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Ein Monat verging.
Es war ein heller Herbstabend. Die Sonne neigte sich zum Untergange hinter den Glockentürmen von Kiew und den fernen Gräbern in der Steppe. In der Dachwohnung von Gustav und Schwarz war es noch sehr hell. Beide saßen schweigend bei der Arbeit und benutzten die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.
Gustav war vor kurzem aus der Stadt zurückgekehrt, er war bleich, ermüdet und keuchte mehr als gewöhnlich. Auf seinem Gesicht war eine Unruhe, eine Fieberhaft und sogar eine verborgene Leidenschaft bemerkbar an der Röte seiner Augen.
Beide schwiegen, aber es war ersichtlich, daß Gustav schon lange dieses Schweigen zu unterbrechen wünschte, da er sich oft nach Schwarz umwandte, aber es schien ihm schwer zu fallen, das erste Wort zu sprechen, und wieder vertiefte er sich in sein Buch. Endlich sprang er auf, ergriff die Mütze und fragte:
»Wieviel Uhr ist es?«
»Sechs Uhr.«
»Gehst Du nicht zur Potkanska? Du gehst ja jeden Tag zu ihr.«
Schwarz stand auf. »Höre, Gustav,« begann er, »Du hast mich aus freiem Willen zu ihr geführt. Ich will nicht davon sprechen, was uns beiden unangenehm ist – überdies verstehen wir einander auch so vorzüglich. Ich gehe nicht zur Potkanska, weder heute, noch morgen, noch jemals. Darauf gebe ich Dir mein Ehrenwort. Hier hast Du meine Hand.«
Beide standen schweigend da, Schwarz mit ausgestreckter Hand, während Gustav zögerte, sie zu ergreifen. Er befand sich in einer eigentümlichen Lage. Endlich entschloß er sich, ihm die Hand zu drücken, aber keiner von beiden vermochte zuerst zu sprechen. Der eine verstand nicht, wärmere Ausdrücke zu wählen, der andere aber suchte vergebens Worte der Dankbarkeit.
Bald darauf trennten sie sich.
Es sind oft seltsame Gefühle, mit denen wir die Belohnung für unsere guten Handlungen hinnehmen. Schwarz hatte Gustav versprochen, die Witwe nicht mehr zu besuchen. Ob er sie liebte oder nicht, jedenfalls war das von seiner Seite ein Opfer, da sie in seinem einförmigen Leben der einzig helle Punkt war; mochten diese Träumereien von ihr zur Ausfüllung der Minuten dienen, in denen er sich von der Arbeit losriß, um geistige Erholung zu suchen. Aber auf diese Augenblicke einer verführerischen Erholung zu verzichten, das hieß das Glück eben dann aus seinem Leben zu treiben, wenn es wieder einmal bei ihm eintreten wollte.
Schwarz hatte, ohne zu schwanken, dieses Opfer gebracht.
Aber als Gustav das Zimmer verlassen hatte, drückte sich auf der Miene von Schwarz Mißvergnügen und sogar Zorn aus. Bereute er, das Opfer gebracht zu haben? Nein.
Als er Gustav die Hand reichte, zögerte dieser, sie anzunehmen, das hieß: den, der es brachte, zu verletzen, das war undankbar und warf ein Samenkorn dumpfen Grolls auf das fruchtbare Feld der Eigenliebe. Aber andererseits war es demütigend für Gustav, das Opfer eines Rivalen anzunehmen. Es war, als ob ihm ein Almosen gewaltsam aufgedrängt würde.
Mit ironischem Lächeln trat er auf die Straße und murmelte mit geschlossenen Lippen: »Immer besser! Jetzt kann ich mich jeden Tag vor Herrn Schwarz verbeugen und ihm für diese Wohlthat danken. Eine angenehme Perspektive für das Leben!«
Er versank in düsteres Nachdenken. Nicht ohne Groll dachte er an den Sieg des Genossen. In einem inneren Widerstreit der Gedanken und Gefühle ging er mit raschen Schritten weiter, ohne recht zu wissen, wohin, als er plötzlich eine wohlbekannte Baßstimme hörte, die ein heiteres Liedchen sang. Gustav blickte sich um: es war Wassilkjewitsch mit Augustinowitsch.
»Wohin gehst Du, Gustav?« fragte Wassilkjewitsch.
»Wohin ich gehe?« fragte Gustav, auf die Uhr blickend – »es ist noch zu früh, zur Witwe zu gehen,« dachte er … »Nun, ich gehe in den Klub.«
»Gehe lieber gleich zur Witwe.«
»Warum?«
»Es hat keinen Zweck, in den Klub zu gehen,« erwiderte Wassilkjewitsch.
»Was ist geschehen?«
»Der Kummer hat sich dort vereint mit Schrecken!« deklamierte Augustinowitsch.
»Ein Unglück? Was denn? So sprich doch.« »Etwas Entsetzliches!«
»Wassilkjewitsch, sprich Du wenigstens vernünftig.«
»Der Kurator der Universität hat unseren Klub geschlossen. Jemand hat angegeben, daß die Studenten dort Versammlungen abhalten.«
»Wann ist das geschehen?«
»In jedem Falle muß man hingehen, um Näheres zu erfahren.«
»Das rate ich Dir nicht. Man wird Dich in den Karzer schicken.«
»Weiße Hände weben die Schlingen!«
»Schweig doch, Augustinowitsch! Warum hat man das nicht abends gethan, als alle versammelt waren? Dann hätten sie uns gefangen wie Fische in einem Netz.«
»Wahrscheinlich wollte man nur den Klub schließen, aber nicht uns fangen. Wenn aber jetzt jemand hinkommt, so wird er jedenfalls verhaftet.«
»Und wohin geht Ihr jetzt?«
»Zum Signal hat man das feurige Kreuz getragen …«
»Schweig doch!«
»Also, mutiger Rodrigez …«
»Ja, ja,« unterbrach ihn Wassilkjewitsch, »wir wollen die anderen benachrichtigen; also bleibe gesund oder komme mit uns.«
»Ich kann nicht.«
»Wohin gehst Du denn?«
»Zur Frau Potkanska.«
»Also auf Wiedersehen!«
Als Gustav allein geblieben war, rieb er die Hände, und ein Lächeln der Befriedigung erleuchtete sein finsteres Gesicht. Er war erfreut über die Schließung des Klubs. Jetzt war die Gefahr verschwunden, daß Helene (dies war der Name der Witwe), wenn sie von dem Entschluß, den Schwarz gefaßt hatte, erfuhr, wieder dahin gehen werde, um ihn zu sehen. In letzterer Zeit war sie nicht in den Klub gegangen. Gustav begriff sehr wohl, daß es trotz aller Bitten und Ermahnungen ihm kaum gelingen werde, sie zu veranlassen, den Klub nicht zu besuchen. Sie hatte auch nur eingewilligt, nachdem er versprochen hatte, Schwarz zu ihr zu bringen. Jetzt hatte er nichts mehr zu befürchten. – Nach wenigen Augenblicken zog er die Glocke an der Wohnung von Helene.
»Wie geht es Ihrer Herrin?« fragte er das Dienstmädchen.
»Ganz gut, aber sie geht immer im Zimmer umher und spricht mit sich selbst.«
Gustav trat ins Zimmer.
Die Wohnung der Witwe bestand aus zwei Zimmern, deren Fenster nach einem Garten gingen. Das erste stellte den Salon vor und das zweite ein Schlafzimmer. Gustav trat ein. Im Schlafzimmer war der obere Teil des Fensters oval und trug eine Rosette von farbigem Glas. In der einen Ecke stand ein Tischchen von rotem Holz mit einer Sammetdecke, auf welchem zwei Photographien standen. Die eine in einem eingelegten Rahmen stellte einen jungen Mann mit hoher Stirn, krausen Haaren und schönen, aristokratischen Zügen dar. Das war Potkansky. Das andere Bild war das der Witwe, welche in einem Stuhl saß und ein kleines Mädchen in weißem Hemdchen auf den Knien hielt. Vor den Bildern lag ein Immortellenkranz, welcher von Krepp und einem Myrtenzweig umgeben war.
Am anderen Ende das Zimmers, das durch zwei Betten abgeteilt war, stand eine Wiege. Jetzt war sie leer, aber noch vor kurzer Zeit hatte sie das Glück der Eltern umschlossen. Die grüne Decke, auf welche durch das ovale Fenster farbige Strahlen fielen, schien sich zu bewegen. Man konnte glauben, ein weißes Händchen werde die Decke zurückschieben und ein strahlendes Kindergesicht nach der Mutter blicken. Jetzt war es still und traurig in diesem Zimmer. Die Zweige der Akazien draußen im Garten warfen ihren Schatten auf den Fußboden. An der Thür hing ein Weihbecken mit Weihwasser und darunter das Bild des Schutzengels mit segnend ausgebreiteten Armen. Im Augenblick als Gustav eintrat, glänzte der Kopf des Schutzengels in farbigem Strahl, welcher durch das Fenster kam. In allem übrigen herrschte jetzt Totenstille, wo einst freudiges Lachen wiederhallte.
Unbeschreiblich war das Glück, wenn Potkansky abends müde nach Hause zurückkehrte, mit einer Hand seine Frau umfing und mit der anderen ihre goldenen Locken zur Seite strich und ihre Stirn mit Küssen bedeckte. Welch tiefes, stilles Glück empfanden sie, wenn sie aneinander geschmiegt an der Wiege standen, in welcher ihr Töchterchen lag, das die Händchen ausstreckte und ihnen freudig zulächelte. Jetzt war die Wiege leer. – Wie oft war die Mutter nach dem Unglück in der Nacht erwacht und hatte vorsichtig die Wiege betastet, in der Meinung, der Herr werde sich ihrer erbarmen, werde ihr Töchterchen aus dem Grabe genommen und neu belebt wieder in die Wiege gelegt haben. Wieviel hatten diese Wände gesehen! Zuerst Freude und unaussprechliches Liebesglück, dann Verzweiflung, Thränen und endlich tiefen, stillen, unwandelbaren Gram und geistige Nacht. –
Auch der kleine Salon machte den Eindruck der Leere und schien an die Vergangenheit zu erinnern. Er war rein, aber außerordentlich einfach. Daran stieß das kleine halbdunkle Zimmer des Dienstmädchens, neben welchem eine Thür auf die Hintertreppe hinausführte. – Das war die frühere Wohnung Potkanskys. Es war ein Rätsel, woher nach seinem Tode die Mittel zur Miete kamen. Das wußte nur Gustav zu sagen, wenigstens erhob der Hausbesitzer keine Forderung, warum, – das werden wir später sehen.
So oft Gustav in ihr Schlafzimmer trat, befiel ihn immer ein Zittern.
In seinem Herzen, das von ihr erfüllt war, empfand er immer einen schweren Druck, aber dieser Druck war ihm auch angenehm, es war, als ob seine Brust unter diesem Gewicht tiefer atmete. Er empfand ein Gefühl, das dem Glück nahe kam, nur mit dem Unterschied, daß hinter diesem Glück eine Menge von unklaren, unbestimmten Wünschen und Träumen lag, welche sich über den ganzen Menschen verbreiteten, in Fleisch und Blut übergingen und sich in zitternden Worten und glänzenden Blicken äußerten. In solchen Augenblicken verehrt der Mensch das Weib wie einen Engel und wünscht im Engel nur das Weib zu sehen.
Das empfand Gustav, als er in die Wohnung der jungen Witwe trat. Sie war bleich, mit einer leichten Röte auf den Wangen, welche vielleicht nur der Wiederschein der untergehenden Sonne war. Ihr zartes Profil zeichnete sich auf dem dunklen Hintergründe der Dämmerung ab. Sie stand beim Spiegel und kämmte die Haare. Ihre aufgelösten Haare umgaben wie Wellen ihre bleiche Stirn und fielen in glänzendem Gold auf ihre Schultern und ihren Busen herab.
Als sie Gustav bemerkte, begrüßte sie ihn mit eurer Handbewegung und einem kaum bemerkbaren Lächeln.
Die junge Witwe hatte in den letzten Wochen aus ihrem bisherigen Irrsinn zu erwachen begonnen. Die plötzliche Erschütterung beim Anblick von Schwarz hatte ihr die Fähigkeit zu denken wiedergegeben. Nur eins konnte sie sich nicht zurechtlegen: die äußere Erscheinung von Schwarz deckte sich in ihrer Erinnerung so genau mit der Gestalt Potkanskys, daß sie sich nicht erinnern konnte, wer ihr Mann gewesen war, Schwarz oder Potkansky. Aber das waren nur die letzten Folgen des Irrsinns, und bald erleuchtete wieder ein heller Lichtstrahl die Finsternis ihrer geistigen Welt. Sie bat Gustav, ihr die Möglichkeit zu gewähren, Schwarz zu sehen, und Gustav mußte, wenn auch widerstrebend, einwilligen. Jeden Tag erwartete sie zitternd den Abend, wo sie wenigstens eine Erinnerung an das einstige Glück genießen konnte. Sie wünschte nicht Schwarz herbei, sondern nur jene Erinnerung, darum wurde er ihr unentbehrlich.
Nach und nach, ganz unbemerkbar, wurde die Vergangenheit durch die Gegenwart ersetzt und die Träumerei durch die Wirklichkeit. Als Schwarz dies bemerkte, versprach er Gustav, sie nicht wieder zu besuchen. Sie darauf vorzubereiten und ihr das mitzuteilen, blieb Gustav überlassen. Es war leicht vorauszusehen, welchen Eindruck diese Mitteilung auf sie machen mußte. Sie schlug die Hände zusammen und warf den Kopf zurück. Ihre dichten Haare deckten ihre Schultern.
»Wo kann ich ihn wiedersehen?« fragte sie.
Gustav schwieg.
»Ich muß ihn sehen, hier oder anderswo. Er ist meinem Kasimir so ähnlich … Ich kann nur leben … in dieser Erinnerung …«
Gustav schwieg noch immer. Ihr blinder Egoismus brachte ihn auf. Ein neues Drama begann. Sie bat ihn, alles für sie zu thun, was sein eigenes Glück zerstören mußte. Nein, dazu mußte man vollkommen einfältig sein, aber sie bat, – er biß sich auf die Lippen und schwieg. Auch er wollte leben, alles in ihm widersetzte sich ihren Bitten, aber sie bestand darauf.
»Ich hoffe,« sagte sie, »daß Sie mir ein Zusammentreffen mit ihm verschaffen werden, ich will ihn sehen. Warum erzürnen Sie mich so?«
»Ich will Sie nicht erzürnen, aber er will selbst nicht kommen,« erwiderte Gustav kaum hörbar. Seine Stimme zitterte, und es kostete ihn eine Anstrengung, um nicht ihr zu Füßen zu fallen und zu rufen: »Aber ich liebe Dich!«
Gustav hätte viel darum gegeben, wenn ihm diese Minuten erspart geblieben wären.
Helene bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Ein tiefes Schweigen herrschte, das nur durch das Rauschen der Blätter vor dem Fenster unterbrochen wurde. Gustav dachte mit tiefer Betrübnis daran, daß Schwarz ihm Helene rauben werde, wenn er ihn zurückbringe.
Aber dieser Kampf dauerte nicht lange. Bald lag er vor ihr auf den Knien, drückte ihre Hand an seine Lippen und sagte mit gebrochener Stimme: »Ich werde alles thun, was ich kann. Er wird hierher kommen. Was ist an mir gelegen? Er wird kommen, aber ich weiß nicht wann, ich werde ihn selbst zu Ihnen bringen.«
Bald verließ er die junge Frau.
»Er wird kommen in einem Monat oder zwei. In einem Monat kann ich mich vielleicht beruhigen.«
Ein Hustenanfall unterbrach ihn. Lange ging er durch die Straßen, und als er nach Hause zurückkehrte, schlug es auf einem Kirchturm zwei Uhr.
Schwarz schlief bereits und atmete gleichmäßig. Das Licht der Lampe fiel auf die offene Brust und die hohe Stirn. Gustav blickte die kräftige Gestalt mit neidischen Blicken an.
Eine ganze Stunde saß er auf seinem Bett. Plötzlich fuhr er auf und kam zu sich. Ein Gefühl, das ganz verschieden war von dem, das er bis zu diesem Augenblick empfunden hatte, war in ihm erwacht – er war hungrig. Er trat an einen Schrank, nahm ein Stück trockenes Brot heraus und aß mit großer Gier. Seit dem vorhergehenden Tage hatte er nichts mehr gegessen.