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XXIII.

Der Zustand von Schwarz besserte sich rasch. Wenn auch noch nicht vorauszusehen war, wie lange Zeit ihn die Krankheit noch im Bett festhalten werde, da er sehr geschwächt war, erschien doch die Genesung als gesichert.

Augustinowitsch sorgte beständig für ihn und suchte ihm die langen Stunden des Aufenthaltes im Krankenhause zu verkürzen. Aber es gelang ihm nicht, seine frühere Stimmung wiederzugewinnen. Die letzten Vorgänge hatten ihn ernst und schweigsam gemacht. Er hatte viele seiner früheren Gewohnheiten verloren und war seit dem Augenblick, wo Schwarz erkrankte, nicht mehr bei Frau Wisberg gewesen. Diese Dame kam selbst jeden Tag, um sich nach dem Befinden des Kranken zu erkundigen.

Noch viel stärker aber als bei Augustinowitsch war die Veränderung, welche in Schwarz vorgegangen war. Er erhob sich von der langen Krankheit als ein ganz veränderter Mensch. Er hatte nicht mehr dieses stürmische, unnachgiebige Temperament. Aus seinen Bewegungen war die frühere Energie verschwunden. Seine Augen schienen müde geworden zu sein und sein ganzes Wesen war schwerfällig geworden. Augustinowitsch erklärte dies durch die große Schwäche, aber bald bemerkte er bei dem Kranken einige neue Erscheinungen, die er früher nicht gekannt hatte. Eine tiefe Apathie hatte ihn eingenommen, er sah die Welt jetzt mit ganz anderen Augen an und schien keiner Gefühlsäußerung mehr fähig zu sein. Es war ein trauriger Anblick. Er hatte sich nicht nur moralisch, sondern auch physisch verändert, war hagerer und bleich geworden, seine Haare waren dünn geworden, die Augen hatten ihren früheren energischen Glanz ganz verloren und einen schläfrigen Ausdruck angenommen. Ganze Tage lag er auf dem Bett und sah nach der Zimmerdecke oder schlief, und die Anwesenheit einer fremden Person schien ihn durchaus nicht zu interessieren.

Einmal saß Augustinowitsch am Bett des Kranken und las ihm aus einem Buche vor. Schwarz lag auf dem Rücken und blickte wie gewöhnlich nach der Zimmerdecke. Er dachte sichtlich an etwas anderes oder auch gar nichts. Nach einiger Zeit zeigte sich auf dem Gesicht des Kranken Ermüdung. Augustinowitsch hörte auf zu lesen.

»Willst Du schlafen?« fragte er Schwarz.

»Nein, aber das Buch ist langweilig.«

»Nun, es hat sehr viel Leben und enthält viel Wahres.«

»Aber keinen einzigen vernünftigen Gedanken.«

»Es berührt auch die Frauenfrage.«

»Was geht uns die Frauenfrage an?«

Das Buch war » La Dame aux Camélias«.

»Aber das Schicksal der Frauen interessierte Dich doch früher?«

Schwarz schwieg. Man sah an seinem Gesicht, daß er nachdachte.

»Nun, wie ist's mit Helene?« fragte er endlich. »War sie hier?«

Augustinowitsch erschrak.

»Ja … sie war hier …« erwiderte er.

»Nun, und jetzt?«

»Es scheint, daß – sie auch krank ist – sehr krank.«

»Was fehlt ihr?« fragte Schwarz kühl.

»Was ihr fehlt? – Ich werde die Wahrheit sagen, aber erschrick nicht,« fügte Augustinowitsch hinzu.

Schwarz sah ihn mit unruhiger Miene an.

»Nun?«

»Sie ist gestorben, sie ist ertrunken.«

Auf der Miene von Schwarz erschien ein unbestimmter Ausdruck, er machte eine Anstrengung, um sich zu erheben, dann aber ließ er den Kopf auf die Kissen sinken.

»Absichtlich oder zufällig?« fragte er.

»Ich werde Dir das später erzählen, jetzt kann ich Dir nicht alles sagen. Es ist besser, wenn Du jetzt einschläfst.«

Schwarz wandte sich der Wand zu. –

In diesem Augenblick trat ein Diener ein und meldete Augustinowitsch: »Frau Wisberg wünscht Sie zu sehen.«

Augustinowitsch ging hinaus.

»Was ist geschehen?« fragte er erschrocken, »ist jemand erkrankt?«

»Nein, Lulu ist davongefahren,« erwiderte die Dame betrübt.

»Schon lange?«

»Gestern abend. Ich wollte schon gestern kommen, weil ich schon seit einer Woche nicht hier war, aber Malinka war so betrübt, daß ich sie nicht allein lassen konnte. Ja ja, unsere Lulu ist davongefahren.«

»Was ist ihr denn eingefallen?«

»Das ist eine lange Geschichte. Zwei Wochen nachdem Schwarz erkrankt war, bat Pelski zum zweiten Male um ihre Hand, aber dennoch hat sie ihn abgewiesen, obgleich er sie wirklich aufrichtig liebt. Sie sagte, sie werde niemand ohne Liebe heiraten. Was hat die Arme gelitten während der Krankheit von Schwarz! Aber dennoch hat sie sich von Pelski in Freundschaft getrennt. Wie es scheint, hat er für sie eine Stelle in Odessa gesucht. Stellen Sie sich meine Verwunderung vor, als sie einige Tage vor ihrer Abreise zu mir kam und sagte, nur die Krankheit von Schwarz habe sie noch in Kiew zurückgehalten. Da aber Schwarz jetzt auf dem Wege der Besserung sei, so wolle sie mir nicht länger zur Last fallen und selber ihr Brot verdienen. Ach, mein Gott, ich habe niemals diese Last gefühlt, im Gegenteil, ich war ihr sehr zu Dank verpflichtet, wenigstens hat sich Malinka während ihrer Anwesenheit sehr vervollkommnet und seine Manieren angenommen. Überdies liebte ich sie wie meine eigene Tochter.«

Die gute alte Dame war wirklich tief betrübt über ihre Abreise.

Nach einigem Nachdenken sagte Augustinowitsch: »Ich begreife Lulu. Als sie sich unter Ihren Schutz begab, war sie ein verzogenes, kapriciöses Mädchen und glaubte, daß Sie sich eine Ehre daraus machen, eine Gräfin aufzunehmen. Jetzt aber ist sie anders geworden.«

»Ich mache ihr gar keinen Vorwurf.«

»Es handelt sich nicht um Vorwürfe. Ich begreife, wie unangenehm es Ihnen ist, sich von ihr zu trennen, aber es ist schade, daß Sie mich nicht davon benachrichtigt haben. – Die Dame, welche Schwarz heiraten wollte, ist gestorben.«

»Gestorben?«

»Ja. Aber diese Abreise schadet nichts. Schwarz hat sein Examen noch nicht gemacht, und vor allem muß er seine Zukunft sichern. Gott gebe ihm Genesung und daß er das Examen besteht, dann kann er sie auch in Odessa finden. Er hat sich sehr verändert, aber das schadet auch nichts, so wenig wie ihre Abreise. Diese wird sie in seinen Augen noch höher stellen.«

Mit bekümmertem Herzen ging Frau Wisberg.

Augustinowitsch blieb eine Weile stehen und flüsterte dann: »So so, sie hat zum zweiten Male Pelski abgewiesen und will ihr Brot verdienen. Ach, Schwarz, was sind alle Leiden, wenn man dadurch einen solchen Schatz gewinnt!«

Dann trat er in das Zimmer.

»Was wollte sie von Dir?« fragte Schwarz teilnahmslos.

»Lulu ist nach Odessa gefahren,« erwiderte Augustinowitsch.

Schwarz schloß die Augen und blieb lange regungslos liegen. Endlich sagte er: »Schade, sie war ein gutes Mädchen.«

Augustinowitsch biß die Zähne zusammen und schwieg.

Endlich genas Schwarz, verließ das Hospital, und nach einem Monat machte er sein Doktorexamen. Das war im Spätherbst, und an einem der nächsten Tage kehrten die beiden Freunde mit dem Diplom in der Tasche nach Hause zurück. Schwarz war vollständig gesund, obgleich noch Spuren seiner schweren Krankheit übriggeblieben waren. Augustinowitsch ging Arm in Arm mit ihm. Sie sprachen von der Vergangenheit.

»Wir wollen uns setzen.« sagte Augustinowitsch, als sie in den Garten traten, der mit abgefallenen Blättern bestreut war. »Heute ist ein schöner Tag, und ich liebe es, mich in der Sonne zu wärmen.«

Sie setzten sich aus eine Gartenbank.

Augustinowitsch streckte die Füße aus, sog die Luft ein und sagte vergnügt: »Nun, Alter, vor drei Monaten hätten wir diese unbedeutenden Papierstücke haben sollen, die wir erst heute erhielten.«

»Ja, jetzt ist es Herbst.« erwiderte Schwarz, indem er mit dem Stock einige gelbe Blätter wegschleuderte.

»Ja, die Blätter sind gefallen, die Bäume sind kahl geworden, die Vögel sind nach Süden gezogen,« fuhr Augustinowitsch fort. Dann senkte er die Stimme und deutete auf einen Schwarm kleiner Vögel, welche lärmend vorüberflogen und fügte hinzu: »Ja, und Du hättest wohl auch Lust, nach Süden zu fliegen mit diesen Vögeln?«

»Ich? Wohin?«

»Ans Schwarze Meer, nach Odessa.«

Schwarz ließ den Kopf sinken, stützte sich auf seinen Stock und blieb lange in dieser Stellung. Als er endlich den Kopf erhob, war auf seiner Miene Verzweiflung zu lesen.

»Nein, Augustinowitsch, ich liebe sie nicht mehr,« flüsterte er.

An demselben Abend sagte Augustinowitsch zu Schwarz: »Zu viel Kräfte verwenden wir auf die Jagd nach der Liebe der Frau, dann fliegt diese Liebe wie ein Vögelchen davon, und unsere Kräfte sind vergebens verschwendet – vergebens – vergebens.« –

 

Ende.

 


Berliner Buchdruckerei-Actien-Gesellschaft
Setzerinnenschule des Lette-Vereins.



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