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Die unerwartete Revision hatte bis tief in die Nacht hinein gedauert, und die Sache hatte den Vater schlimm mitgenommen, er schwieg darüber, so sehr man auch in ihn drang. Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, fing er mörderlich an zu arbeiten.
Auch ein Brief war gekommen während unserer Wanderung, ein besonderer, nämlich ein Brief vom Schwager Geometer, dem Mann meiner Stiefschwester, und er war an Wieschen gerichtet.
Der Schwager Geometer war ein Mann, den man nicht übersehen konnte, er maß sechs Fuß, wie Hermann, der Cherusker. Der Schwager Geometer sprach immer ungeheuer »autoritätisch«, logisch, pädagogisch, er ging den Dingen auf den Grund, er war kein Romantiker, der Schwager Geometer, und auch kein Naturmensch. Sein Brief nun an dem Unglücksabend beschäftigte sich ausschließlich mit mir, es war die Antwort, wortreich, gründlich, auf einen großen Klagebrief über mich, in welchem Wieschen ihm dargelegt hatte, daß ich in der Schule nicht vorwärts käme, und kurzum, es könne so nicht weiter mit mir fortgehen. Und der Schwager Geometer, die Hauptsache wäre, schrieb er, daß »Karlchen« – immer nannte er mich ironisch so! – stets unter »strengster Klausur und Kontrolle« stehen müsse. Mit »Konsequenz«, mit »unbeirrbarem sittlichem Ernst« müsse man »es« behandeln. Das beste freilich wäre, »es« käme so schnell wie möglich weg aus der »schlaffen Luft zu Hause«, und in die Stadt, auf die hohe Schule – aufs Gymnasium, denn das stünde fest, nur allein die humanistische Bildung mache erst den vollgültigen Menschen. –
Die nächsten Folgen waren, ich bekam Privatstunden bei Herrn Küster Stute, und zwar eigens in den mir am meisten verhaßten Fächern, in Rechnen und Rechtschreibung. Die Singvögel schwiegen nun für uns. Der Galgen- und Unglücksvogel behielt das letzte Wort. Trauer senkte sich herab auf unser Haus, auf unsern Garten. Unser Gockel krähte jetzt nur noch halb soviel und nur eben pflichtgemäß, wollte mir scheinen, und auch unser Schweinchen schien eine trübe Ahnung von seinem Daseinszweck bekommen zu haben.
Küster Stute quälte sich rechtschaffen mit mir herum, mir die vier Spezies und ihre Anwendung begreiflich zu machen und mir beizubringen imgleichen die Regeln der Grammatik und Rechtschreibung. In meiner Verzweiflung suchte ich Trost bei den Muckern, und das bewirkte einen schrecklichen Rückfall ins Lesefieber. Tante Nörchens goldschnittgebundenen Almanache, die mir so wohlgefallen hatten, schmökerte ich alle wieder durch. Trotz der frisch erneuerten Privatstunden: mein Kopf blieb hart wie zuvor, es war sozusagen kein Loch in ihn hineinzubringen. Durch Anwendung allerhand schändlicher Kniffe gelang mir's, Wieschen lange zu hintergehen. Mit den Gebärden des Fleißes nämlich tat ich, als wenn ich lernte, wenn ich so dasaß auf dem Geldkasten, in meiner Fensterecke. Endlich aber schaute sie mir einmal heimlich über die Schulter. Statt ins Hannoversche Kirchengesangbuch und hier in die guten und moralischen Liederverse: »Jesus geh voran, auf der Lebensbahn«, die ich zum Lernen aufbekommen hatte, ach Gott, statt dessen las ich ganz andere Verse, höchst weltliche: wieder den »Oberon«.
Die Antwort vom Schwager Geometer, als Wieschen ihm den schrecklichen Vorfall gemeldet hatte, war kurz diesmal, er schrieb, er habe sich einen Urlaub erwirkt und werde persönlich erscheinen, zur Beratung darüber, was mit Karlchen geschehen müsse, und wie's anzufassen sei. Die Sache wäre denn doch zu ernst!
Als nun gekommen war die Zeit der großen Bohnen oder Saubohnen, auch Puffbohnen genannt, die er über alles gern aß, mit Bauchspeck in hannoverscher Weise zubereitet, daß er sich stets seinen Urlaub danach einzurichten pflegte: wirklich da kam er, seine ganze Familie brachte er mit, und unser Haus wurde voll. Hans, Heinz und Franz, seine drei Musterknaben – ach, hundsjämmerlich steche ich gegen sie ab! Alle drei sind sie sich zum Verwechseln ähnlich, alle drei haben sie die kalten, scharfen Vogel-Strauß-Augen des Vaters. Über ihre Wohlerzogenheit, Adrettigkeit, Artigkeit, Nettigkeit, Aufmerksamkeit, Höflichkeit, Gefälligkeit, Geschicklichkeit, Klugheit ist denn auch sofort nur eine Stimme der Bewunderung, und ich werde unaufhörlich, wo ich mich mit ihnen auch nur zeige, mit ihnen verglichen. »Da nimm dir man 'n Beispiel an, Karlchen, das sind Jungens, die tun recht, die machen ihren Eltern Freude!«
Und ich nun vors Inquisitionstribunal. Auf fast alle Fragen des Schwagers Geometer nach Ländern und Städten, wichtigen Begebenheiten in der Weltgeschichte, nach Bibelsprüchen, Liederversen, Lehren des Katechismus – er ist ein Lehrersohn und gut beschlagen –: da bleib' ich stumm wie ein Fisch, blicke starr wie ein Fisch und atme gewissermaßen wie durch Kiemen, angstvoll, mit offenem Munde. Nicht einmal die Landeshauptstadt weiß ich zu nennen, nicht einmal die Namen der drei Erzväter, der vier Evangelisten. »Sag du das, Hans! Sag du das, Franz! Sag du das, Heinz!« Die aber haben alles am Schnürchen, sie wetteiferten förmlich untereinander, zu meiner Erniedrigung. Fragen, auf die ich hätte antworten können, aus vollem Herzen, erfolgten leider nicht. Nach Vögeln, Käfern und Buttervögeln, Blumen, Bäumen, denn für dergleichen hat der Schwager Geometer keinen Sinn.
Immer plümeranter wird mir zumute. Und das Allerschlimmste zuletzt. Die vier Spezies, wie die vier apokalyptischen Reiter schlagen, mähen, stechen sie nur auf mich ein, der Angstschweiß rinnt mir über die Nase, in dicken Tropfen.
Wird schließlich mir kundgemacht, der Schwager würde mich mitnehmen, in die Stadt, als sein Pensionär, ich würde dort – es ist ein ödes Fabrikstädtchen im Osnabrückischen – auf das hochangesehene Königliche Gymnasium Georgianum kommen.
Man redet mir gut zu, denn man ist auf Trotz und heftigen Widerstand gefaßt. Jedoch ich zeige mich ganz bereitwillig. Aus eingebildetem Heldentum.
Ob meiner Fassung beim Abschiednehmen ist männiglich geradezu verblüfft! Onkel Röhr freilich nimmt die ganze Schose kritisch. »O Krüzdunnerdeubel,« wettert er los, »ich mein', der ganze olle dämliche gelehrte Krimskrams is 'was vor die Minderen und Miesigen, was keine richtigen Knochen nich hat, was 'n Buckel hat, oder 'ne Hühnerbrust, oder in die Kuhle tritt, Deubel, un zu was Ornliches sonst nich zu brauchen is. Laßt den Jungen lieber graben und harken, sägen, feilen, hubeln lernen!«
Endlich ist's so weit. Abschied. Wieschen gibt noch am Wagen mir gute Lehren. Als unser Wagen hinter der Schmiede um die Ecke biegt, schau ich mich noch einmal um. Alle stehen sie noch an der Gartenpforte, Wieschen, Dortchen und Moor und die Eltern – der Vater in seinem schlohweißen Haar. Die Tücher wehen, winken noch einmal – herüber, hinüber – nun ist nichts mehr zu sehen.
Meine Schwester, die Neffen um mich, das schluchzt um die Wette. Ich aber bewahre meine Fassung, ich sitze da mit der Miene eines jungen Römers, der in den Krieg zieht. –
Im Königlichen Gymnasium Georgianum nun – ja, wenn nur unser gestrenger »Ordinarius« mir nicht gleich alles verdorben hätte! So feige wie gegenüber den Frechen und Begabten, so heimtückisch war er gegen die Zagen, Bescheidenen, Unbegabten, blitzschnell hatten sie eine schallende Backpfeife weg, indem er seine knöcherne Rechte von der Linken auf sie abfedern ließ, das geschah im Verborgenen, und er zischte: »Da hast's, Helot, bornierter!« Solche Backpfeife hieß »Sluß«, und wenn sie erschallte, machte die ganze Klasse die entsprechende Handbewegung mit und grunzte: »Sluß!« Dem Schwager Geometer zu Gefallen, der mit den Lehrern allwöchentlich in einem Kegelklub zusammenkam, wurde ich, so schlecht ich mich auch machte, dennoch in die Quinta versetzt. Leider sollte eine neue Passion schnell mein Verderben herbeiführen. Die Sammelwut ist's nun, die packt mich! Briefmarken hatte ich bereits gesammelt, Steine, Münzen: jetzt aber sammle ich Franzosenknöpfe. Im Kriegsjahre war in der Nähe der Stadt ein großes Barackenlager kriegsgefangener Franzosen gewesen. Die hatte man natürlich oft besucht, und da hatten gegen Zigarren und andere Geschenke die dankbaren Franzosen sich die Knöpfe abgeschnitten und hergegeben. Die messingenen Knöpfe der Linienregimenter mit den großen Nummern, die kleinen, rundlichen Knöpfe der Achselklappen, Knöpfe von den Chasseurs d'Afrique, oder gar von den Turkos und Zuaven, die zu sammeln, durch Klüngel und Austausch gegen Marken, Münzen usw., das ist nun meine Passion. Ich bin so gänzlich erfüllt davon, ich denke kaum noch an was anderes. Viele Schüler sammelten damals Franzosenknöpfe, an Schnüren wurden sie aufgereiht, und man putzte sie immerfort, daß sie blitzten. Das aber bringt mich leider auf die schiefe Ebene, ach und immer tiefer gleite ich ab, auf die letzte Bank und hier schließlich glücklich bis an den »Damm«, den bildete ein Schüler, der wurde Kalli genannt. Er war muskulös, groß, fett und viereckig wie ein ausgelernter Bierbrauer, nur leider das Lernen wurde ihm, ach, so unsäglich schwer! Wie fröhlich konnte Kalli draußen lachen, die hellen Tränen rollten ihm immer gleich über die Backen. Dagegen in der Klasse – schon gleich der angstvolle Ausdruck seiner kleinen, tiefliegenden, blaßblauen Augen, wenn er nach dem Lehrer schielte aus Furcht, er könne vielleicht daran kommen. Und wenn sich's wirklich ereignete, da schrumpelte er zunächst die flache, ach, so flache Stirn und fuhr sich mit den großen Händen durch die kurzgeschorenen Haare, endlich erhob er sich, schwerfällig wie ein junger Elefant, und sah den Lehrer flehentlich an.
Am »Damm« sitze ich, neben dem Kalli, zu Schwager Geometers Beschämung und Empörung, und nun aber muß ich in seinem Arbeitszimmer meine Schularbeiten machen, so eng es hier durch den großen Kartentisch auch ist. Unter strengster Klausur und Kontrolle jetzt, allerdings. Das aber ist zu viel, ich bin bockbeinig, mit mir ist jetzt durchaus nichts mehr anzufangen, der Schwager kriegt's endlich dick mit mir, und ich komme wieder nach Hause.
* * *
Einen anderen Plan hatte Wieschen mit mir im Sinne. In einer nicht so weit entfernten Stadt wollte man's noch einmal mit mir versuchen. Da könnte man öfter mal nachsehen. Die Stadt lag allerdings »drüben im Preuß'schen«, in der Altmark. Jedoch es hieß, da würde es nicht so streng genommen, ein ganz besonders guter Direktor wäre da, der ließe niemand durchfallen, das brächte er vor lauter Güte nicht übers Herz. Die humanistische Bildung stand hier demnach unter milderen Bedingungen. Und ferner: da war Jul, der Sohn von Aktuar Michaals, mit mir im gleichen Alter und dabei ein Muster von Fleiß, Folgsamkeit und Bravheit. Hauptsächlich auch dadurch, meinte man, würde er den denkbar besten Einfluß auf mich ausüben, weil er überhaupt in allem so völlig anders wie ich wäre: sehr gesetzt und nicht immer »über sich hin«, und keinen Jokel, keine Kinkerlitzchen und Faxen habe er im Kopfe. Jul besuchte allerdings schon die Quarta. Er war in einer Pension bei einem Klempnermeister, mit noch sieben anderen Schülern, aus verschiedenen Klassen. Einer feuere den anderen an, hieß es, und so herrsche unter den Schülern dieser Pension ein idealer Wetteifer. Nur kurze Zeit sollte ich zu Hause sein, daheim ja nicht erst wieder warm werden. Wieschen hatte sich das alles klug gedacht und ihre Anordnungen danach getroffen. Der Vater wollte zwar durchaus erst nicht. Über die Ise weg, den kleinen Grenzfluß, und ins Preußische hinein? Die wackeren alten Welfen murrten, ja der Nachbar Schmied und Oskar, kaum daß sie uns mehr grüßten. Wieschen jedoch setzte es durch, sie brachte mich hin.
Zunächst ein schwerer Gang, nämlich in die Prüfung. Ein Jahr habe ich bereits anderswo in der Quinta gesessen, verständigt der Pensionsvater den Herrn Direktor, und hier wünsche ich demnach in die Quarta zu kommen, folgerichtigermaßen. Die Vokabeln, nach denen er darauf fragt, allerdings, die weiß ich: Alauda – die Lerche, rana – der Frosch, corvus – der Rabe. Und zu konjugieren habe ich das Allerleichteste – er ist wirklich ein guter Direktor! –: amo, amas, amat. Das hatte ich ja schon in der Sexta gelernt. Bald aber stellt er schwierigere Fragen, und ich bin zu Ende mit meinem Latein und überhaupt.
»Von Quartareife kann keine Rede sein. Prüfen wir den Knaben nunmehr noch in den anderen Disziplinen.«
Wehe, und nun prüft gleich der Rechenlehrer! Er ist langhaarig und -bärtig, er ist bekleidet mit reiner Wolle, seine Augen blitzen, und die Nüstern bläst er auf wie ein Pferd. Jetzt habe ich zu büßen in eins für alle meine Sünden. Hintereinander alle Foltergrade, Daumenschrauben, spanische Stiefel! Und also spricht nach einer Weile der Herr Lehrer der Rechenkunst, zum Herrn Direktor gewendet: »Effektiv nicht einmal das fünfte Einmaleins beherrscht dieser Knabe, und das aber ist nach dem ersten und zehnten das leichteste, das muß wissen ein Sextaner, geschweige ein Quintaner.« Darauf der Herr Direktor, ernst: »Ich sehe, auch nicht einmal für die Quinta erfüllt der Knabe unsere Anforderungen, er ist entsetzlich weit zurück!«
Das Ergebnis der Prüfung ist eine schmähliche Rückversetzung nach Sexta. Halleluja! Sela! Kyrieleis!
Wieschen ist niedergedonnert darob. Sie will mich gleich wieder mit nach Hause nehmen. Dem widerspricht höflich, aber mit Entschiedenheit, der Pensionsvater. Zwei anderen Pensionären habe er abgeschrieben wegen meiner, und mindestens das erste Vierteljahr Pension wäre für mich voll zu entrichten, pränumerando, das könne er beanspruchen.
Ich selber flehe die Schwester an, mich dazulassen. Ich brenne vor Neugier auf meine Mitpensionäre, was das wohl für welche wären. Besonders gespannt bin ich auf den großen Oberprimaner Finsterbusch, den Stubenältesten, über den Jul seinen Eltern schon so viel geschrieben hatte. Und als wir durch die Stadt zur Prüfung gingen, war eine Schwadron des dort in Garnison liegenden Ulanenregimentes an uns vorübergeritten. Ich war entzückt davon. Die vielen Pferde, die Lanzen mit ihren lustigen Fähnchen, die Tschapkas, die klirrenden Säbel, die Fangschnüre, Patronentaschen, die blitzenden Knöpfe: meine Träume früher im Anblick der Franzosenknöpfe sehe ich hier nun in glanzvoller Wirklichkeit! Und auch die mancherlei sonstigen Sehenswürdigkeiten der Stadt, was der Pensionsvater uns alles so gezeigt hatte! Die alten Tortürme. Der noch gut erhaltene uralte Wachturm mit noch einigen Brocken der alten Stadtmauer, überwachsen mit Efeu. Die krummen Gassen. Der von schönen alten Linden umgebene Paradeplatz – na, wenn da die Ulanen Parade haben! Und die alten gotischen Kirchen, ihre hochragenden Türme.
Ich verspreche hoch und heilig, fleißig und brav wolle ich sein. Wieschen gibt endlich nach, ich bleibe da, vorläufig und versuchsweise.
Ein freudenreiches Leben begann nun für mich. Mit den gleichaltrigen Pensionskameraden vertrug ich mich gut. Der große Operprimaner und Stubenälteste Finsterbusch war soweit gnädig gegen mich. Wie ich ihn bewunderte, zumal wenn er hinter einem Wall von Büchern scharf studierte! Er rauchte manchmal eine großmächtige Studentenpfeife, mit bunten Schnüren, Quasten, langem Mundstück, es war ein von allen Schülern viel bewundertes, berühmtes Prachtstück. Obersekundaner Kreyenburg mußte sie ihm immer stopfen, wofür er zum Lohn ein paar Züge tun durfte. Jul und ich, die wir die beiden Kleinsten waren, mußten abwechselnd Wache stehen, wenn er in den vorgeschriebenen Arbeitsstunden bereits rauchte, weil da »welche« – Lehrer – kommen konnten und »schnüffeln«. Entstand, wenn er scharf studierte, Unruhe, alsdann schlug er jäh mit einem Lineal auf den Tisch: »Silentium! Lumpenpack!« So ein Zornausbruch war elementar und schrecklich. War er abwesend, vertrat ihn Obersekundaner Kreyenburg, und der spielte sich auf, er war ein Kleinlichkeitskrämer, ihm fehlte die wichtigste Eigenschaft des Stubenältesten, die Würde. Und sah er gar unsere respektlosen Mienen, da seine schrecklichen Drohungen! Was er alles einführen wollte, demnächst, ha, wenn er erst ganz und gar Stubenältester wäre. Auf den Hinterbeinen sollten wir vor ihm tanzen, auf dem Bauche uns vor ihm herumwinden.
Und so saß ich wiederum in der Sexta, als alter Herr. Daß ich anderswo schon die Quinta durchgemacht hatte, verschaffte mir schnell Respekt in der Klasse. Das fatale Rechnen ausgenommen, machten mir die Schulaufgaben auch keine Schwierigkeiten, ich hatte doch »alles schon gehabt«, und ich hatte somit ziemlich viel freie Zeit. Jul war immer gleichmäßig fleißig, strebsam und brav. Hatte er frei, da griff er nach seiner Geige. Die Mitpensionäre Bimpage und Kniehaase waren übrigens auch recht problematische Naturen. Ersterer hatte es mehr in sich und litt am Lesefieber, letzterer dagegen hatte es sozusagen außer sich, in den Armen und Beinen, er war ein Hans in allen Gassen. Zu seinem Geburtstag bekam da Bimpage von seinem Patenonkel ein Buch geschenkt, das bewunderten wir über alle Maßen, nämlich den Rinaldo Rinaldini, den edeln Räuber, und wir lasen ihn zusammen in einem Zuge durch, und zwar umschichtig – wenn der eine las, saß der andere stumm daneben und weinte sich aus. Jul geigte lieber. Dazu hatte er große Lust.
Juls Geigenspiel stimmt mich immer merkwürdig nachdenklich. Etwas Unerklärliches geht dabei vor in meiner Seele, überhaupt, wenn ich Musik höre, wenn die Ulanentrompeter blasen, gleich zittere ich vor Aufregung, das Herz steht mir fast still, es ist ein Gemisch von Angst und Seligkeit, wie in der Liebe. Angst allerdings ist vorherrschend, die geheime Angst, ich könne einmal verderben am Zauber der Töne, wie die Motte am Licht. Ich fühle dunkel, von allen Passionen, so mich etwa noch beim Schopf packen könnten: die Musik würde sicherlich niemals mich wieder freigeben, sie würde zum Verhängnis mir werden. Ich hatte ein gutes Ohr, verstand zu hören schon von klein auf, schon früh z. B. erkannte ich und immer mit Sicherheit die Tonfarbe der Instrumente. Und auch eine Geige besaß ich bereits, eine recht gute, es war Onkel Brunos letztes Patengeschenk, immer aber hatte ich gar zu viele andere Dinge im Kopf und mein Geigenspiel vernachlässigt.
Die Ulanen lagen damals noch bei den Bürgern in Quartier, und so hatte man was von ihnen, sie gehörten mit zur Familie. Ich wußte bald im Militärwesen genau Bescheid. Meine Kenntnisse erweiterten sich erklecklich, als ich mit Wachtmeister Knostmann Freundschaft geschlossen hatte. Der war ein Held und ein Freund der Jugend, alle Schüler verehrten, bewunderten ihn.
Von Wachtmeister Knostmann erfahre ich eines Tages, in den Pfingstferien werde draußen in der Heide eine große Feldübung sein. Da muß ich dabei sein, ich kann nicht widerstehen! Und ich sehe die Schwadronen nun reiten, Paß, Trab, Galopp. Meldereiter. Patrouillen. Hell schmettern die Trompeten. Längst weiß ich die Signale alle auswendig. Ich denke an alle berühmten Trompeter der Weltgeschichte, an den verschmitzten Trompeter des Prinzen Eugen, an den Trompeter an der Katzbach, an den Trompeter von Vionville. Zuletzt eine große Attacke. Erdröhnt die Erde im Dahinstürmen der Reiterhaufen. Und als ich ganz zuletzt mit hineingezogen werde und etwas erlebe: hurra, da schwillt mir die Brust! Ein Trompeter, bei einer Patrouille nämlich, winkt mich an sich heran, seinen Schimmel soll ich ihm eine Weile am Zügel festhalten, da er einmal absteigen und hinter einen Busch gehen will. Erklingen hernach beim Heimreiten die schönsten, jubelvollen Märsche. Mein Trompeter bläst das Helikon, mit gewaltigem Dröhnen. Immer neben seinem Schimmel halte ich mich und tätschele ihm den glatten Hals, obschon hier der Staub, pfui Teufel, am dichtesten aufquillt. Das war mein erster Glanztag in der mir so liebgewordenen altmärkischen Stadt. Der zweite war der Schäfereitag. Alljährlich am zweiten Freitag nach Pfingsten zieht da auch heute noch die gesamte Schülerschaft mit den Lehrern zum Tore hinaus, zu Spiel und Vergnügen, mit Gesang und Trommelschlag, mit Blumensträußen, Tannenreisern an den bunten Mützen und mit Proviant, in den Botanisierbüchsen, damals. Erfolgte diesmal im Walde durch Schüler der oberen Klassen die Aufführung der berühmten, großen dramatischen Szene: »Der Germanen Schwur in Tuiskos Hain.« Kraftvolle Worte, wahrhaftig, wie wenn der teutsche Wind rauscht durch die teutschen Eichen! Stolz schreiten die Helden aufeinander zu, sie ritzen sich mit den Schwertern an den Armen, und das Blut lassen sie träufeln ins Trinkhorn. Blutbrüderschaft schwören sie, und »Heil« ertönt's dazu ringsum. Unser großer Oberprimaner Finsterbusch spielt die Hauptrolle, nämlich den alten markomannischen Skalden und Seher, mit lang herabwallendem Bart und in den Händen eine Harfe haltend. Er durchschaut die Tücke der Römer, er geißelt ihre Sittenlosigkeit. Oh und zuletzt in ehernen Worten sein hehres Preislied aller germanischen Tugenden! – Der dritte Glanztag war schon mehr eine Glanzwoche: das altberühmte Schützenfest. Prächtig bekränzt und beflaggt waren dazu alle Häuser. An den rostigen Rasselketten der Straßenlaternen hingen »Transparente«, mit patriotischen Kern- und Kraftsprüchen, und die hatte gedichtet – unser wollener und teutonischer Rechenlehrer. Darin pries er auch fürnehmlich die berühmte deutsche Keuschheit. Und doch schielte er, das war stadtbekannt, nach jeder Schürze, wegen einer solchen faulen Sache war er schon einmal vorm Schöffengericht gewesen und allerdings, hm, freigesprochen worden.
Ja, so viel Gutes genoß ich, und das in den schönsten Wochen im Jahre, im April, Mai und Juni! Und der eigentliche Zweck meines Dortseins, die humanistische Bildung –? Je nun, ich saß im Gymnasium meine Stundenzeit ab. Das Gymnasium war eingezwängt und zusammengestopft in einem ehemaligen Franziskanerkloster, und die Zellen der Mönche, eng und dunkel, hatte man schlecht und recht in Schulräume umgewandelt. Meine Sexta, ein besonders erbärmlicher Raum, hieß das Erbbegräbnis. Da war's wirklich wie in einer Gruft. Desto schöner war's aber allemal draußen, in der Freiviertelstunde, im Kreuzgang und auf dem Schulhof – dem Klosterhofe. Hier, von den übermoosten Grabplatten, wo wir herumtollten, gellte das Trampeln, Schreien, Jachtern hinauf an die verwitterten Strebepfeiler der alten »Mönchskirche«. Gegenüber im alten Refektorium und zwar im Fachwerk des ersten Stockes war die uns Lümmeln natürlich etwas unheimliche Direktorwohnung. Darunter im Erdgeschoß aber befand sich ein Stall mit Ulanenpferden, hier hatte Wachtmeister Knostmann seinen Goldfuchs Lord stehen. Ein fürchterliches Gedränge ist immer in den engen Gängen zu den Klassen. Durch Kneifen, Puffen, Schieben, Schubsen hilft man noch tüchtig nach. Manchmal setzt's Verstauchungen, Verwundungen. Die alten Pulte sind über und über bedeckt mit eingeschnittenen Namen und Jahreszahlen, mit Löchern, runden wie auch drei-, vier-, sechseckigen, ferner mit Pentagrammen, Kreuzen, Kanälen, förmliche Baupläne und Berieselungsanlagen für Tinte sind da eingebohrt, geritzt, gestochen, geschnitten, mit falsch angewandtem Fleiß. Ich selber bin eifrig darüber, mich an meinem Platz entsprechend zu verewigen, nach guten Mustern. Leider sollte ich aber mit meinem großangelegten Labyrinth und Doppelherz nicht ganz fertig werden. Die Kirschen reiften, die Hundstagsferien kamen. Und so packen wir, Jul und ich, eines Tages unsere Reisetaschen. Dabei ist mir höchst begeisterungsvoll zumute nach all dem Erlebten, als ich so Rückblicke anstelle. Das sollen Ferien werden! Was ich alles vom Soldatenwesen jetzt weiß und verstehe, staunen wird man! Die Schmach meiner Rückversetzung – sie ist längst verschwitzt, und auch daheim würde man die häßliche Sache inzwischen wohl vergessen haben, meinte ich. Ich denke nicht daran, daß man doch vielleicht kritisch sein könnte: alles schön und gut, wie aber steht's mit der Hauptsache, mit der zugelernten humanistischen Bildung, lasse sie uns schauen?
Es ist spät am Abend, als wir anlangen, und als wir aus der Postkutsche springen, ist das erste, was ich im Schein einer Laterne sehe, das hämische Gesicht des borstigen, alten Postverwalters, und er krächzt mich an: »Nu, wie geht's, wie steht's, mein Herr Exquintaner und Doppelsextaner, was macht die hohe Wissenschaft?« Zu Julen aber sagt er: »Schönen guten Abend, mein zukünftiger Herr Tertianer!«
Ich zucke zusammen und wende mich ab. Als ich die Augen wieder aufschlage, sehe ich den Vater und die Schwester dastehen. Sie sind so sonderbar anders, so ernst, zurückhaltend. Und mir ist das Herz doch so voll! Oberprimaner Finsterbusch – Schäfereitag – Schützenfest – Wachtmeister Knostmann – der Goldfuchs Lord und die vielen anderen Ulanenpferde, die ich noch gut kenne, und an der Schwemme hatte ich mich den Ulanen durch Handreichungen oft nützlich gemacht und mancherlei da gelernt, An- und Abhalftern, Trensenrollen, Gebißanlegen –: Herrgott, womit anfangen? Mir strömt's von den Lippen.
Eine Weile hört man mir schweigend zu.
Vater nun mich unterbrechend: »Also in der Sexta sitzt du wieder, höre, du, das ist eine Schmach!«
Ach, gerade wie der Vater sich mit mir freuen würde über meine Erlebnisse, das hatte ich mir so schön ausgemalt. Der Vater, ist er's denn?
»Es ist gegen meinen Willen geschehen und – kurz und gut, ich ertrag's nicht länger, daß du da drüben bist, jenseits der Ise, im Preuß'schen. Überhaupt so kann's nicht fortgehen. Es muß anders werden! Vieles – alles muß anders werden! Du mußt ein neues Leben beginnen! Wir alle müssen's!«
Seine Worte sind mir unverständlich. Was zunächst die Preußen angeht, die Leute jenseits der Ise, – pah, man soll sie nur kennen! Die besten Menschen von der Welt!
»Ja, leider,« bestätigt Wieschen auf meine fragenden Blicke: »hier hat sich viel verändert.«
Das ist nun eine lange und trübselige Geschichte. Man hatte Vater arg zugesetzt, die wackeren, alten Welfen waren ganz irre an ihm geworden. Der alte Stammwirt, auch einer von den besonderen eifrigen Welfen, hatte Vatern da geraten, mich schleunig aus dem Preußischen wieder wegzunehmen, und dafür nach einer mit der Bahn nur um eine halbe Stunde weiter entfernten hannöverschen Stadt hinzugeben, da könne meine Seele nicht verderben, da wäre die humanistische Bildung ebensogut zu haben. Überdies könne ich da mit seinem Schorse auch in der gleichen Pension sein, so gut wie drüben mit Julen. Sein Schorse nämlich, der einzige Sohn und Erbe des großen Stammgasthauses, der war da beim Herrn Konrektor Esping in Pension, und der Herr Konrektor hatte bereits geschrieben, man sollte mich getrost schicken, er würde es schon durchsetzen, daß ich doch zum wenigsten gleich in die Quinta käme. Und nun aber brach eine Katastrophe herein über mein Elternhaus. Der Vater wurde aufgefordert, um seine Pensionierung einzukommen. Denn es sollte die neue preußische Verwaltungsordnung nach langem Dräuen endlich wirklich zur Durchführung gebracht werden. Das gleiche Schicksal traf viele althannoversche Beamte, von denen man annahm oben, sie würden sich nicht hineinfinden in die vielfachen Veränderungen des Dienstes. Vielleicht daß man aber auch von Rentmeister Berkebuschens Welfentum wußte –? Außerdem hatte man auf ihn auch wohl letzter Zeit ein schärferes Auge gehabt, in Nachwirkung der unglückseligen Revision.
Die kostspielige humanistische Bildung mußte nun aufgegeben werden überhaupt. Was aber anfangen mit dem Jungen, dem mißratenen? Mit Vaters gutem, sicherem Einkommen war's vorbei. Das Ruhegehalt war nur gering, ja es war überhaupt unmöglich, damit auszukommen. Deshalb galt's nun, nach aller Möglichkeit sich einzuschränken, und meine Sache trat zunächst zurück, es gab Wichtigeres zu bedenken. Amtsrentmeister a. D. Berkebusch sah sich mit Eifer nach neuen Einnahmequellen um, nach Agenturen, auf Wieschens Betreiben, nach Vieh-, Hagel-, Feuer- und Lebensversicherungen. Unaufhörlich wurde beraten. Wieschen verzehrte sich in Sorgen. Es war eine dumpfe, trostlose Zeit, eine Zeit des Bangens, der Finsternis, just als ich heimgekehrt war in die Ferien. Allmählich klärte sich's. Mit den Agenturen ließ sich's gut an, es kamen Anmeldungen, erfolgten Abschlüsse. Und das gab Wieschen wieder neuen Mut, nur ein Gedanke, ein Wunsch erfüllte sie jetzt: Vatern das Grundstück zu erhalten. Unermüdlich war deshalb sie tätig, in der vielseitigsten Weise, um beisteuern zu können auf eigene Hand. Sie bewarb sich um schriftliche Arbeiten, sie gab Unterricht in weiblichen Handarbeiten, richtete sich eine Strick- und Nähschule ein, und zugleich bewarb sie sich um Näh-, Häkel-, Strick- und Stickereiarbeiten bei einem auswärtigen Tapisseriegeschäft, so lumpig hier die Bezahlung auch war. Denn für alles hatte sie Geschick und Ausdauer, ihre Tatkraft schreckte vor nichts zurück. Manche halbe Nacht durch saß sie nun und stickte und wirkte Schlummerrollen, Rückenkissen, Morgenschuhe, Reisetaschen, Stuhlkissen und Pfeifenbörte, in Perlen, in Wolle, auf Stramin und auf Leinen.
So beruhigte man sich immerhin, als alle diese verschiedenen Brücken geschlagen waren: gute Möglichkeiten und Aussichten sich eröffneten. Danach aber wandte man sich mir wieder zu. Scharf abgerechnet wurde mit mir, alle meine Sünden wurden einzeln aufgestochen und mir unter die Nase gehalten. Im großen Kriegsrat wurden sämtliche Berufsarten, so für mich in Frage kommen könnten, erwogen, und ich wurde gefragt, was ich dazu meine. Der ganze Ort nahm mit Eifer daran teil. Jeder gab seinen Senf. Darüber allerdings war man sich einig, der überhaupt wichtigste aller Berufe, der eines ehrbaren Kaufmanns, könne für mich überhaupt nicht in Frage kommen, und warum: ja auch der kleinste Höker müsse ein Rechenmeister sein, und der aber wäre ich nicht. Selbstverständlich dachte man zunächst an die feineren Berufsarten. So meinte man, vielleicht Lehrer? Herr Küster Stute aber, höflichst darüber befragt, tat ganz beleidigt. »Ja, was denken Sie,« fuhr er Vater an, »zum Lehrer, ich mein', gehört doch woll justament am allermeisten Ingenium.« Tante Nörchen riet zum Postfach, das wäre ein feiner und nur Gutes fördernder, die Finger und das Herz nicht beschmutzender Beruf. O weh, darauf aber der borstige, alte Postverwalter, es wurde uns hinterbracht, voll giftigen Hohnes habe er gekrächzt: »Der Bengel, der nichtsnutzige, als Gemeinderat« – womit er Gemeindehirt meinte – »seh ich ihn enden!« Onkel Röhr war neben Tante Nörchen wieder der einzigste, der die Frage in für mich freundlichem Sinne erörterte: »Klütern kann ja der Junge. Hab' ich ihm beigebracht. O Krüzdunnerdeubel, ich mein', nicks geht über 'ne geschickte Hand, mag er doch Tischler werden!« Und damit war das Handwerk angeschnitten. Zum Entsetzen meiner Mutter! Ein Nachkomme aus dem vieledeln Geschlecht Derer de la Bry, ein Handwerker? Nimmermehr! Schwager Geometer, den Wieschen um Rat gebeten, der hatte geantwortet: Ohne humanistische Bildung gäbe es nun einmal keinen höheren Beruf, und da Karlchen es jedoch nicht 'mal richtig bis zum Quintaner gebracht habe und selbst der einjährige Schein für »es« unerreichbar wäre, so bliebe nichts anderes übrig, als irgend ein solides Handwerk.
Ich blieb stumm und verstockt auf alle Fragen, die, wo ich mich im Dorfe auch nur zeigte, nur immer so auf mich einhagelten: »Was willst du werden? Wozu hast du denn eigentlich Grips und Lust?« Ich lebte in Dumpfheit so dahin. In meinem Kummer und um Ablenkung zu haben, schleiche ich mich zuweilen in die Schlehenbüsche hinterm Hause von Musikus Stengel und höre hier zu, wie sie da Musik machen. Die übenden Lehrlinge haben sich, um sich nicht zu beeinträchtigen, über das ganze Grundstück hin verteilt. Das »Tereng Schnettereng« der Trompete, dicht vor mir, im Holzstalle: an die Ulanentrompeter denke ich dabei zurück. Und die Klarinette, wie sie aus der Räucherkammer ihren Honig herunterträufelt. Die Flöte flötet in der friedlichen Milchkammer. Das Bombardon dröhnt dumpf und unheimlich aus dem Kellerloch herauf. Meister Stengel selber spielt natürlich erste Violine, in seiner Wohnstube, in seiner Bequemlichkeit.
Immer häufiger gehe ich hin. Mit jedem Male stärker regt sich in mir der Wunsch, mich endlich selber richtig zu betätigen in der Musik. Und dennoch: immer wieder befällt mich die alte Beklommenheit, wenn ich's versuche und meine Geige ergreife!
Die großen Ferien gingen zu Ende. Jul reiste allein zurück. Wie er gekommen war, mit seiner gestickten Reisetasche und seiner Geige. Der ganze Ort hatte ihn bewundert, seinen Fleiß, seine Bravheit. Sogar sein Geigenspiel lobte man. Allerdings, Juls Eltern konnten sich freuen! Und die armen Rentmeisters dagegen mit ihrem – sie können einen dauern. So hieß es. Als Jul abreiste, war ich vorher eine gute Strecke weit die Landstraße hinaufgegangen, und hinter einem Wacholderbusch wartete ich auf die Postkutsche. Ich wollte vortreten, ihm zuwinken, ihm Grüße auftragen, für den großen Oberprimaner Finsterbusch, für Bimpage und Kniehaase, für den guten Pensionsvater, für Wachtmeister Knostmann, ja für das ganze Ulanenregiment. Jedoch der Schmerz übermannt mich, und so mache ich mich lieber unsichtbar. Stumm schaue ich dem vorbeirollenden Postwagen nach, solange ich ihn verfolgen kann. Danach aber werfe ich mich längelang in die Heide und weine, als müßte ich sterben. Meine Schülermütze, grün und umrandet mit einer goldenen Litze, hatte ich aufgesetzt zu diesem schweren Gange. Zum letzten Male. Denn weg werfe ich sie, in einen Flachsdöpel, mit einem Stein beschwert, daß sie auch untersinken muß. Und damit: Vale academia, ach, und schon gleich mit der Sextanermütze!
Zu Hause war inzwischen etwas vorgegangen. Man hatte deshalb schon überall nach mir gesucht und bereits angefangen, sich um mich zu ängstigen. Es war nach langem Schweigen ein Brief vom Tierarzt gekommen, an Vater. Der »T-i-e-r-arzt« – voll tiefster Verachtung betonte der Vater das Wort – war des Vaters Schwager, in seinem Harzdorfe, und er hatte ihn um sein väterliches Erbteil gebracht. Auch beim Hauskauf ließ er Vater im Stich, und wäre Onkel Röhr mit seinen Ersparnissen damals nicht zuletzt eingesprungen, so hätte der Kauf mit großem Schaden wieder rückgängig gemacht werden müssen.
Von mir ist die Rede in diesem Briefe, von meiner in so dichten Nebel gehüllten Zukunft. Was denn der Stammhalter werden solle? Er riete: Lohgerber, das wäre ein solides Geschäft, denn Leder brauche man im Krieg wie im Frieden. Ein Teil seiner Baulichkeiten wäre gut zur Aufmachung einer Lohgerberei geeignet, Konkurrenz gäbe es keine dort, und die großen Eichenwälder im Harze lieferten billige und vorzügliche Lohe.
Große Aufregung darob! Schon daß der Tierarzt – der reiche Verwandte überhaupt wieder zugänglich ist für uns, das ist von Wichtigkeit, ist sicher ein Glück. Eifrig wird beraten. Wieschen rät, um keinen Preis den Onkel Tierarzt vor den Kopf zu stoßen. Allerdings, um Gottes willen, der Lohgerber – dieser unästhetische und übelriechende Beruf! Sicherlich auch nur um uns zu demütigen, ist der Tierarzt darauf verfallen.
Endlich wird beschlossen, mit dem Onkel Tierarzt zu unterhandeln, um ihn zu gewinnen für ein anderes, vielleicht dort auch einmal hinpassendes Gewerbe, feinerer Art.
Der Vater schreibt ihm gleich, in diesem Sinne. Keine Antwort erfolgt.
Darauf Wieschen, in der ihr eigenen, geschickten, verbindlichen Weise legt sie dem Onkel Tierarzt dar und mit vieler Dringlichkeit, daß vielleicht eine mündliche Besprechung das vernünftigste wäre und sie mit mir zu diesem Zwecke gern hinkommen würde, überhaupt wir Kinder hätten große Sehnsucht, unsers Vaters Geburtsort und ringsum die schönen Harzberge einmal zu sehen. Wir werden darauf eingeladen, hinzukommen, in trockenen Worten, auf einer Postkarte, wenig verlockend. Immerhin, die Reise wird beschlossen. Und welcher Gestalt nun das zu beginnende neue Leben für mich, darüber soll diese Reise entscheiden.