Henryk Sienkiewicz
Die Familie Polaniecki
Henryk Sienkiewicz

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Einundzwanzigstes Kapitel

Einige Tage darnach, bevor er aufs Bureau ging, kam Maszko zu ihm und bat ihn um eine Unterredung.

»Ich möchte Verschiedenes mit Dir besprechen,« erklärte er, »vor allem aber unser Geldgeschäft. Selbstverständlich steht es Dir frei, ›ja‹ oder ›nein‹ zu sagen.«

»Geldgeschäfte, mein Lieber, gehören ins Comptoir; was hast Du mir außerdem zu sagen?«

»Das Geldgeschäft, über das ich mit Dir sprechen möchte, ist ganz privater Natur, deshalb habe ich Dich auch in deiner Privatwohnung aufgesucht. Du weißt, daß ich mich verheirate. Siehst Du, weil ich mich verheirate, brauche ich Geld. Ich habe so viele Ausgaben wie Haare auf dem Kopfe, und zudem muß ich Abzahlungen in Hülle und Fülle leisten. Der Termin der Auszahlung der ersten Rate von jenem Eintrag in Krzemien, den Du nur cediertest, steht vor der Thüre. Kannst Du mir den Termin noch um ein weiteres Quartal verlängern?«

»Ich werde ebenso aufrichtig mit Dir sprechen wie Du mit mir,« ergriff Polaniecki das Wort, »ich kann wohl, aber ich will nicht.«

»Nun so werde ich gleichfalls aufrichtig sein und Dich fragen, was Du thust, wenn ich Dich nicht bezahle?«

»Auf dieser Welt ist zwar schon alles vorgekommen,« antwortete Polaniecki, »aber Du hältst mich doch für thörichter, als ich bin, denn ich weiß, daß Du mich bezahlst.«

»Woher weißt Du das so bestimmt?«

»Du verheiratest Dich doch demnächst. Du wirst daher wohl nicht als zahlungsunfähig gelten wollen.«

»Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren.«

»Wir sind jetzt unter vier Augen, mein Lieber, deshalb kann ich Dir ruhig sagen, daß Du es Dein ganzes Leben hindurch verstanden hast, aus nichts etwas zu machen.«

»Jetzt weiß ich, woran ich bin. Ich verlangte von Dir eine Gefälligkeit, und dazu habe ich kein Recht. Bedenke aber, daß man mich geradezu zu Tode hetzt. Hier nehmen, dort zustopfen – fortwährend in der größten Unsicherheit leben, das richtet schließlich auch die kräftigsten Naturen zu Grunde. Noch zwei Monate, und ich stehe freilich auf andern Füßen. Aber in der Zwischenzeit heißt es, sich über Wasser halten. Du kannst mir keine Frist gewähren. Gut! Ich besitze noch etwas Wald in Krzemien. Den lasse ich schlagen und bezahle Dich damit.«

»Ein Stück Wald in Krzemien? Der alte Plawicki hat doch meines Wissens schon alles total abholzen lassen?«

»Gegen Niedzialko zu steht noch ein kleiner Eichenwald.«

»Ja, das ist wahr, so ist's.«

»Ich weiß, daß Ihr, Du und Bigiel, auch solche Geschäfte macht. Wie wäre es, wenn Ihr mir den Wald abkaufen würdet? Ich müßte dann nicht erst einen Käufer suchen, und Ihr könntet bei dem Geschäft nur gewinnen.«

»Ich werde die Sache mit Bigiel besprechen.«

»Du weisest demnach mein Anerbieten nicht von vornherein ab?«

»Nein, wenn Du einen billigen Preis stellst, werde ich selbst . . . Doch bei solchen Abmachungen muß man sowohl Gewinn wie Verlust genau erwägen. Außerdem kenne ich Deine Bedingungen ja gar nicht. Stelle mir daher eine Berechnung auf. Wie viele Bäume kannst Du wohl noch schlagen lassen?«

»In einer Stunde sollst Du eine genaue Aufstellung erhalten.«

»Dann kann ich Dir schon gegen Abend Antwort erteilen.«

»Auf einen Punkt möchte ich Dich aber im voraus aufmerksam machen. Vor zwei Monaten darf nichts abgeholzt werden.«

»Weshalb nicht?«

»Weil Krzemien ohne diesen Eichenwald furchtbar verliert. Bis nach meiner Hochzeit muß daher der Wald unangetastet bleiben.«

»Das läßt sich vielleicht machen.«

»Außerdem liefert mir Krzemien Mergel, Du wirst Dich erinnern, daß Du selbst mich darauf aufmerksam machtest. Plawicki schätzte den Ertrag auf Millionen. Das ist nun freilich albern; wenn aber gewiegte Geschäftsleute sich mit der Verwertung befassen, wird das Ergebnis ein glänzendes werden. Auch dieses Geschäft könntet Ihr machen.«

»Ein gutes Geschäft weist unser Haus niemals ab.«

»Darauf können wir später wieder zurückkommen. Jetzt handelt es sich vor allem darum, wegen des Eichenwaldes eine feste Vereinbarung zu treffen. Ich könnte Dir statt der fällig werdenden Rate den Eichenwald oder, je nach der Berechnung, einen Teil desselben in Versatz geben; Du hingegen verpflichtest Dich, die Eichen nicht vor Ablauf des folgenden Quartals schlagen zu lassen.«

»Das laßt sich hören,« meinte Polaniecki. »Natürlich kommt noch die Frage in Betracht, wie es mit der Weiterbeförderung der Eichen gehalten werden soll; doch darüber können wir ja beim eventuellen Unterzeichnen des Kontraktes reden.«

»So habe ich denn wenigstens eine Last vom Herzen,« sagte Maszko, sich mit der Hand über die Stirn fahrend. »Denke Dir aber, daß im Tage oftmals zehn bis fünfzehn solcher Fragen an mich herantreten, ganz abgesehen von der Notwendigkeit, den unterthänigen Bräutigam zu spielen, eine Notwendigkeit, welche . . .« Maszko brach plötzlich ab, schüttelte das Haupt und fügte dann tief aufatmend hinzu: »die mir auch nicht leicht wird.«

Polaniecki sah ihn voll Verwunderung an. Im Munde Maszkos, der als gewiegter Weltmann jedes Wort zu überlegen pflegte, war ein solches Geständnis etwas Unerhörtes.

Der junge Advokat fuhr indessen fort: »Doch das ist ja nicht zu ändern. Erinnerst Du Dich übrigens, wie es mehrere Male vor dem Tode Litkas zwischen uns zum Streit kam? Ich berücksichtigte damals nicht, daß Du die Kleine sehr gern hattest und daß Du deshalb sehr erregt warst, sonst wäre ich nicht grob gegen Dich geworden. Die Schuld lag also auf meiner Seite. Ich thue daher von Herzen Abbitte.«

»Das habe ich alles längst wieder vergessen,« antwortete Polaniecki.

»Ich erinnere Dich deshalb daran, weil ich Dich um einen Dienst bitten möchte. Willst Du mein Brautführer sein? . . . Ich habe keinen Freund, Verwandte besitze ich nicht, oder wenigstens nur solche, mit denen man keine große Ehre einlegt. An wen soll ich mich daher wenden? Mir liegt viel daran – ich rede ganz aufrichtig – einen Mann von gediegenem Namen zum Brautführer zu bekommen, und meine Damen stimmen darin mit mir überein. Also, bitte, antworte mir. Willst Du mich führen?«

»Wenn Du diese Bitte in einer andern Zeit gestellt hättest, würde ich sie Dir nicht abgeschlagen haben. Allein siehst Du, ich trage weder Crepe um den Hut, noch ein weißes Band an dem Rock, trotzdem aber gebe ich Dir mein Wort, daß ich nicht betrübter sein könnte, wenn mir mein eigenes Kind gestorben wäre.«

»Damit rechnete ich nicht,« warf Maszko ein, »und bitte Dich um Verzeihung.«

Polaniecki wurde unwillkürlich gerührt. »Wenn Dir übrigens sehr viel daran gelegen ist,« begann er, »wenn Du thatsächlich niemand anders findest – will ich Deinen Wunsch erfüllen, aber ich sage Dir aufrichtig, daß es mir in meiner jetzigen Stimmung sehr schwer fällt, bei einer Hochzeit zu sein.« Polaniecki hütete sich zwar ›bei solch' einer Hochzeit‹ zu sagen, aber Maszko erriet seine Gedanken.

»Zudem,« fuhr Polaniecki nach einer kurzen Pause fort, »kommt hier noch ein weiterer Umstand hinzu, Du wirst davon gehört haben, daß ein armer Kerl, ein junger Arzt, hier gewesen ist, der sterblich in Deine Braut verliebt war. Daß sie diese Gefühle nicht erwiderte, darf ihr freilich von niemand verargt werden, aber dem bemitleidenswerten Menschen war das Leben verleidet; ohne lange zu überlegen, trat er in ausländische Dienste und ist auch wirklich vom Teufel geholt worden. Wir waren befreundet, er vertraute mir sein Unglück an. Sage nun selbst, ob Du nicht begreifst, daß es mir schwer fallen wird, bei einem andern als Brautführer zu fungieren?«

»Und suchte er thatsächlich aus Liebe für meine Verlobte den Tod?«

»Hörtest Du denn nichts davon?«

»Ich hörte nicht nur nichts davon, sondern ich traue auch kaum meinen Ohren.«

»Weißt Du, Maszko, ich sehe jetzt, daß sich die Menschen nicht nur in der Ehe, sondern auch durch ihre Verlobung ändern. Ich kenne Dich gar nicht mehr.«

»Weil ich Dir eingestand, daß ich kaum noch zu Atem komme. Es giebt Fälle, in denen man eben einfach die Maske abwirft.«

»Was meinst Du damit?«

»Ich meine, daß es zwei Kategorien von Menschen giebt: der einen ist alles genehm, sie bequemt sich sofort den Verhältnissen an, die andere hat ein gewisses System, an dem sie konsequent festhält. Ich gehöre zu der letzteren. Die Art meines Aussehens lag mir stets am Herzen, und was noch mehr, ich gewöhnte mich so sehr an ein gewisses Auftreten, daß es mir schließlich zur zweiten Natur geworden ist. Wenn man aber zum Beispiel bei großer Hitze reist, dann wird für jeden Menschen ein Augenblick kommen, in welchem er nicht nur den Ueberrock, sondern auch die Weste aufknüpft. Für mich ist dieser Augenblick gekommen.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, daß ich mich über die Kunde kaum zu fassen vermag, es habe sich jemand sterblich in meine Braut verliebt. Du hast mir doch einmal boshafter Weise zu verstehen gegeben, sie sei einem Uhrwerk zu vergleichen, welches täglich aufgezogen werden müsse, so steif und kalt sei sie in ihrer Ausdrucksweise, so automatenhaft in ihren Bewegungen. Und das ist alles ganz wahr, das gestehe ich Dir zu. Ich möchte nicht, daß Du mich für einen größern Taugenichts hältst, als ich bin. Ich liebe meine Braut nicht. Ich liebte Fräulein Plawicki, mein Werben fand aber kein Gehör. Fräulein Kraslawski nehme ich nur wegen ihres Vermögens. Wenn Du nun behauptest, dies sei eine Unanständigkeit, so antworte ich Dir, daß diese Unanständigkeit von tausend namhaften Männern begangen wird, denen Du unbedenklich die Hand reichst, und die, wenn auch kein frohes, so doch auch kein trauriges Leben in ihrer Ehe führen. Man lebt so neben einander hin, die Gewohnheit thut das Ihrige. Die zusammen verlebten Jahre rufen eine gewisse Anhänglichkeit hervor, die Kinder bilden ein weiteres Band, und so gestaltet sich mit der Zeit das Verhältnis zu einem ganz annehmbaren. Gar häufig gehen die Ehen, die aus Liebe geschlossen werden, weniger gut aus. Was nun mich betrifft, ich arbeitete wie ein Lasttier. Da ich einer völlig bankrotten Familie entstamme, strebte ich danach, empor zu kommen, das gestehe ich. Wenn ich mich damit begnügt hätte, ein unbekannter Rechtsverdreher zu bleiben, mir recht viel Geld zu verdienen, würde ich mein Ziel erreicht und dadurch die Lebensstellung meiner Söhne gesichert haben. Ich vermag jedoch meine Kinder nicht schon vor ihrer Geburt zu lieben. Mein Sinn war daher nicht nur auf Gelderwerb gerichtet, nein, ich wollte etwas sein, etwas bedeuten, eine gewisse gesellschaftliche Stellung erringen. So kam's, daß das, was der Anwalt erwarb, der grandseigneur wieder verausgabte. Eine gewisse Stellung legt gewisse Verpflichtungen auf. Deshalb habe ich nie Geld, und da es mich schließlich anekelte, beständig neue Schulden machen zu müssen, um die alten tilgen zu können, entschloß ich mich zu der Heirat mit Fräulein Kraslawski. Und weshalb glaubst Du, daß sie mich nimmt? Weil ich den großen Herrn spiele, der sich mit der Advokatur so nebenbei beschäftigt. Du siehst, unsere Chancen sind ganz gleich, keines kann dem andern einen Vorwurf machen, keines von uns täuscht sich, oder wenn Du willst, wir beide täuschen uns in gleichem Grade. So liegt die Sache, und nun verachte mich, wenn Du kannst.«

»Bei Gott, ich achtete Dich niemals mehr,« antwortete Polaniecki, »denn ich bewundere nicht nur Deine Aufrichtigkeit, sondern auch Deinen Mut.«

»Ich begreife Dein Kompliment über meine Aufrichtigkeit, verstehe aber nicht, was Du meinst, wenn Du von meinem Mut sprichst.«

»Ist das nicht Mut, wenn Du Fräulein Kraslawski heiratest, trotzdem Du völlig im Klaren über sie bist.«

»Ich weiß ganz genau, was ich thue. Ich brauche Geld, das ist wohl wahr, allein glaubst Du, daß ich des Geldes wegen die erste beste geheiratet hätte? Durchaus nicht, mein Lieber. Wenn ich Fräulein Kraslawski zur Frau nehme, weiß ich ganz genau was ich thue. Sie besitzt all die Eigenschaften, die ich für die Bedingungen, unter denen ich sie zur Frau nehme und sie mich heiratet, für unumgänglich notwendig erachte. Fräulein Kraslawski wird eine kalte, unfreundliche, unliebenswürdige Frau werden, ja, sie wird mir sogar, soweit sie mich nicht fürchtet, mit einer gewissen Verachtung begegnen. Allein sowohl sie wie ihre Mutter beobachtet streng alle Regeln des Anstandes und wägt mit heiliger Ehrfurcht das Schickliche von dem Unschicklichen ab. Das ist immerhin schätzenswert. Ferner ist sie nichts weniger als eine romantisch angelegte Natur, sie wird sich nie auf Abenteuer einlassen; mag deshalb das Leben mit ihr auch noch so unerquicklich sein, niemals wird es mit einem Skandal endigen. Ein weiterer Vorzug ist der, daß sie sehr fromm und pedantisch ist und zweifellos ihre neuen Pflichten ernst auffassen wird. Muß ich daher auch auf Glück verzichten, so kann ich doch auf ein ruhiges Leben rechnen. Dir aber rate ich, mein Lieber, bei der Wahl Deiner Gattin vor allem an Deine Ruhe zu denken. Von Deiner Geliebten kannst Du alles mögliche verlangen: Geist, Temperament, eine poetisch angelegte Natur; mit Deiner Gattin mußt Du aber Jahre hindurch leben, siehe daher darauf, daß sie Grundsätze besitzt.«

»Für thöricht habe ich Dich zwar niemals gehalten,« meinte Polaniecki, »aber jetzt sehe ich immer mehr ein, wie klug Du bist.«

»Beobachte doch einmal unsere Frauen,« ergriff Maszko wieder das Wort, »besonders die aus der Finanzwelt, welche sich stets nach der neuesten Mode kleiden. Sie sind sich selbst ihr Gott, für den Gatten aber werden sie zum Chamäleon, ihn machen sie nur zu oft zum Helden einer Tragödie.«

»Dein Ausspruch trifft eigentlich doch nur bei den Frauen der Finanzwelt zu, die keine Traditionen hinter sich haben,« entgegnete Polaniecki.

»Unter der reichen Toilette dieser Frauen verbirgt sich sehr oft ein Sinn, der einem mehr oder minder verfeinerten Tier angemessen wäre. Und diese reiche, geputzte, vergnügungssüchtige Welt, in der man die künstlerischen, litterarischen, ja, sogar die religiösen Fragen mit einem geradezu naiven Dilettantismus behandelt, hält den Dirigentenstab in der Hand und ist somit tonangebend.«

»Das gilt aber nicht für unseren Kreis.«

»Sagen wir lieber nicht für alle in unserem Kreis. Glücklicherweise existieren noch Ausnahmen. Fräulein Plawicki ist der beste Beweis hierfür. Welch ein herrliches Leben muß das Bündnis mit einem solchen Mädchen gewähren, und wie schmerzlich ist es, von ihr abgewiesen zu werden.«

»Maszko, Du setzest mich immer mehr in Verwunderung. Niemals hätte ich Dich für enthusiastisch gehalten.«

»Für enthusiastisch! Fräulein Plawicki habe ich geliebt, und jetzt heirate ich Fräulein Kraslawski. Doch wie ist's? Willst Du mich führen?«

»Lasse mir doch wenigstens Zeit zum Ueberlegen.«

»In drei Tagen verreise ich.«

»Wohin?«

»Nach Petersburg. Ich habe Geschäfte dort. Wahrscheinlich muß ich zwei Wochen wegbleiben.«

»Dann sage ich Dir nach Deiner Rückkehr Antwort.«

»Gut.«

Die Freunde verabschiedeten sich voneinander. Nachdem Maszko gegangen war, begab sich Polaniecki ins Geschäft. Hier beriet er sich mit Bigiel und beschloß daraufhin, den Kauf abzuschließen, falls sich die Sache auch nur einigermaßen als gewinnbringend erweisen sollte.

Er empfand zudem plötzlich eine wahre Sehnsucht darnach, mit Krzemien in irgend einen Zusammenhang zu kommen. Selbst während der Comptoirstunden sann er wieder über sein Verhältnis mit Marynia nach. Als Endresultat dieser Betrachtungen sagte er sich, daß nur in der Arbeit Heil für ihn erwachsen könne. Bei Tisch traf er mit Professor Waskowski zusammen und bemerkte sofort, wie die beiden den alten Pädagogen bedienenden Kellner sich zublinzelten, wenn jener, seiner Gewohnheit gemäß, ein lautes Selbstgespräch hielt. Mit seinen blauen Augen sah er jetzt Polaniecki wie geistesabwesend an, dann richtete er sich empor, als ob er gerade aus dem Schlafe erwache, und sagte: »Sie erklärte, damit komme sie ihrem Kinde wieder näher.«

»Wer erklärte das?«

»Frau Emilie.«

»Inwiefern näher?«

»Sie will barmherzige Schwester werden.«

Auf diese Kunde hin vermochte Polaniecki lange Zeit keine Worte zu finden, schließlich aber sagte er ingrimmig: »Niemand anders wie Sie, Professor, haben Frau Emilie zu diesem Schritte überredet. Sie haben das Leben der Freundin auf dem Gewissen. Frau Emilie hat nicht die Kraft, den schweren Beruf einer barmherzigen Schwester auszuüben, und wird diesem innerhalb eines Jahres unterliegen. Verstehen Sie mich?«

»Mein Lieber,« antwortete Waskowski, »Sie halten ein Standgericht über mich, ohne mich zu Ende gehört zu haben. Gestern setzte mir Frau Emilie ganz unerwartet ihre Pläne auseinander, und ich fragte sie: ›Mein Kind, werden Sie auch die genügende Kraft für diesen schweren Beruf haben?‹ Darauf lächelte sie nur und erwiderte: ›Raten Sie mir nicht von meinem Vorhaben ab, denn darin finde ich mein Heil, mein Glück. Wenn es sich zeigt, daß ich nicht kräftig genug bin, werde ich nicht angenommen, und werde ich angenommen, trotzdem meine Kräfte nicht ausreichen, nun dann komme ich früher zu Litka, und das ersehne ich.‹ Was konnte ich anders thun, als eine solche Willenskraft, eine solche Einfalt bewundern? Was hätten Sie ihr gesagt? Wer von den Nichtgläubigen würde es übers Herz bringen, ihr klar zu machen, daß Litka aufgehört habe, zu existieren, und daß das Leben in der werkthätigen Liebe, in der Heiligung, daß der Tod in Christus sie nicht mit Litka vereinigen werde? Auf welche Weise soll man ihr Trost schaffen? Was für Hoffnungen kann man in ihr erwecken? Doch Sie werden ja Frau Emilie selbst sprechen. Deshalb sagen Sie mir aufrichtig, ob Sie ihr abzuraten gedenken?«

»Nein,« erwiderte Polaniecki und fügte dann hinzu: »Ach, was hat man auf der Welt! Nichts, nur schmerzliche Erfahrungen!«

»Vielleicht,« ergriff Waskowski nachdenklich das Wort, »läßt sie sich dazu bewegen, in einen beschaulichen Orden einzutreten, statt barmherzige Schwester zu werden. Es giebt Orden, in denen das armselige Atom Mensch so mit Gott eins wird, daß jegliches persönliche Empfinden, daß jegliches Leiden aufhört.«

Polaniecki machte eine abwehrende Bewegung. »Das Verständnis für solche Dinge fehlt mir,« sagte er, »kurz, ich kümmere mich nicht darum.«

»Just habe ich eine italienische Broschüre über die Nazarethanerinnen bei mir,« rief nun Waskowski, den Rock aufknöpfend. »Wo habe ich das Büchelchen nur hingesteckt?«

»Ach, lassen Sie es nur. Was gehen mich die Nazarethanerinnen an!«

Waskowski ließ sich aber nicht irre machen; er knöpfte auch noch die Weste auf, dann hielt er inne und schien sich zu besinnen. »Was suche ich nur?« sagte er, sich über die Stirn streichend. »Ja, ich weiß, das italienische Buch. Wissen Sie übrigens, daß ich in einigen Tagen nach Rom reise? Auf lange, auf sehr lange. Rom ist die Vorhalle zu einer andern Welt. Für mich ist es die höchste Zeit, in diese göttliche Vorhalle zu kommen. Wie gern würde ich Frau Emilie überreden, mich zu begleiten. Aber sie trennt sich nicht von dem Kinde. Die Ordensregeln bei den Nazarethanerinnen würden ihr sicherlich gefallen. Schlicht und einfach wie bei den ersten Christen.«

»Professor, knöpfen Sie die Weste zu,« warf Polaniecki ein.

»Gut, ich knöpfe sie zu. Ich habe aber noch etwas auf dem Herzen, das ich Ihnen sagen muß, denn wenn Sie auch ein Hitzkopf sind, so haben Sie doch eine Seele. Und glauben Sie mir, das Christentum hat sich nicht überlebt, wie sich gewisse rappelköpfige Philosophen einbilden, sondern es hat erst den halben Weg zurückgelegt, und . . .«

»Lieber Professor,« unterbrach ihn Polaniecki mit sanfter Stimme, »ich will alles, was Sie mir zu sagen haben, geduldig anhören, aber nicht jetzt; denn jetzt schnürt mir der Gedanke, welch ein Los Frau Emilie sich selbst bereitet, geradezu die Kehle zu.«

»Weshalb beklagen Sie die Freundin so sehr? Sie weiß ihr Leben nützlich anzuwenden, und der Tod wird ihr willkommen sein.«

Damit brach das Gespräch ab, oder gestaltete sich vielmehr zu einem Monologe des Professors, der sich in lange Reden über Rom und das Christentum erging.

Nach dem Essen traten Polaniecki und Waskowski gemeinsam den Heimweg an. Es war ein schöner Winterabend. Ein fröhliches Getriebe herrschte auf den Straßen, auf denen frischgefallener Schnee lag. Der helle Klang der Schlittenglocken ertönte weithin. Als Polaniecki sein Wohnzimmer betrat, stand die Photographie Litkas auf dem Tische, die ihm Marynia während seiner Abwesenheit geschickt hatte. Er war tief gerührt. Das Kind lächelte ihm aus dem Bilde mit einem Ausdruck zu, als ob es sagen wollte: So sind Sie endlich gekommen, Herr Stach? Um das reizende Köpfchen seines Lieblings grünten auf der weißen Umrahmung vier von Marynia gemalte Birken.

Lange Zeit stand Polaniecki vor dem Bilde, und erst der Eintritt seines Dieners, der ihm ein mit der Photographie gekommenes Billet Marynias einhändigte, riß ihn aus seiner Versunkenheit.

Fräulein Plawickis Zeilen lauteten, wie folgt: »Der Vater beauftragt mich, Sie für den Abend zu uns zu bitten. Emilie siedelte heute wieder in ihre Wohnung über und möchte in den nächsten Tagen nur sich selbst leben. Ich schicke Ihnen die Photographie Litkas und schließe mich der Bitte des Vaters an, weil ich mit Ihnen über Emilie sprechen möchte. Da Papa auch Herrn Bigiel einlädt, werden wir ungestört reden können.«

Ohne langes Zaudern kleidete sich Polaniecki sofort um und begab sich zu Plawickis.

Bigiel war schon anwesend. Er und Herr Plawicki spielten Piket, während Marynia, die etwas entfernt von ihnen auf einem niedrigen Sessel Platz genommen hatte, mit einer Handarbeit beschäftigt war. Nachdem Polaniecki alle begrüßt hatte, setzte er sich zu ihr. »Vor allem muß ich Ihnen tausend Dank für die Photographie sagen,« begann er. »Als ich ins Zimmer trat und das liebe Bild so unerwartet vor mir stand, vermochte ich mich anfänglich kaum zu fassen. In solchen Momenten lernt man erst recht die Größe eines Schmerzes kennen. Herzlichen Dank auch für die Ausschmückung des Bildes. Von Frau Emiliens Plänen hat mir Waskowski schon gesprochen. Glauben Sie, daß ihr Entschluß unwiderruflich feststeht?«

»So viel ich beurteilen kann: ja.«

»Und was halten Sie davon?«

Marynia sah ihn mit einem Blicke an, als ob sie sich bei ihm Rat erholen wolle. »Meiner Ansicht nach,« bemerkte sie schließlich, »fehlt es ihr an physischer Kraft für einen so schweren Beruf.«

Polaniecki nickte beistimmend.

»Ich machte Waskowski Vorwürfe,« sagte er, »weil ich dachte, daß er Frau Emilie beeinflußt habe, allein er überzeugte mich von seiner Schuldlosigkeit. Ich bin mir jetzt auch klar über die Absicht unsrer Freundin geworden. Sie hat mit dem Leben abgeschlossen, der Tod ist ihr erwünscht. Da sie aber die Gebote der Religion nicht übertreten will, nimmt sie Pflichten über sich, denen sie erliegen muß!«

»So ist's,« bestätigte Marynia leise.

Bei diesen Worten neigte sie sich plötzlich tief auf die Arbeit, wohl um ihr Gesicht vor Polaniecki zu verbergen, der aber trotzdem bemerkte, wie ihr große Thränen aus den Augen stürzten und auf die Perlen fielen, die sie in einer Schachtel vor sich hatte.

»Fräulein Marynia, Sie weinen!« sagte Polaniecki leise. Sie sah mit thränenfeuchten Augen zu ihm empor.

»Ich weiß ja, daß ich damit nichts gut mache,« erklärte sie, »aber der Entschluß Emiliens schmerzt mich tief.«

Polaniecki war ergriffen. Unwillkürlich erfaßte er Marynias Rechte und drückte zum erstenmale einen Kuß darauf. Jetzt aber begannen die Thränen aufs neue zu fließen. Das junge Mädchen erhob sich rasch und verließ das Zimmer.

Polaniecki wandte sich nun den Spielenden zu und hörte gerade, wie Herr Plawicki in sauersüßem Tone zu seinem Partner sagte: »Rubikon auf Rubikon! Schwierig, sehr schwierig! Sie repräsentieren die neue Zeit, ich bin noch aus der alten Zeit. Daher werde ich fortwährend geschlagen.«

»Die Zeiten haben doch nichts mit Piket zu thun,« warf Bigiel ein.

Schon nach wenigen Minuten trat Marynia mit der Meldung wieder ins Zimmer, daß der Thee bereit sei.

Ihre Augen waren zwar gerötet, aber aus ihrem Antlitz sprachen Ruhe und Frieden. Als ihr Vater sich nach dem Thee wieder mit Bigiel an den Spieltisch setzte, unterhielt sie sich mit Polaniecki in dem leisen vertraulichen Ton, den man nur nahestehenden Personen gegenüber anschlägt. Erst spät am Abend begab sich Polaniecki auf den Heimweg.

Seit dem Tode Litkas war seine Stimmung keine so milde gewesen.

Wieder trat er vor die Photographie der Kleinen, und unwillkürlich kam ihm der Gedanke, daß eine geheimnisvolle Kraft das Band immer fester knüpfe, das Litka zwischen ihm und Marynia geschlungen hatte.

Er legte sich nicht gleich zur Ruhe. Lange saß er noch an seinem Schreibtisch und prüfte die ihm von Maszko geschickte Aufstellung. Jeden Augenblick machte er indessen einen Rechenfehler, denn immer wieder sah er das gesenkte Haupt Marynias, sah er ihre thränenfeuchten Augen vor sich. Am folgenden Tage kaufte er den Eichenwald in Krzemien. Die Bedingungen waren übrigens sehr vorteilhaft.


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