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Zwei Tage später saß Frau Mary wieder einsam in einem Gasthaus und wartete. Es war ein schmales, düsteres Kämmerchen, in dem sie sich befand. Eine kleine Lampe erleuchtete es nur matt, und der ganze Raum glich mehr einer Gefängniszelle als einer Stube zum Wohnen. In einer Ecke war aus Stroh, ein paar Kissen und Decken notdürftig ein Lager hergerichtet, in der Mitte des Zimmers stand ein schmaler Tisch, zwei Stühle daran, am Boden lag ein Reisesack, das war alles. Das ganze Kämmerchen aber schien zu zittern und zu schwanken, das rollte und dröhnte draußen so, daß die Lampe auf dem Tisch unaufhörlich klirrte. Mary Flemming starrte verzweifelt auf ihren eigenen Schatten, der groß an der getünchten Wand schwebte. Es war der zweite Abend nach ihrer Ausfahrt von Offenburg. Seit Stunden saß sie in Gravestaten, einem durch die Ortschaft Illkirch mit Straßburg verbundenen Vorort, und noch immer wußte sie nicht, ob ihre Kinder noch lebten, ob sie sie je wiedersehen würde! Draußen rann der Regen, Soldaten zogen mit schweren Geschützen stampfend vorbei, man hörte die Geschütze donnern und laute Stimmen in der Gaststube und auf der Straße. Fritz Flemming irrte seit Stunden draußen herum, um zu erfahren, ob und wann in Straßburg ein Tor geöffnet würde, Flüchtlinge heraus zu lassen. Zu der Sorge um die Kinder gesellte sich, je länger sie wartete, noch die um den Gefährten, sie wußte, daß der Weg, den er ging, gefährlich war, da er an der Geschützlinie lag. Wenn ihm etwas geschah, wenn er nicht wiederkehrte!
Zuletzt hielt sie es nicht mehr aus in dem einsamen Gemach, sie sprang auf, öffnete die Türe und lauschte hinaus. Da hörte sie unten eine wohlbekannte Stimme; rasch lief sie die Treppe hinunter; da stand Fritz Flemming, blaß, durchnäßt, er nickte ihr ermutigend zu, aber sie merkte wohl, er brachte keine gute Nachricht. Stumm gab sie ihm die Hand. »Ich bin zu den Vorposten vorgedrungen,« sagte er, »aber ich konnte nichts Genaues erfahren; man sagte mir, daß vielleicht morgen früh ein Tor geöffnet würde!«
»Vielleicht – immer vielleicht! Wieder eine Nacht, wieder keine Gewißheit!« murmelte sie verzagt.
Fritz Flemming geleitete sie in die Kammer zurück. »Keine Gewißheit, aber immer die Hoffnung noch,« tröstete er. Und dann erzählte er von seinem Weg, von all dem Elend, das er draußen gesehen hatte; da wurde Frau Mary wieder still und geduldig und bezwang ihr Leid. Schlaf vermochte sie aber nicht zu finden in dieser Nacht, und auf Zureden des Freundes beschloß sie, an Lizzie zu schreiben und dieser von ihrer schweren, mühevollen Fahrt zu erzählen.
Während Fritz Flemming ein kleines Buch aus der Tasche zog, »Wahrheit und Dichtung« von Goethe, und durch Lesen die trüben Gedanken zu bannen suchte, ergriff Mary die Feder und begann mit zitternden Fingern ihren Brief.
»Gravestaten, den 13. September.
Liebe Lizzie!
Fritz Flemming sagt, ich soll mir das Herz durch einen Brief befreien; ich will's versuchen, ich will versuchen, über die endlose, furchtbare Nacht mit ihrer Angst und Ungewißheit hinwegzukommen. Von Offenbach aus schrieb ich Dir ein paar Zeilen, sie sagten Dir, daß Fritz Flemming mich gefunden hat, heute sollst Du von unserer Fahrt hierher Bericht bekommen. Morgens ½9 Uhr brachen wir endlich in Offenburg auf. Über eine fliegende Brücke ging's nach dem anderen Rheinufer. Diese Brücke war nur für solche passierbar, die einen Schein hatten, besonders für Marketender und Lebensmittellieferanten; auch wir zeigten unseren Paß und kamen ungehindert durch. Kaum erkannte ich die Ortschaften: die blühenden Dörfer, die ich einst in heiterer Sommerpracht gesehen, lagen wie ausgestorben, kein Rauch aus den Schornsteinen, keine spielenden Kinder ringsum. Langsam hob sich nun auch der trübe Morgennebel, die Sonne brach durch und beleuchtete grell und klar die traurige Öde der Landschaft. In anderen Ortschaften, wie in Ober-, Mittel- und Unterbergen, lag viel Militär, und unser Wagen wurde viel angehalten und der Geleitschein verlangt. Es schien etwas sehr Seltenes zu sein, in dieser Zeit eine Frau des Weges kommen zu sehen, man mochte mich wohl für die Gemahlin eines höheren Offiziers halten, denn verschiedene Leute drängten sich an unseren Wagen heran und übergaben mir Bittschriften an den Oberbefehlshaber, die Fritz Flemming an sich nahm. Je mehr wir uns Mundolsheim näherten, desto mannigfaltiger und bewegter gestaltete sich das Lagerleben. Gruppenweise saßen Soldaten zusammen und flochten Schanzkörbe, um sie bei nächtlicher Dunkelheit zum Belagerungspark zu befördern, eine Anzahl Wagen, halbvoll geladen, stand schon dafür bereit. Wieder andere Soldaten waren mit dem Abkochen beschäftigt; öfters traten auch Offiziere an unseren Wagen heran, die, nachdem sie unsere Legitimationen besichtigt hatten, durchweg teilnehmend und höflich waren; ich merkte aber aus der Miene manch eines, daß er wenig Zutrauen zu dem guten Ende unseres Unternehmens hatte. Mein Mut sank immer wieder herab, und der treue Freund mußte wieder und wieder mich aufrichten.
In einem Halbkreis umfuhren wir Straßburg, das Münster immer in Sicht, über dem, wie über der ganzen Stadt, eine große Rauchwolke stand, die sich schwer und dunkel von dem strahlend hellen Himmel abhob.
Ich war immer in Sorge, wir könnten den Weg verfehlen, aber Fritz fuhr so sicher, als sei er seit Jahren in der Gegend. Hin und wieder fragte er einen Soldaten, und es war merkwürdig, wie gut die Leute Bescheid wußten. Wir verfehlten nicht einmal den Weg. Endlich gegen fünf Uhr nachmittags fuhren wir in Mundolsheim ein, ein freundliches Städtchen mit reinlichen Häusern und kleinen Vorgärten. Nur das viele Militär zerstörte das friedliche Bild. Gleich am Eingang begegnete uns zu Pferd, die weiße Fahne schwenkend, ein Parlamentär. »Straßburg hat kapituliert«, war mein erster Gedanke, ich sprang fast aus dem Wagen in freudiger Erwartung. Aber meine Freude war zu früh, wir erfuhren, daß der Parlamentär die täglichen Botschaften zwischen dem deutschen Hauptquartier und dem Kommandanten, General Uhrich, überbrachte.
Wir fuhren nun nach dem Rathaus, wo ich nach dem General Werder fragte. Ziemlich barsch entgegnete der Beamte, »man gelange nicht so leicht zum Oberbefehlshaber«. Als er jedoch unsern Geleitsbrief sah, wurde er etwas zuvorkommender und erklärte uns, wir müßten nach der Bürgermeisterei fahren, wo jetzt General Werder mit seinem Stab sich aufhalte. Dort angelangt, verabredete ich mit Fritz, daß ich erst ohne seine Begleitung hineingehen wollte; zitternd und mit Herzklopfen betrat ich den Hausflur. In diesem Augenblick kam gerade ein Soldat, mit Blumensträußen in der Hand, aus dem Garten her und öffnete zur Rechten des Flurs eine Tür. Durch die Glasscheiben derselben konnte ich in ein ziemlich geräumiges Zimmer sehen, in dem eine lange, gedeckte Tafel stand, auf die der Soldat die Blumensträuße in leere Weinflaschen stellte. Diese an sich geringfügige Kleinigkeit wirkte in dieser Stunde seltsam beruhigend auf mich, diese Blumen erschienen mir als ein glückliches Symbol, und als der Soldat gleich darauf wieder aus dem Zimmer kam, fragte ich ihn, ob die Blumen, die er eben hineingetragen, die Tafel des Generals von Werder schmückten. Er bejahte und fügte hinzu, ›dies geschehe, wenn möglich, jeden Tag‹, und dabei machte er eine Handbewegung nach dem Zimmer hin, als wollte er sagen: ›Nicht zu laut‹, und verließ darauf den Flur. Ich wagte nun näherzutreten, und das Gesicht etwas an die Scheiben der Tür pressend, sah ich mehrere Offiziere an einem mit Karten bedeckten Tisch stehen, einer derselben deutete mit einer Feder auf eine bestimmte Stelle hin und sprach lebhaft. Ich wagte es nicht, einzutreten und zu stören; so stand ich und wartete und beobachtete dabei voll Interesse die ausdrucksvollen Gebärden der Offiziere, denn verstehen konnte ich nichts, ich sah nur, wie ein jüngerer Offizier einen Einwand zu machen schien, und ein älterer Herr, in dem ich den General von Werder vermutete, immer wieder auf verschiedene Stellen der Karte wies. – Ich hatte es dabei ganz überhört, daß neben mir eine Tür geöffnet wurde, und fuhr erschrocken zusammen, als sich schwer eine Hand auf meine Schulter legte und ein Herr mich ziemlich barsch anfuhr: ›Was gibt es denn hier herumzuspionieren, he?‹ Und noch ehe ich eine Antwort geben konnte, umgaben mich bereits mehrere Soldaten, aber zum Glück ließ ich mich nicht verwirren und gab, wenn auch mit etwas zitternder Stimme, so doch kurz und klar Auskunft über mein Hiersein. Dem Herrn Bürgermeister – daß er es war, erfuhr ich später – schien die Sache aber immer noch verdächtig, er behielt mich scharf im Auge, sandte aber doch in den Saal hinein, und gleich darauf kam ein Adjutant, dem ich meinen Geleitsbrief gab. Ich konnte nun durch die Türscheiben sehen, wie er damit zu dem Offizier herantrat, in dem ich schon vorher den General von Werder vermutet hatte; er war gerade an die Tafel getreten, um sich niederzulassen, und voll Angst sah ich, wie sein Gesicht sich verfinsterte, als der Adjutant ihm meinen Brief übergab. Aber bald verschwand der ärgerliche Ausdruck, aufmerksam las er das Schreiben durch und gab es dem Adjutanten zurück, während er ihm eindringlich etwas zu erklären schien. Ich hielt mich krampfhaft an dem Türpfosten fest, meine Füße versagten fast den Dienst, so zitterte ich, war doch das der Moment, der für das Schicksal meiner Kinder entscheidend war. Endlich kehrte der Adjutant wieder zurück, er gab mir in freundlichster Weise Bescheid und sagte, ich solle in dem Zimmer der Bürgermeisterei eine Reklamation mit genauer Angabe von Straße und Nummer des Pensionats, den Namen der Kinder usw. ausfertigen, an den Kommandanten von Straßburg, General Uhrich, adressieren und von dem Bürgermeister von Mundolsheim unterschreiben lassen und dann sie dem Pfarrer zur Einsicht bringen, der sie dem Parlamentär übergeben würde. –
›Werde ich dann bald meine Kinder wiedersehen?‹ fragte ich den Adjutanten. Dieser zuckte die Achseln: ›Wann, ist freilich nicht zu sagen, aber es ist am besten, Sie fahren morgen nach Gravestaten, dort ist das einzige Tor, das möglicherweise geöffnet wird.‹
Ich dankte dem Offizier bewegt und begab mich dann in das Zimmer der Bürgermeisterei, einen kleinen, engen Raum, in dem Mann, Frau und Kinder untergebracht waren. Dort traf ich einen Herrn, der eine ganze Rolle von Reklamationen in der Hand hielt und der mir, als er mein Anliegen hörte, mitteilte, daß er sich hier als Mitglied eines Komitees befinde, das sich auf Anregung der Schweizer Regierung gebildet habe und den Zweck verfolge, von dem Kommandanten Uhrich zu erwirken, daß den Greisen, Kranken, Frauen und Kindern gestattet werde, die Stadt vor dem Sturm zu verlassen, und man hoffte, daß diese Forderung der Menschlichkeit erfüllt werde. Ein gütiges Geschick ließ mich zur rechten Zeit kommen, und ich konnte meine Reklamation in die Hände dieses Mannes legen, nachdem ich sie noch, der Anweisung des Generals von Werder folgend, vom Bürgermeister und Pfarrer hatte unterschreiben lassen. –
Es dunkelte bereits, als ich zu Fritz zurückkehrte. Dieser hatte sich in der Zeit bemüht, ein Unterkommen für die Nacht zu finden. Es war vergebens gewesen, da der Ort von Militär überfüllt war und die Einwohner selbst kaum einen Platz für sich hatten. Auch die Frau des Bürgermeisters konnte uns kein Unterkommen gewähren, und so mußten wir versuchen, irgendwo in der Nähe ein Quartier zu finden. So fuhren wir denn in den allmählich zur Nacht sich wandelnden Abend hinaus; es war windig geworden, und ein leichter Regen fiel herab; wir waren müde, abgespannt und froren in der Abendkühle, und unser Pferd kam auch nur langsam vorwärts. Jetzt in der Dunkelheit kamen wir etwas vom Wege ab, und etwa nach einer Stunde sahen wir Lichter schimmern. Wir hielten auch bald vor einem erleuchteten Gebäude, und ich stieg ab, um Aufnahme zu erbitten, die man mir aber nicht gewähren konnte. Es war die Irrenanstalt Stehfelden, die in ein Militärlazarett umgewandelt war. Wir fuhren weiter. Die dicken Rauchwolken über Straßburg hatten sich rot gefärbt, der ganze nächtliche Himmel schien zu glühen, und man hatte wohl das Bombardement wieder aufgenommen, denn unaufhörlich dröhnten die Geschütze, und dann war mitunter ein Schwirren und Zischen über unseren Köpfen, wir mußten in der Schußlinie sein. Keiner von uns sprach ein Wort, wir fühlten nur beide in dieser Stunde die Größe der Gefahr. Einmal begegnete uns ein langer, langer Zug, schweigend wie der Zug des Todes ging er an uns vorüber, kein Zuruf ertönte, kein Laut war hörbar, nur das Rollen der Wagen, es war anscheinend Verschanzungsmaterial, was da transportiert wurde; vielleicht waren es auch Verwundete, Tote, ich weiß es nicht.
Wie lange wir so dahingefahren waren, konnte ich nicht berechnen, ein Licht, das vor uns auftauchte, riß uns aus unserem trüben Sinnen. Wir hielten vor einem kleinen Hause. ›Laß mich fragen,‹ bat ich Fritz, stieg aus und bat um Einlaß, und wieder wurde ich abgewiesen. Eine Frau stand in der Tür: ›Das Haus ist übervoll, Madame, wir haben selbst nichts zu essen!‹ Schon wollte ich verzweifelt wieder umkehren, da drängte sich ein kleines Mädchen vor und rief: ›Ich gebe der armen Frau mein Bettchen‹, und ihre kleine Hand griff nach meinem Kleid. Da übermannte mich die Schwäche, und ich brach in Tränen aus. Nun zog mich auch die Frau mitleidig hinein, und Fritz folgte. In einem ziemlich engen Zimmer, in das uns die Frau führte, saßen mehrere preußische Soldaten, die etwas erstaunt auf die späten Gäste blickten. Einige putzten ihre Gewehre, andere saßen am Tisch und löffelten eine dampfende Suppe, ein bärtiger Krieger hatte ein kleines Kind der Wirtin auf dem Schoß und blies sinnend den Rauch seiner Pfeife in die Luft. Später erzählte er mir, er habe ein Weib und zwei Kinder daheim. Wir wurden bald miteinander bekannt, und die Soldaten behandelten mich voll teilnehmender Ritterlichkeit. Als sie hörten, daß wir von Mundolsheim über Stehfelden kamen, blickten sie sich ganz erstaunt an; endlich sagte der eine: ›Sapperlot, das tut Ihnen nicht leicht eine zweite nach, da heißt es »Gott befohlen«.‹
Ich erzählte ihnen nun, daß meine Kinder in Straßburg seien, und wieder überwältigten mich Schwäche, Angst und Aufregung, und ich begann zu weinen. Fritz suchte mich zu trösten; da sagte der eine Soldat: ›Sehen Sie mal her, Sie haben gewiß noch kein Zündnadelgewehr gesehen,‹ und er begann mir die einzelnen Teile zu erklären, und wenn er sah, daß ich immer wieder zusammenzuckte, wenn der Kanonendonner erdröhnte, sagte er: ›Sie müssen aufpassen, das ist 'ne ungeheuer wichtige Sache!‹ Dem Wackeren zuliebe, der sich so eifrig bemühte, meine traurigen Gedanken zu zerstreuen, lenkte ich krampfhaft meine Aufmerksamkeit auf das Gewehr. So verging die Zeit; die Wirtin kam und führte mich in ein winziges Kämmerchen, wo sie mir ein Lager zurechtgemacht hatte, während Fritz neben den Soldaten einen Platz fand. Da lag ich denn die lange Nacht, mein kleiner Lichtrest war bald niedergebrannt; ohne Unterlaß erdröhnten die Geschütze, ich versuchte meine Gedanken abzulenken und an meine Buben, an die schöne Vergangenheit und an eine vielleicht heitere Zukunft zu denken, vergeblich, – ich hörte immer wieder das Dröhnen da draußen. Das Bombardement schien immer stärker zu werden, in meiner Angst versuchte ich zu beten, und zuletzt sagte ich nur immer die Worte vor mich hin: ›Vater, der du die Kinder liebst‹, so wie meine Kinder allabendlich beteten, und darüber wurde ich ruhiger, und von neuem zog die Hoffnung in mein Herz ein.
Am andern Morgen um sechs Uhr brachen wir bei heftigem Regenwetter nach Gravestaten auf. Fritz war rührend in seiner Sorge um mich, was wäre aus mir ohne den treuen Freund geworden! Unser Weg ging immer dicht an der Schußlinie entlang, vorbei an dem Artilleriepark, der den wesentlichsten Angriffspunkt für die französischen Geschütze bildete. Nachher erst erfuhren wir, daß wir einen verbotenen Weg gefahren waren. Deutlich konnten wir die Baracken sehen, wo die Granaten gefüllt wurden. In zahllosen Reihen aufgestellt, sahen wir die Kanonen. Krieg überall, Krieg, wohin wir blickten. Über Straßburg hingen wieder die dunkeln Wolken, und über uns sauste und zischte es, und stumm saßen wir, darauf gefaßt, jede Minute von einer Kugel getroffen zu werden. Auf den Schienen standen leere Waggons, wohl dazu bestimmt, bei einem Zurückziehen der Truppen diese aufzunehmen. Merkwürdigerweise begegneten wir fast niemand, und unser Geleitschein wurde erst in Gravestaten, das wir um zwölf Uhr erreichten, verlangt; dieses ist durch die Ortschaft Illkirch mit Straßburg verbunden, auch hier war alles von Militär überfüllt.
Hunderte von Flüchtlingen, die vor dem steigenden Wasser der Festungsgräben um Straßburg hier Zuflucht gesucht hatten, kampierten mit Hab und Gut an beiden Seiten der Chaussee; ohne Schutz, ohne Obdach, jeder Unbill der Witterung ausgesetzt, lagerten sie da, immer in Gefahr, von den Kugeln getroffen zu werden. Bleiche, durch Angst und Entbehrung entstellte Gesichter sahen mich an; ich fragte einige, ob sie etwas von Straßburgs inneren Verhältnissen wüßten, aber auch sie konnten mir keine Auskunft geben, welche Straßen zerstört wären. Viele von ihnen hatten auch Angehörige in der Festung. Ich sah, wie die Kinder angstvoll sich an ihre Mütter klammerten. Hier und da hatte man Hütten errichtet, in denen man die Kranken untergebracht hatte. Immer furchtbarer trat mir der Jammer des Krieges vor Augen bei dem Anblick dieses Elendes.
Am Nachmittag endlich fanden wir ein Obdach in einem Wirtshaus, ein kleines Zimmer, in dem wir uns wenigstens die Kleider etwas trocknen konnten. Doch lange litt es uns hier nicht. Fritz brachte unsere Pferde unter, und dann gingen wir nach dem Tor; der Wirt hatte uns gesagt, daß es möglicherweise von Straßburg aus geöffnet werden würde. Wir gingen die Straße nach Illkirch zu; der Regen floß in Strömen herab, und die aufgeweichten Wege machten ein Fortkommen fast unmöglich. Da erklärte Fritz, »ich müßte zurückgehen, er wolle allein weiter.« Ich wollte nicht, ich hastete weiter, aber ich fühlte, wie meine Kräfte mehr und mehr versagten; endlich fügte ich mich Fritzens Zureden, kehrte um und schlich todmatt zurück. Ich kam gerade im Gasthaus an, als ein Quartiermeister unser Zimmer mit Beschlag belegte. Alle Einwände halfen nichts, und ich war schließlich froh, in dem Speisezimmer einen Platz zu bekommen. Ich hörte hier den Gesprächen zu; die Stimmung war sehr gedrückt, allgemein herrschte die Furcht vor dem Sturm. Gegen vier Uhr trat ein Wachtmeister ein und verlas einen Befehl: ›Alle die, die nicht auf drei Monate verproviantiert wären, würden hierdurch aufgefordert, binnen 24 Stunden Gravestaten zu verlassen.‹ Ich mußte an die Unglücklichen in den Chausseegräben denken, deren Zahl sich nun noch vermehren würde. Es war inzwischen dunkel geworden, und draußen klatschte der Regen an die Scheiben. Kaum vermochte das Gastzimmer die Obdachsuchenden zu fassen; sie standen an den Wänden, froh, nur wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben. Ein badischer Landwehrmann, der sich meiner annahm, erzählte mir, daß in letzter Zeit keine Granaten nach Straßburg geworfen worden wären, aber in den nächsten Tagen werde der Sturm organisiert, die erwarteten Bergwerksingenieure wären schon eingetroffen. Als er meine Angst sah, versuchte er, mich zu trösten. Draußen erscholl plötzlich eine Glocke, und viele liefen hinaus, jeder wohl in der Furcht, es könne etwas geschehen sein; aber es wurde nur ein Befehl verlesen: jeder Bürger müsse vor seinem Haus eine Laterne aufhängen, da die Nacht hindurch Militärdurchzüge erwartet würden. Ich kauerte verzweifelt in meiner Ecke, da kam die Wirtin und forderte mich auf, ihr zu folgen. Sie führte mich in eine winzige Kammer, ihr erwachsener Sohn hatte sie, die früher eine Rumpelkammer war, bewohnt und sie uns abgetreten. Daß es viel Güte auf der Welt gibt, merkt man so recht in den Stunden der Not. Ich habe dann halb bewußtlos eine Weile auf einer Art Bett gelegen, aber das schreckliche Tosen draußen schreckte mich wieder auf. Und vorhin kehrte Fritz zurück, wir müssen warten, warten bis morgen früh – mein Gott, wäre doch erst die Nacht vorüber! – –«
Erschöpft ließ Frau Mary die Feder sinken. Sie fühlte, wie ihre Kraft versagte, fast fiebernd hatte sie geschrieben, noch einmal die furchtbare Fahrt im Geiste erlebt. Nun war sie wieder in dem trübseligen Kämmerchen, saß wieder da und wartete, hoffnungslos, verzweifelt. Ihr Kopf sank müde auf die Brust. Da faßte über den Tisch hinweg fest und warm Fritz Flemmings Hand die ihre, und seine treue, herzliche Stimme sagte: »Der Tag bricht an, Mary, sieh, es wird schon hell!«