zurück, mag er sonst sein, wie er will, dennoch: er allein ist der Mensch danach, der wenigstens mich verstehen kann, in meiner tiefen Not. Sehr viel hatte ich inzwischen von ihm gehört. Wenig Gutes, leider. Ein Trinker wäre er, Atheist und Antichrist. Zwar wäre er verkracht mit seinen hochmögenden Vettern, wie überhaupt mit seiner ganzen hochadeligen Familie, jedoch man ließe ihn nicht fallen »oben«, trotz seiner Liederlichkeit im Amte. Bei ihm im Hause ginge es zu wie in einem verwunschenen Schlosse. Tagelang streiche er bei Kerzenlicht die Geige. Ferner hieß es, er stünde vollständig unterm Pantoffel seiner Haushälterin. Mit dieser, einer städtischen, üppigen Person mit Ponylocken, lebe er zusammen, es stinke zum Himmel.

Endlich überwinde ich meine Scheu. An einem schönen Sonnabend Mitte Mai, als die Birken in ihrer lieblichsten Bräutlichkeit prangen, am späten Nachmittag mache ich mich auf den Weg zur etwa zwei Stunden von mir entfernten Königlichen Oberförsterei. Um natürlich zunächst nach seinem Wunsche mit ihm zu musizieren.

Dorthin wird mit jedem Schritt die Gegend anziehender. Der bloße dürftige Anflugwald geht über allmählich in gepflegte Bestände. Ein Kolk nun am Wege. Sogar Wiesen. Ich bin voller Erwartung der kommenden Dinge. Des Fitis empfindsame Liedchen, den Gesang des Schwirrvogels, des Baumpiepers, an den düsteren Fuhren den Maiwuchs, wie er überall bereits sich stark bemerklich macht, am Brahm die dicken gelben Knospen – all das Schöne läßt heute mich kalt: unausgesetzt grübele ich darüber nach, wie ich, wenn alles gut geht, zuletzt meine Bitte anbringen wolle, mit den rechten, eindringlichen Worten.

Nun stehe ich am Tor der Oberförsterei. Neugierig luge ich durchs Gitter in den weiten und arg verwilderten Hof. Hochgetürmte Holzdimmen fläzen wie Barrikaden sich mir entgegen. Alte Ulmen, Linden umsäumen den gepflasterten Gang ans Haus. Plötzlich wütendes Hundegekläff auf mich. Kein Mensch aber läßt sich blicken. Tot, wie ausgestorben ist das Haus, ein alter, burgartiger Bau, mit vielen Um-, An- und Ausbauten. Die Haustür steht offen.

Kaum habe ich jetzt auf den Steinfliesen der Diele einen tieferen Atemzug getan, in der modrigen Luft, da stürzen vier Dackel zähnefletschend auf mich los. Matt fällt das Licht durch die altersblinden Flurfenster. Über der Flügeltür gerade vor mir hängt ein Eberkopf mit grimmen Hauern. Viele Geweihe ringsum, alte Waffen – Hakenbüchsen, Hirschfänger, Partisanen. Es ist, als wollte alles mich aufspießen. Unaufhörlich kläffen und toben die Hunde, drinnen und draußen. Schräg vor mir, sehe ich jetzt, ist die eine der Zimmertüren nur angelehnt. Ich schaue durch den Spalt beherzt hinein, wahrhaftig und ins Musikzimmer. Zahlreiche Leuchter in Silber, Bronze, Zinn, Messing, Kristall fallen mir auf. Über einem prachtvollen Flügel hängt ein Bachbild, schwer in Eiche gerahmt. Auf dem Flügel liegen Noten in wüstem Durcheinander, ferner eine Geige, eine Viola, eine alte wunderbare, silbertönige Viola d'amore. In der Fensternische lehnt zwischen Pulten mit grünen Blechschirmen ein Violoncello. Auch ein Tisch inmitten des Zimmers ist über und über bedeckt mit Noten, und dazwischen aber liegt ein Revolver.

Da, horch, im Nebenzimmer Schnarch- und Stöhnlaute. Das wird er sein, gewiß, er hat einen Rausch und schläft aus. Jedoch ich verharre in Trotz: wieder weggehen unverrichteter Sache, nein! Helfen muß er mir, denn nur er vermag's, nur er! Was auch passieren möge.

Der frechste der Dackel zerrt plötzlich mich an der Hose. Zugleich ruft eine kreischige Frauenstimme die Hunde an, und es erscheint eine üppige Person mit Ponylocken, mit einem knallroten Busentuch: »Herr Oberförster is nich zu sprechen, nich für Sie nich und nich für andere Leute nich. Woll'n Se sonst noch was?«

Ratsch, ein tüchtiges Loch hab' ich in der Hose, zugleich aber gellt ein Pfiff, und die Hunde lassen von mir ab. Der Oberförster ruft aus dem Nebenzimmer mir zu: »Bleiben! Noch etwas Geduld!«

Endlich kommt er zum Vorschein. Er riecht stark nach Alkohol, seine Hände zittern. Er bedeutet mir, Platz zu nehmen. Indem er selber sich setzen will, zuckt er zusammen, und angstvoll starren seine Augen in die Ofenecke: »Da, scheußlich, schon wieder – wieder!« Und trotz der Tageshelle zündet er hastig zwei Kerzen an.

Noch stärker aufgeschwemmt, dünkt mich, ist er. Schlaffer und tiefer noch hängt ihm die Unterlippe herab. Immer wieder starrt er in die Ofenecke. Noch drei weitere Leuchter zündet er an.

Ich raffe mich zusammen. Nicht feig will ich sein in meiner Schicksalsstunde. So breche ich begeistert gleich los über Musik.

Er nickt zuweilen zustimmend. Immer wieder aber schrickt er zwischendurch zusammen; und immer noch neue Kerzen setzt er in Brand.

Kürzlich hätte ich Gelegenheit gehabt, erzähle ich weiter, zum erstenmal in meinem Leben ein ganz vollwertiges, sinfonisches Konzert zu hören, in der Stadt, einen Beethoven-Abend, von Hans von Bülow und seinen Meiningern. Ich hätte den langen Weg dahin nicht gescheut.

»So, Sie waren auch da.«

Er auch. Und ich will nun los auf mein Ziel, bei dieser guten Anknüpfung. Dieser Beethoven-Abend habe entschieden über mein Leben, will ich ihm bekennen, Musikus wolle ich werden und ob – ob?

Forschend ruhen seine Augen auf mir.

Ich erröte, stottere, breche ab. Nein, lieber noch warten.

Er ergreift die Geige auf dem Flügel und stimmt sie.

»Eine Andrea Guarneri, Familienerbstück.«

Noten mir darauf reichend: »Hier Mozart, gleich mal die erste Sonate, die A-Dur.«

Ich mache meine Sache, nehme mich zusammen, denn heute gilt's, fürwahr: gilt's! Und er! Er spielt breit, markig, mit großem Ton und dabei auch wieder weich und zart, in sehnsuchtsvollem, süßem Vibrato. Ich stehe vor einem Rätsel: ein Oberförster und zugleich vollendeter Künstler, wie ist das möglich? Meine mannigfachen Versehen in Rhythmus und Phrasierung gleicht überlegen er aus.

So beenden wir den ersten Satz.

Weiter nun die Variationen. Mein Zeitmaß und meine Auffassung des leichtbeschwingten Themas sagen ihm zu.

Als er die erste Variation über zu pausieren hat, höre ich ihn plötzlich schwer seufzen, und er steht heimlich auf und zieht den Glockenzug.

Die Harpye. Er erteilt ihr leise einen Auftrag. Gleich darauf erscheint sie wieder, während ich immer noch an meiner Solovariation klimpere, mit vielen Fehlern. Sie bringt etwas, und das stellt sie auf das Tischchen zur Rechten seines Pultes. Bierflaschen höre ich danach klappern, kluck – kluck – kluck – kluck – wird eingeschenkt und in tiefen Zügen das Glas geleert.

Bei der zweiten Variation aber, die er mitzuspielen hat, hält er seine Geige wieder spielbereit in der Hand, und prompt, als wenn nichts geschehen wäre und er ruhig die Takte abgezählt hätte, erfolgt sein Aufstrich. Und überhaupt im weiteren Verlauf des Spieles, immer wenn er einige Takte Pause hat, höre ich, wie er sich einschenkt und mit großer Gier trinkt. Niemals jedoch verpaßt er einen Einsatz.

Und er schenkt auch mir jetzt ein: »Hier, trinken Sie. Musik setzt die Eingeweide in Brand. Wie die Liebe. Kenne das. Und da muß man löschen. Besser aber allemal Flaschen als Weiber. Lassen Sie die Weiber. Prosit! Löschen!«

Ich gebe ihm Bescheid. Immer in vorsichtigen Schlucken. Manchmal markiere ich auch nur. Mit Schrecken sehe ich, wohl zwanzig Flaschen hat er bringen lassen, die alle bereits entkorkt sind, also – um Gottes willen! – getrunken werden sollen.

Noch verschiedene Sonaten spielen wir, und fast in jeder größeren Pause höre ich immer wieder das fatale Kluck – kluck – kluck – kluck und die gierigen Schlucke, und nach jedem beendeten Satz heißt's: »Prosit! Löschen!«

Wie eine rote Teufeline, direkt aus der Hölle heraufkommend, schaut unter ihren Ponylocken hervor von Zeit zu Zeit die Haushälterin zur Tür herein und mit bösen Blicken. Ich beobachte, so sehr er sich offenbar sonst vor ihr fürchtet, in seiner Kunst will er sich nicht unterjochen lassen, und deshalb weist er sie jedesmal mit herrischen Gebärden hinaus. Als verteidige er sein letztes Recht.

Sein Bechstein ist mir gefügig, noch nie habe ich einen so herrlichen Flügel gespielt. Dazu der feierliche Raum. Die vielen Kerzen, und immer noch zündet er welche an. Und immer wieder starrt er in die Ofenecke.

Es schlägt elf, zugleich meldet die rote Teufeline: »Is serviert.«

Wir begeben uns ins Speisezimmer nebenan, an eine üppige Tafel. Funkelnder Wein, in einer herrlich geschliffenen Karaffe und dazu die bereits aufgetragenen köstlichen Speisen. Spargel – ich kannte dieses edle Gewächs nur vom Hörensagen –, Schinken, so leuchtend rot, so unbeschreiblich appetitlich!

Wir setzen uns. Er nötigt mich zuzulangen. Ich hatte vorher nichts von Hunger gespürt in meiner musikalischen Weltentrücktheit. Nun aber schreit mein Magen vor Verlangen geradezu auf.

Er öffnet das Fenster. Die wunderbarste Maiennacht draußen! Durch die Zweige der Linden, Ahörne, Eschen kann ich von meinem Platz aus viele Sterne sehen. Die jungen Blätter der Würzpappeln, alle Blumen im Garten hauchen herein ihre Düfte. Fern im Dorfteiche klingeln die Unken. Eine Nachtigall schlägt. Und an Adelaide muß ich wieder denken, wie schon vorhin bei Mozart. Spargel mit Schinken, perlender und lieblich duftender Moselwein, der Nachtigall abwechselnd schluchzende und jubelhelle Strophen, dazu Lieb' im Herzen, dazu Mozart, von vorhin noch mir in den Ohren nachklingend: paßt schon alles gut zusammen, Sela!

Nur, ach, der Gastgeber selber paßt nicht dazu. Wie vorhin Bier trinkt er jetzt Wein, ein Glas gierig nach dem anderen. Er ist offenbar ausgepicht. Die Speisen aber rührt er kaum an. Mir dagegen schmecken sie wie Himmelsmanna. Ich schwelge wie Papageno, als seine Prüfungen angehen. Ja, ja, ich stärke mich, und das allerdings habe ich nötig: nach dem Essen sage ich's ihm! Dazu aber brauche ich meinen vollen Verstand. Deshalb komme ich seinem vielen Nötigen, ihm im Trinken Bescheid zu tun, nur mit Vorsicht nach und mit dem Hintergedanken, zu meinem Vorhaben mir Mut zu trinken immerhin. So herrlich sein Mosel mir auch duftet und schmeckt – der Wein betört das Menschenherz, drum alter Jesus Sirach, trefflicher Weinkenner, mache mich standhaft!

Als wir uns erheben und ins Musikzimmer zurückgehen, schlägt's zwölf. Mitternacht. Ich trete an ihn heran: »Verehrter Herr Oberförster, ich – ich –«

Aber er sieht mich nicht, hört mich nicht, wie abwesend blickt sein Auge: »Ich sehe,« wendet er sich an mich, »Sie haben viel wahres Gefühl für Musik, Ihr Geschmack ist unverdorben, Sie haben auch ein ganz beachtliches Können sich bereits erworben, Ihre weitere Entwicklung interessiert mich, und wenn Sie mir einigen Einfluß darauf vergönnen wollen, soll mich's freuen. Sie haben die klassischen Meister mit Fleiß studiert und damit den einzigen richtigen, guten Grund gelegt. So voll ich Ihre Liebe für diese Herrlichen auch teile, selbstverständlich, dennoch: sie geleiten uns nur in den Vorhof zum Allerheiligsten. Sebastian Bach aber ist der wahre Gottvater der Tonkunst! Kann's immerhin verstehen, daß er Ihnen und auch wohl mehr aus Zufall fremd geblieben ist bislang. Jetzt aber, glaube ich, haben Sie die Reife, und so möchte ich Bach Ihnen gern erschließen. Johann Sebastian Bach – wer tiefer eingedrungen ist in den Geist seiner Werke, ja, was könnte den noch überraschen oder gar anfechten! Alle Akkorde späterer Meister und alle Rhythmen, Gestaltungen – ist alles bei ihm zum wenigsten doch schon angedeutet. Will man überhaupt das höchste Lob spenden einer Komposition, man nennt sie ›Bachisch‹ in ihrem Fundamente, man spricht von ›Bachischen Bässen‹. Alles Tiefste, in der Gestaltung Kunstvollste, Mächtigste, das nur immer später geschrieben wurde, wahrhaftig, konnte nur so werden aus seinem Segen heraus.«

So in flammenden Worten spricht er sich aus. Ich höre ihm staunend zu. Ist das derselbe Mensch, der vorhin –: die Flaschen, ja, da stehen sie, und sie sind ausgeleert!

Meine Unsicherheit und Unwissenheit gewahrend, schon aus meinem naiven Staunen über seine Worte, geht er darauf näher auf das Technische ein, mir die strenge kontrapunktische Ausdrucksweise Bachs erläuternd. Wie man zu erkennen und zu bewerten habe einfachen und doppelten Kontrapunkt, Nachahmung, Kanon und Fuge, was ein Orgelpunkt ist, ein Basso ostinato usw., so viel Licht breitet er darüber aus, daß mir das alles, auch das mir schon lange Bekannte, neu erscheint. So riesengroß er dabei vor mir aufwächst, so erbärmlich schrumpfe ich vor ihm ein im Gefühl des mir alles noch Fehlenden. »Gottlob, daß du geschwiegen hast,« sage ich mir.

Und zuletzt die Poesie. Von Bach, dem gewaltigen Poeten in Tönen, vermittelt der Oberförster mir Begriffe, auf dem Klavier wie auf der Geige. Lauter besonders charakteristische Sätze wählt er aus. Er spielt, wie ich nun höre, auch ausgezeichnet Klavier. Zuerst führt er mir vor aus dem dritten Bande der Orgelwerke das Präludium mit Fuge in C-Dur, in wundervoll polyphonem, ganz orgelhaftem Spiel. Danach verschiedene der so wunderbar intimen, in ihren Stimmführungen so unnachahmlich kunstvollen Choralvorspiele: »Es ist das Heil – In dir ist Freude – Valet will ich dir geben – Schmücke dich, o liebe Seele – An Wasserflüssen Babylon – Von Gott will ich nicht lassen«.

Er stöhnt fürchterlich dabei, Laute, als ersticke er, als müsse er sterben. Ich lausche ihm in Wonne abwechselnd und tiefster Ergriffenheit, bleibe immer am Faden, kann zu meiner Verwunderung ihm folgen, als hörte ich Beethoven. –

Ins offene Fenster herein schlug immer wieder die Nachtigall in die Töne Bachs. Waren alle Kerzen inzwischen vertropft, heruntergebrannt, im Verblassen draußen die Sterne: da ergriff er die Geige, und er spielte noch verschiedene Sätze aus den Suiten für Violine allein, eine entzückende Bourrée, eine Gavotte, eine Sarabande. Zuletzt aber, als es schon fast hellichter Tag, setzte er sich wieder ans Klavier, und aus den Kantaten spielte er mir noch vor, aus »Bleib bei uns, Herr, denn es will Abend werden«, aus »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, und besonders eifervoll, mit leidenschaftlicher Eindringlichkeit des Vortrages aus den verschiedenen requiemartigen Kantaten, zugleich singend stellenweise, so gut er's mit seinem kratzigen Basse vermochte. Bach hier und das Mysterium des Todes! Im Tiefsten seiner Seele erfüllt von den Bibelworten »Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben«: gerade diese Requiemkantaten sind für Bach bezeichnend, sie sind sein Eigenstes, Stärkstes, Persönlichstes. An Schwester Wieschens so traurig frühen Tod muß ich dabei denken. Ja, ich erlebte den Tod, fühlte tief, was er bedeutet: wahrlich und so bin ich in jeder Weise vorbereitet, musikalisch wiedergeboren zu werden im Glauben an Bach. Er sieht mir's ab, ich finde unter seiner Führung mich schon hin und hinein.

Endlich macht er Schluß.

»Hab' Ihnen das heilige Land nun gezeigt. Gewissermaßen wie vom Berg Horeb der Herrgott dem Mose das Land Kanaan zeigte. Wie alles Gehaltvolle, Tiefe, das nicht daher schwimmt auf der Oberfläche, will auch Bach aufgesucht und errungen sein. Nun an die Arbeit. Lassen Sie sich's nicht verdrießen. Hier haben Sie die Sonaten für Klavier und Violine, sie sind freilich schwer, aber suchen Sie hineinzukommen. Und hier auch noch das wohltemperierte Klavier, würde mich freuen, wenn Sie mir bald was daraus vorspielten.«

Die Sonne ist aufgegangen, blitzen und jubeln ihre Strahlen mir entgegen, als ich endlich den Heimweg antrete. Was für eine Nacht, mir ist, als hätte ich das Erlebte alles geträumt, ja, als träumte ich immer noch daran weiter, wie ich so dahinschreite in die Richtung meiner drei Dörfer Hamelsen, Pahlsen und Putersen, im Lande Mufrika, wo nun trotz all seiner Prosa und Schweinezucht Bach in seiner ganzen Herrlichkeit sich mir offenbaren sollte.

Die Sonne immer vor mir. Ich trage meinen Hut in der Hand, kühlt der Morgenwind mir den übernächtigen Kopf, der Heide-, Föhren-, Wacholderduft haucht Balsam mir in die Lungen. Dazu die Lerchenlieder am Himmel um und um. Unermüdlich ruft ein Kuckuck. Oh, so taufrisch der Morgen, so strahlend, beglückend, ganz so einer wie nach Beethoven im Kiekebusch. Der Oberförster hat recht, wahrhaftig und daß er mich klein gemacht hat, dankbar muß ich ihm dafür sein! Zu Bach – auch Bach mir erst noch erobern, das nur kann einen vollwertigen Musikus aus mir machen, und deshalb wahrlich hätte es gar keinen Zweck für mich, jetzt schon gleich aufs Konservatorium zu kommen, ich seh's ein.

Wie im Kiekebusch die Natur mir Beethoven widerhallte, aus jedem Halm und Blatt, in tausendfachem Echo: so heute Bach. Ist um mich und in mir, was ich auch sehe, höre, denke, fühle, heute alles, alles Bach. Wie ich im Tiefsten durch den Oberförster ihn erlebt habe. Auch das Leiseste, Verschwiegene, und so auch meine Gedanken an sie, Adelaide, sie sind durchhallt, durchtropft, durchweht, durchzittert von Bach.

Bach, Gott, Liebe, Welt: alles eins, von Aufgang bis Niedergang ein Strom der Liebe durch alle Kreatur, visibilium omnium et invisibilium – ein Strom der Liebe!

Jede Birke um mich, es ist als betete sie an. Kyrie! Sanktus, sanktus! Mir zittert das Herz, und auch ich breite betend meine Arme aus auf die Sonne.

Amen, und ich werfe mich nieder, ich küsse die Blätter um mich, die Halme, die Heide.

Ich erhebe mich wieder, sehe mich um. Die Himmelsbläue, die schöne Welt! Drum Gloria in excelsis – um mich die ganze Schöpfung, sie ist ein einziges Gloria in excelsis! Und dazu Bach. Nach allem Gehörten, wahrlich, nicht müde wird er, das Herrliche, Gott zu loben, zu preisen, zu rühmen, kein anderer Meister tut's ihm gleich. Gloria – gloria in excelsis!

Endlich komme ich zurück an den Kolk am Wege, und hier, am Rande, auf einem moosüberwachsenen großen Findling lasse ich mich nieder, ruhe mich aus. Ja, was für eine Nacht! In seinem Spiel gleich das C-Dur-Präludium mit der wunderbaren Fuge klingt mit Macht immer wieder in mir auf. Die Stimmen hier in ihrer Führung, der Baß: gewaltig, gewaltig! Laut singe ich das präludierende Motiv und markiere dazu die charakteristischen Synkopen. Herrlich, herrlich, es einmal hören und nie wieder vergessen, wie Verse aus Schillers tiefer und zärtlicher Seele! Diese Töne, so beseligend sind sie, erhaben, väterlicher Güte voll, und schon allein in der bloßen Erinnerung an das C-Dur-Präludium muß ich bekennen, frei nach dem Psalmisten: meine Seele dürstet nach Bach, der Oberförster hat seinen Zweck erreicht.

Ununterbrochen trillern weiter über mir die Lerchen. Unaufhörlich ruft wieder der Kuckuck. Glück, Glück ohne Ende. Wie ein Siegesläuten, voll heraus aus der Himmelsglocke, klingt mir zuletzt die ganze Welt.

Im Kolk spiegelt sich mit all seinen frohgemut dahinsegelnden lichten Wölkchen der Morgenhimmel. Ich wasche mich nun darin. Bin davon wunderbar erfrischt. Eine gliederlösende Müdigkeit überkommt mich darauf, ich gleite vom Stein herunter und sinke, wie ich daliege, in einen süßen, stärkenden, traumlosen Schlummer. – Endlich kommen sehr geräuschvoll Leute vorüber, Kirchgänger. Davon erwache ich. Eilig und auf dem kürzesten Wege, queröd durch das knorksige Heidekraut gehe ich heim, nach meiner Schulkate.


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