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Frau Emilie, Litka und Marynia, sowie Herr Plawicki fuhren zu Tisch zu Bigiels, die während der Sommermonate eine im Wald gelegene, ein und eine halbe Stunde von der Stadt entfernte Villa bewohnten. Es war ein heiterer Herbsttag. Wald und Flur hingen voll schimmernder Sommerfäden. Die meisten Bäume prangten noch in frischem Grün, nur hier und da wurde das Laubwerk durch einen kahlen Stamm oder durch goldfarbiges und dunkelrotes Gesträuch unterbrochen. Diese Herbstfärbung rief in Marynia wieder so recht die Erinnerung an ihr Leben auf dem Lande wach, an die Felder mit den unzähligen Getreidegarben, an das ausgedehnte Wiesengelände, das am Horizonte von einem Erlenwald begrenzt wurde. Eine tiefe Sehnsucht ergriff sie. Für die Großstadt mit ihrem Getreibe und Gejage hatte sie kein Verständnis. Aufs schmerzlichste empfand sie es, daß all das, was für sie von Wert gewesen, unwiederbringlich verloren war, und wohin sich auch ihr Blick wandte, nichts zeigte sich ihr, das ihr den Verlust hätte ersetzen können. Doch nein! Wenn sie sich entschließen würde, Maszkos Frau zu werden, wäre es für sie möglich, das Verlorene wenigstens zum Teil wiederzugewinnen, aber schon allein bei dem Gedanken zog sich ihr Herz zusammen, und Maszko mit seinem Selbstbewußtsein, mit seinem roten Gesicht, mit seinem langen Backenbart und seinem fortwährenden Bestreben den Lord zu spielen, kam ihr geradezu widerlich vor. Noch niemals war sie so erzürnt über Polaniecki gewesen, der ihr Krzemien entrissen, der ihr Maszko zugeschickt hatte. Welcher Zukunft ging sie entgegen! Sie mußte in Warschau ein Leben führen ohne Zweck, ohne Arbeit, bar jedes edleren Strebens. So wirkte denn der heitere Herbsttag nicht beruhigend auf sie, sondern weckte Unmut und Bitterkeit in ihrer Seele. Die Fahrt verlief überhaupt nichts weniger als fröhlich. Litka schaute sehr betrübt darein, weil »Herr Stach« nicht mitfuhr. Frau Emilie beobachtete ängstlich ihr Töchterchen, und nur Herr Plawicki befand sich, wenigstens bei Beginn der Fahrt, in völlig heiterer Stimmung. Erstens war er bei dem milden Wetter frei von Rheumatismus und kam sich in seinem zugeknöpften Gehrock mit einer roten Nelke im Knopfloch, mit dem hellen Paletot und dem emporgedrehten Schnurrbart sehr anziehend vor; zweitens saß eine der schönsten Frauen Warschaus ihm gegenüber, die, wie er mutmaßte, unmöglich gleichgültig gegen so viele Vorzüge bleiben konnte, in jedem Falle aber sie bemerken und würdigen mußte. Es war in der That bewunderungswert, wie er in seiner Hoffnungsfreudigkeit bald in erhabenem, väterlichem Tone, bald scherzhaft zu reden wußte. Da er die Ueberzeugung hegte, die heutige Jugend lasse es den Frauen gegenüber an Galanterie fehlen, überbot er sich an Zuvorkommenheit und griff sogar, um ja kein Gesprächsthema unversucht zu lassen, auf die Mythologie zurück. Da er aber bemerkte, daß seine beredten Ausführungen nur mit einem schwachen Lächeln und mit außerordentlich geringer Aufmerksamkeit aufgenommen wurden, lenkte er ab und begann sich weitläufig darüber zu verbreiten, wie er durch die gesellschaftlichen Beziehungen seiner Tochter auch mit der Bourgeoisie in Berührung komme, was er für sehr zweckmäßig halte. Der Verkehr mit den verschiedensten Menschen sei stets förderlich, da man von allen etwas lernen könne. »Uebrigens,« fügte er hinzu, während der hoheitsvolle Ausdruck seines Gesichtes sich in tiefe Melancholie verwandelte, »ist es die Pflicht einer gewissen Gesellschaftsklasse, auf die Menschen einzuwirken, ihnen gesunde Grundsätze einzuflößen. Ich bemühe mich stets, diese Verpflichtung gegen die Allgemeinheit zu erfüllen.«
Zur festgesetzten Zeit fuhr der Wagen vor der Bigielschen Villa vor. Sie stand in der Nähe von anderen Villen inmitten eines Fichtenwaldes, der stellenweise abgeholzt war, stellenweise jedoch größere und kleinere Gruppen alter, schöner Bäume aufwies.
Herr und Frau Bigiel kamen mit allen Kindern zur Begrüßung der Gäste herbei. Frau Bigiel, die Marynia sehr gern leiden mochte, bewillkommte sie um so liebenswürdiger, als sie stets darauf bedacht war, Marynia für Polaniecki zu gewinnen, und sich sagte, daß erstere vielleicht doch weniger Schwierigkeiten machen werde, wenn sie einsehe, welch herzliche Aufnahme sie bei dessen Freunden finde. Herr Plawicki, der während eines früheren Aufenthaltes mit Marynia in Warschau die Bigiels bei Frau Emilie kennen gelernt hatte, benahm sich nun wie ein gnädiger Fürst und so affektiert wie nur möglich. Frau Bigiel küßte er wiederholt die Hand, zu Herrn Bigiel hingegen sagte er voll herablassender Güte:
»In der heutigen Zeit ist es für einen jeden höchst angenehm, sich unter dem Dache eines solchen Mannes wie Sie zu befinden, und ich schätze Ihre Vorzüge umsomehr, als mein Cousin Polaniecki, der sich ja auch dem Handel gewidmet hat, Ihr Kompagnon ist.«
»Polaniecki ist ein tüchtiger Mensch,« antwortete Bigiel einfach, indem er die behandschuhte Rechte Plawickis drückte.
Die Damen gingen einen Augenblick in das Haus, um die Hüte abzulegen, dann begaben sich alle auf die Veranda.
»Ist Herr Polaniecki nicht hier?« fragte Frau Emilie.
»Doch, gewiß. Er ist schon seit heute früh bei uns,« entgegnete Frau Bigiel, »aber eben jetzt stattet er bei Frau Kraslawski einen Besuch ab. Das ist gleich hier in der Nähe,« fügte sie zu Marynia gewendet hinzu, »rings um uns her wohnen Sommerfrischler, und die Damen Kraslawski gehören zu unsern nächsten Nachbarn.«
»Ich erinnere mich des Fräuleins Terka Kraslawski vom Karneval her,« warf Marynia ein. »Sie sah stets auffallend bleich aus.«
»Oh, sie ist auch jetzt noch sehr bleichsüchtig. Wegen ihrer schwachen Gesundheit verbrachte sie die letzten Wintermonate in Pau.«
Inzwischen hatten die Bigielschen Kinder Litka, die sie über alles liebten, zum Spielen vor das Haus gezogen. Die kleinen Mädchen zeigten ihr voll Stolz ihre Gärtchen, trotzdem deren Vegetation, da sie inmitten der Fichten in dem Sande angelegt waren, viel zu wünschen übrig ließ, und gaben abwechselnd ihren Gefühlen dadurch Ausdruck, daß sie sich auf die Zehen stellten und Litka auf die Wangen küßten, eine Liebkosung, welche von letzterer mit großer Zärtlichkeit erwidert wurde.
Allein die Knaben wollten auch ihren Anteil haben. Zuvörderst plünderten sie den Rest der vor dem Hause wachsenden Georginen, indem sie die schönsten darunter für Litka aussuchten, dann stritten sie darüber, was diese wohl am liebsten spiele, und legten schließlich die Frage Frau Emilie zur Entscheidung vor. Edzio, der die Gewohnheit hatte, sehr laut zu reden und dabei die Augen zuzudrücken, schrie sofort:
»Ich sage, daß Litka das Reifwerfen allen andern Spielen vorzieht, nur weiß ich nicht, ob Sie ihr das Spiel gestatten.«
»Oh ja, vorausgesetzt, daß Ihr Euch dabei nicht zu sehr erhitzt, weil sie das nicht ertragen kann.«
»Nein, sicherlich nicht. Wir werden alle Reifen so werfen, daß sie ihr gerade zufliegen. Und wenn Jozio das nicht versteht, soll er seinen Reifen jemand anderm zuwerfen.«
»Ich will aber auch mit ihr spielen!« erklärte Jozio in traurigem Tone.
Und schon allein bei dem Gedanken, daß man ihn dieses Vergnügens berauben könnte, verzog sich sein Mündchen zum Weinen. Litka verhütete noch glücklich den Ausbruch des Schmerzes, indem sie erklärte: »Und ich werde meinen Reifen Dir zuwerfen, Jozio.«
Auf diese Versicherung hin begannen die Augen Jozios zu strahlen.
»Die Kinder werden gewiß auf sie acht geben!« sagte Bigiel zu Frau Emilie. »Es ist merkwürdig, die ungeschliffenen Jungen balgen sich, so oft sie können, aber gegen Ihr Töchterchen sind sie durchaus rücksichtsvoll!«
»Ich habe auch selten so gut geartete Kinder wie die Ihrigen gesehen,« bemerkte Frau Emilie.
Die Knaben und Mädchen waren inzwischen zur Verteilung der Reifen und Stöcke in eine Gruppe zusammengetreten. Inmitten von Ihnen stand als die älteste und größte Litka, und obgleich die Bigiels lauter hübsche Kinder waren, sah sie mit ihrem süßen poetischen Gesichtchen, mit ihren zarten Zügen unter diesen pausbackigen Kleinen wie ein überirdisches Wesen aus. Frau Bigiel selbst war die erste, die dieser Beobachtung Ausdruck verlieh.
»Das ist doch ein entzückendes Wesen,« bemerkte sie. »Ich muß gestehen, daß ich den Blick nicht von ihr zu wenden vermag.«
Die Kinder stellten sich nun in einem großen Kreise auf. Marynia verließ die Veranda und stellte sich neben Litka, um ihr beim Auffangen der Reifen behilflich zu sein und sie vor Ermüdung zu schützen.
In diesem Augenblick kam Polaniecki auf dem breiten Waldwege daher, der zu der Villa führte, die Kinder gewahrten ihn nicht gleich, aber er überflog mit einem Blick die Veranda und den Platz vor dem Hause und beschleunigte sofort seine Schritte, als er des hellen Kleides Marynias ansichtig wurde. Litka, welche wußte, daß sich ihre Mama bei jeder lebhafteren Bewegung, die sie machte, in höchstem Grade beunruhigte, rührte sich kaum von der Stelle und fing nur die Reifen auf, die fast auf sie fielen. Marynia hingegen lief nach all den übrigen. Infolgedessen löste sich ihr Haar fortwährend, so daß sie es stets von neuem wieder befestigen mußte, und in dem Augenblick, da Polaniecki vor das Haus trat, stand sie ein wenig nach rückwärts gebeugt da, das Haupt gegen die linke Schulter geneigt.
Er verwandte kein Auge von ihr, er sah nur sie einzig und allein. Auf diesem großen Platze erschien sie ihm jünger und kleiner als gewöhnlich, so kindlich und anziehend, so ganz geschaffen dazu, sein Weib zu werden.
Kaum waren die Kinder seiner ansichtig geworden, so warfen sie die Reifen und Stöcke weg, stürzten auf ihn zu und umringten ihn mit großem Jubel. Litka schloß sich ihnen im ersten Augenblick an, plötzlich blieb sie jedoch zurück, erzitterte heftig und blickte mit ihren großen, traurigen Augen bald auf Polaniecki, bald auf Marynia.
»Willst Du Herrn Polaniecki nicht begrüßen?« fragte letztere.
»Nein.«
»Weil . . .«
Eine leichte Röte überzog die Wangen der Kleinen, obgleich sie selbst nicht wußte, weshalb sie ihre Gedanken nicht auszusprechen wagte. Er hingegen näherte sich, umringt von den Kindern, die er lachend von sich abzuwehren suchte.
»Hängt Euch nicht so sehr an mich, Ihr kleinen Taugenichtse,« erklärte er schließlich, »sonst werfe ich Euch alle zu Boden.«
Dann streckte er Marynia die Hand entgegen und schaute ihr mit einem Blick in die Augen, der um ein freundliches Lächeln, um ein herzlicheres Willkommen als gewöhnlich zu bitten schien.
»Und wie geht es meinem geliebten Mäuschen?« fragte er hierauf, sich zu Litka wendend.
Sein Anblick schien günstig auf das erregte Kind einzuwirken, denn die Kleine reichte ihm ihre beiden Händchen und erwiderte: »Oh, ganz gut, aber gestern abend bin ich sehr traurig gewesen, denn wer nicht gekommen ist, das war Herr Stach, und deshalb müssen Sie jetzt mit mir zu Mama gehen.«
Alle kehrten auf die Veranda zurück.
»Sie haben den Damen Kraslawski einen Besuch abgestattet?« fragte Emilie ihren Freund.
»Ja, die Damen werden nach dem Essen hierher kommen,« erwiderte Polaniecki.
Zum Essen wurde noch Professor Waskowski in der Villa erwartet. Er stellte sich auch pünktlich ein und brachte Bukacki mit. Die nahen Beziehungen zu Bigiels ermöglichten es diesem, ohne Einladung zu kommen, zudem war auch die Anwesenheit von Frau Emilie eine allzu mächtige Verlockung für ihn, als daß er ihr hätte widerstehen können. Er begrüßte sie wie gewöhnlich in scherzhafter Weise ohne jede Spur von Sentimentalität, sie hingegen machte auch jetzt kein Hehl daraus, daß sie ihn gern sah, weil sie sich stets über die originelle Art zu amüsieren pflegte, in der er seinen Gedanken Ausdruck verlieh.
»Sie wollten doch nach München und von dort nach Italien reisen?« fragte sie ihn, als sie sich zu Tische setzten.
»Gewiß, gnädige Frau,« antwortete er, »aber ich vergaß ein Messerchen mitzunehmen, mit dem ich unterwegs die Bücher aufschneide, und kehrte deshalb nach Warschau zurück.«
»Ein sehr triftiger Grund!«
»Ach, es macht mich stets ungeduldig, daß die Leute alles nur aus triftigen Gründen thun wollen. Haben denn gewichtige Gründe ein besonderes Privilegium, daß ein jeder sich nach ihnen richten muß? Uebrigens hatte ich die traurige Pflicht, einem Freunde das letzte Geleite zu geben. Gestern abend bin ich nämlich bei dem Begräbnis Sisowiczs gewesen.«
»Das ist doch der kleine, magere Sportsman?« fragte Bigiel.
»Ja,« antwortete Bukacki, »und ich sage Euch, ich konnte mich nicht von meinem Erstaunen darüber erholen, daß ein Mensch, der sein ganzes Leben hindurch Narrheiten verübte, eine so ernste Sache wie den Tod zustande gebracht hat. Ich erkannte meinen Sisowicz nicht wieder! Bei jedem Schritt erlebt der Mensch Enttäuschungen.«
»Denken Sie,« warf Polaniecki ein, »die Damen Kraslawski erzählten mir, Ploszowski, in den die ganze Frauenwelt in Warschau verliebt war, habe sich in Rom erschossen.«
»Das ist ein Verwandter von mir!« rief Plawicki.
Die Kunde erschütterte jedoch hauptsächlich Frau Emilie. Sie selbst hatte zwar Ploszowski nicht persönlich gekannt, aber sie war einigemale mit seiner Tante in Berührung gekommen, bei welcher der älteste Bruder ihres Gatten Verwalter geworden, nachdem er sein bedeutendes Vermögen verschwendet hatte. Sie wußte auch, daß diese Tante ihren Neffen geradezu vergöttert hatte.
»Mein Gott, welch ein Unglück,« rief sie. »Ob das wohl wahr ist? Ein so junger Mensch, so begabt, so reich . . . das arme Fräulein Ploszowski.«
»Und welch großes Gut bleibt nun ohne Erben,« fügte Bigiel hinzu. »Ich kenne die Familienverhältnisse der Ploszowski ziemlich genau, da das Gut ganz nahe bei Warschau liegt. Das alte Fräulein Ploszowski besaß nur zwei jüngere Verwandte, diesen Leon Ploszowski und Frau Kromicki, die nun beide nicht mehr leben.«
»Sprechen wir vom Leben, nicht vom Tode!« ergriff Bigiel das Wort. »Also auf Frau Emiliens Gesundheit!«
»Und auf die Litkas!« fügte Polaniecki hinzu. Dann wandte er sich an Marynia:
»Auf die Gesundheit unsrer gemeinschaftlichen Freundinnen!«
»Von ganzem Herzen!« rief das junge Mädchen.
Er dämpfte die Stimme ein wenig und fuhr fort:
»Sie müssen wissen, ich betrachte Frau Emilie und Litka nicht nur als meine Freundinnen, sondern auch . . . wie soll ich sagen . . . als meine Fürsprecherinnen. Litka ist freilich noch ein Kind, aber Frau Emilie versteht es, sich ihre Freunde auszuwählen. Wenn daher irgend jemand ein Vorurteil gegen mich hätte – ich will sogar zugestehen, ein begründetes Vorurteil, weil ich mich nicht so benommen habe, wie es sich gehört – so dürfte doch sicherlich dieser Jemand mich nicht für den schlimmsten aller Menschen halten, wenn er sieht, wie sehr mich das schmerzt, vor allem aber, wenn er weiß, welch freundschaftliches Wohlwollen Frau Emilie für mich hegt.«
Marynia sah sehr bestürzt aus, und unwillkürlich regte sich ein Gefühl des Mitleids in ihr, als er noch leiser fortfuhr:
»Und ich quäle mich unsagbar. Mir geht das sehr, sehr nahe.«
Bevor sie jedoch antworten konnte, erhob sich Plawicki, um die Gesundheit von Frau Bigiel auszubringen, und hielt eine Rede, in der er das Weib als die Krone der Schöpfung verherrlichte und darauf hinwies, daß man vor den Frauen wie vor Königinnen das Haupt beugen müsse, daß er dieses Gebot sein ganzes Leben hindurch befolgt habe und nun auch freudig vor Frau Bigiel das Haupt beuge.
Polaniecki war außer sich und wünschte von ganzem Herzen, der Redner möge an den eigenen Worten ersticken. Seine Hoffnung, von Marynia mit einem gütigen Wort belohnt zu werden, schwand dahin. Marynia erhob sich, um mit Frau Bigiel anzustoßen, und als sie an ihren Platz zurückkehrte, wagte er nicht, sie um eine Antwort zu bitten.
Sofort nach Beendigung des Mittagessens erschienen die Damen Kraslawski. Die Mutter, eine Frau in den fünfziger Jahren, lebhaft, selbstbewußt und schwatzhaft, die Tochter der völlige Gegensatz zu der Mutter, steif, kalt, sagte stets »jä« statt »ja« und war eine hübsche Erscheinung, aber auffallend blaß und mit einem Gesichte, das ein wenig dem Typus der Holbeinschen Madonnen glich.
Polaniecki begann sich aus Zorn sofort mit ihr zu unterhalten. Von Zeit zu Zeit schaute er jedoch auf das frische Gesicht und die blauen Augen Marynias und dachte bei sich: »Hättest Du mir wenigstens ein gutes Wort vergönnt, Du Unbarmherzige!« Dann wurde er immer zorniger, und als Fräulein Kraslawski einmal Mämä statt Mama sagte, fragte er sie unfreundlich: »Wer ist das?«
Die »Mämä« jedoch erging sich in weitläufigen Auseinandersetzungen und Vermutungen über den Selbstmord Ploszowskis.
»Ich versichere Sie,« ereiferte sie sich, »eines war sofort klar, daß er sich aus Schmerz über den Tod von Frau Kromicki erschossen hat. Gott sei ihrer Seele gnädig! Das ist eine Kokette gewesen! Ich mochte sie gar nicht leiden. Sie kokettierte dermaßen mit ihm, daß ich es nicht gern hatte, wenn Terka sie beisammen sah. Ein schlechtes Beispiel für ein solch junges Mädchen. Aber was wahr ist, bleibt wahr . . . Gott sei ihrer Seele gnädig . . . Terka hatte auch gar keine Sympathie für sie.«
»Aber,« warf Frau Emilie ein, »ich hörte doch immer, Frau Kromicki sei geradezu ein engelhaftes Geschöpf gewesen!«
»Madame, je vous donne ma parole d'honneur, daß sie ein Erzengel war,« wandte sich Bukacki nun an Frau Kraslawski, trotzdem er Frau Kromicki niemals gesehen hatte.
Frau Kraslawski verstummte auf einen Augenblick. Sie wußte nicht recht, was sie erwidern sollte. Eine ärgerliche Antwort wollte sie nicht geben, da Bukacki, ein vermögender Mann, ihr als eine ganz wünschenswerte Partie für Terka erschien und sie ihn deshalb stets sehr rücksichtsvoll behandelte. Auch Polaniecki erfreute sich aus dem gleichen Grunde ihrer besondern Huld, ja, vornehmlich wegen dieser beiden hielt sie während des Sommers die Beziehungen zu den Bigiels aufrecht, die sie übrigens, wenn es ihr gerade beliebte, auf der Straße nicht kannte.
»Für Herren,« begann sie schließlich nach einer längeren Pause, »ist jede hübsche Frau ein Engel oder ein Erzengel. Aber selbst wenn mir das von Terka gesagt wird, ist es mir unangenehm. Frau Kromicki kann ja eine recht gute Person gewesen sein, aber Takt besaß sie keinen, das ist gewiß.«
Da niemand mehr etwas erwiderte, nahm die Unterhaltung eine andere Wendung. Das Hauptaugenmerk von Frau Kraslawski richtete sich jetzt auch auf Polaniecki, der in ein eifriges Gespräch mit Terka vertieft schien. Er unterhielt sich mit ihr teils aus Zorn über sich selbst, teils aus Groll auf Marynia, suchte sich aber trotzdem einzureden, daß er sich sehr von ihr angezogen fühle, ja, er ging sogar so weit, sie vernünftig zu finden und ihren schlanken Hals, sowie ihre etwas matten Augen zu bewundern, die sich im Gespräch mit ihm belebten. Sehr wohl bemerkte er aber auch, daß sie eine große Despotin war, denn sobald ihre Mutter etwas lauter sprach, als sie es für schicklich hielt, führte sie die Lorgnette an die Augen und schaute sie mit einem solch durchdringenden Blicke an, daß jene entweder sofort die Stimme dämpfte oder völlig verstummte.
Polaniecki wurde immer erregter, sehnte sich immer heißer nach Marynia. Er hätte sich nunmehr damit begnügt, die unliebenswürdigsten Worte aus ihrem Munde zu vernehmen, nur um sich ihr nähern zu können. Allein dies schien ihm jetzt noch schwieriger als vor einer Stunde.
Voll Erleichterung atmete er auf, als gegen Abend die Gäste sich zum Aufbruch rüsteten. Litka näherte sich ihrer Mutter, schlang die Arme um ihren Hals und flüsterte ihr etwas zu. Diese nickte mit dem Kopfe, wendete sich zu Polaniecki und sagte: »Herr Stanislaus, wenn Sie nicht die Absicht hegen, hier zu übernachten, können Sie mit uns zurückfahren. Marynia und ich nehmen Litka zwischen uns, so daß genügend Platz für Sie sein wird.«
»Ich kann unmöglich hier übernachten und bin Ihnen daher sehr dankbar für Ihr Anerbieten,« antwortete Polaniecki.
Und da er sich leicht denken konnte, wer der Urheber des Vorschlages gewesen, ging er auf Litka zu und raunte ihr zärtlich ins Ohr: »Du mein liebes Herzchen, Du!«
Wenige Minuten später fuhr der Wagen von der Villa weg. Dem schönen Tag war eine noch schönere, silberhelle Mondnacht gefolgt. Polaniecki atmete erleichtert auf und gab sich rückhaltlos dem beseligenden Gefühle hin, die zwei Wesen vor sich zu haben, denen er innig zugethan war, und vor allem das teure Mädchen in seiner Nähe zu wissen, das er über alles in der Welt liebte. In dem hellen Mondlicht konnte er deutlich ihr Gesicht sehen. Sie schien heiter und ruhig zu sein. Vielleicht, so dachte er, gleichen in diesem Augenblick ihre Gefühle den meinen, vielleicht schmilzt ihr Unwille über mich bei dem ringsum herrschenden Frieden.
Litka hatte sich tief in dem Sitz zurückgelegt. Sie schien zu schlafen. Polaniecki bedeckte sorgsam ihre Füßchen mit Frau Emiliens Shawl. Längere Zeit fuhren sie in tiefstem Schweigen dahin, bis es von Frau Emilie gebrochen wurde, die wieder über Ploszowski zu sprechen anhub.
»Dieser Selbstmord ist wahrscheinlich der Abschluß einer furchtbaren Tragödie,« bemerkte Polaniecki. »Frau Kraslawski mag mit ihrer Behauptung nicht so unrecht haben, daß der Tod der beiden in Zusammenhang stehe.«
»Bei einem Selbstmord ist es schlimm, daß man ihn verurteilen muß,« warf Marynia ein, »und verurteilt man ihn wirklich, so macht man den Eindruck, als ob man kein Mitgefühl für das Unglück andrer habe.«
»Mitgefühl sollte man vor allem für die zeigen,« ergriff der junge Mann das Wort, »die es noch empfinden können, also für die Lebenden.«
Damit ward das Gespräch wieder abgebrochen, und erst nach einigen Minuten sagte Polaniecki, während er auf die erleuchteten Fenster eines in einem parkähnlichen Garten stehenden Hauses deutete: »Das ist die Villa der Damen Kraslawski.«
»Ich finde die Art, wie Frau Kraslawski über die unglückliche Frau Kromicki spricht, ganz unverzeihlich,« erklärte Frau Emilie.
»Die Dame ist wie ein Raubtier,« entgegnete Polaniecki. »Und wissen Sie weshalb? Nur wegen der Tochter. Sie möchte am liebsten die ganze Welt so schwarz wie möglich malen, damit Fräulein Terka als unschuldsvoller Engel erscheine. Möglich, daß sie auf Ploszowski Absichten hatte, in Frau Kromicki ein Hindernis für ihre Wünsche sah und sie deshalb haßte.«
»Fräulein Terka ist übrigens ein sehr hübsches Mädchen,« bemerkte Marynia.
»Es giebt Menschen,« erwiderte Polaniecki, »bei denen die gesellschaftlichen Formen das am meisten ins Auge Fallende sind, deren Seelenleben aber trotzdem ein innerliches, tiefes ist – bei Fräulein Terka hingegen findet man nichts wie Form. Sie ist ein Automat, dessen Herz nur dann schlägt, wenn die Mutter es mit dem Schlüssel aufzieht. Es giebt unzählige solcher Frauen, und sogar die, welche sich anders dünken, sind oft selbst so. Ist es indessen zu glauben, daß einer meiner Bekannten, ein junger Arzt, sich vor ein paar Jahren sterblich in diese seelenlose Puppe verliebte? Zweimal warb er um sie, und zweimal wurde er abgewiesen, weil die Damen ganz andre Pläne im Kopfe haben. Er trat dann in holländische Dienste und starb sicherlich irgendwo am Fieber, denn anfangs schrieb er zwar regelmäßig, um sich nach seinem Automaten zu erkundigen, später blieben jedoch die Briefe gänzlich aus.«
»Weiß sie das?«
»Sie weiß es; denn so oft ich mit ihr zusammentreffe, so oft rede ich von ihm. Aeußerst charakteristisch für sie ist es, daß die Erinnerung an ihn auch nicht eine Sekunde lang ihre Heiterkeit trübt. Sie spricht in demselben Ton von ihm wie von jedem andern Menschen. Man wäre in einer Täuschung befangen, wollte man bei ihr eine schmerzliche Empfindung über seinen mutmaßlichen Tod voraussetzen. Ich muß Ihnen doch einmal einen seiner Briefe zeigen. Auf meine Vorstellungen hin, er müsse seiner Gefühle Herr zu werden suchen, schrieb er mir: ›Ich beurteile sie von einem nüchternen Standpunkte aus, sie wird aber meine Seele ewig gefangen halten.‹ Er war übrigens ein Skeptiker, ein Materialist, das echte Kind unsrer Zeit. Stets zeigt es sich von neuem, daß das Gefühl aller Philosophie, jeder Zeitströmung spottet. Alles vergeht, nur die Liebe überdauert alle Zeiten, so ist es stets gewesen, so wird es ewig bleiben. Jener junge Arzt setzte mir einmal auseinander: ›Ich möchte lieber unglücklich mit ihr sein, als glücklich mit einer andern.‹ Was läßt sich da sagen? Der Verstand urteilt nüchtern, aber die Seele bleibt ewig gefangen.«
Sie fuhren jetzt auf einer Landstraße mit Kastanienbäumen besetzt, deren Stämme im Scheine der Wagenlaternen rötlich schimmerten.
»Und wenn jemand von einem solchen Unglück betroffen wird, muß er sich geduldig darein schicken,« bemerkte Polaniecki plötzlich, dem Gang der eigenen Gedanken folgend.
Jetzt neigte sich Frau Emilie zu Litka:
»Schläfst Du, Kindchen?« flüsterte sie.
»Nein, Mütterchen!« antwortete die Kleine.