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10. Kapitel.
Briefe aus Feindesland

Die ersten Siegesnachrichten trafen ein, die die Siege von Weißenburg und Wörth meldeten. Auch in Kloningken vergaß man in der Siegesfreude die Schwere der Zeit, auch hier tönte der Jubel laut, selbst in dem kleinen Krankenhaus, in dem neunzehn Kranke lagen, gab es an diesem Tag helle Gesichter. Franz von Seeheim hatte vom Kriegsschauplatz geschrieben, noch war er nicht dabei gewesen, und Hans-Heinrich war noch gar nicht dort. Er schrieb ganz verzagt, ganz ungeduldig, die Ausbildungszeit erschien ihm endlos lang. In Lizzies Herzen stritten Freude über die Siege und die Sorge um ihre Lieben in Mülhausen miteinander. Sie hatte tröstend und beruhigend an Mary geschrieben, nach dem letzten Brief hatte sie die Hoffnung, daß die Schwägerin mit den Kindern zusammen in der Schweiz war.

Es war am 14. August ziemlich früh am Morgen, als Onkel Fritz an eins der Fenster klopfte, dreimal kurz hintereinander, das war das Zeichen für die Pflegerinnen, daß jemand sie sprechen wollte. Als Lizzie am Fenster erschien, reichte ihr Fritz Flemming einen dicken Brief hinein: »Ich habe ihn selbst von Neuhaus geholt,« sagte er. Lizzie sah nur den Brief, nicht den tiefen Ernst, der das Gesicht des Oheims überschattete. Sie erbrach den Umschlag und las rasch die einzelnen losen Blätter; das erste war vom 3. August datiert und lautete:

 

»Liebe Lizzie!

Ehe Du diesen Brief erhältst, hat es Euch der Telegraph schon übermittelt, daß die erste Schlacht geschlagen wurde. Frankreich hat gesiegt! Von unserem Hause herab verkündet es die wehende Trikolore. Man zweifelte hier ja gar nicht daran, und doch traf mich die Nachricht wie ein Schlag. Gegen abend war's, wir saßen eben bei Germaines Eltern, als heftiger Lärm auf der Straße uns an die Fenster eilen ließ. Eine jauchzende Menge zog hinter einem Manne her, der Depeschen verteilte, während ein zweiter Menschenstrom nach der Mairie drängte. Germaine rannte hinunter und kehrte bald darauf mit erhitzten Wangen zurück und las uns folgendes Telegramm vor: ›Großer Sieg bei Saarbrücken.‹ Nicht zu beschreiben, welch ein Jubel herrschte, es gab kein Halten mehr, alles stürmte auf die Straßen und Plätze, Fahnen wurden in Unmenge gekauft. Keiner wußte etwas Näheres zu berichten, nur das Gerücht kursierte, daß die Prussiens wie die Hasen die Flucht ergriffen hätten, gefolgt von der Armee des Marschalls Mac Mahon. Man erzählt, dieser Held habe selbst die Fahne ergriffen und sei allen vorangestürmt, um sie auf deutschem Boden aufzupflanzen. Saarbrücken liegt nördlich von Mülhausen, aber in Frankreich, dies hebt meinen Mut. – Die Frauen winden Kränze, und Germaine entschuldigte ihre Freude über den Sieg und tröstete mich mit den Worten: »Es sind ja Franzosen, von denen sie besiegt sind!« Sie betrachtet es wohl als eine besondere Ehre, von ihren Landsleuten besiegt zu werden, und Henry jubelt mit, als sei er ein Franzose.

 

Den 4. August.

Ich konnte gestern nicht weiter schreiben, Lizzie, ich holte meine beiden Buben, die seit gestern auf meinen Wunsch die Schule verlassen haben, und saß still mit ihnen und Sarah im Zimmer. Sarahs Fuß ist leider schlimmer geworden, sie humpelt nur mühsam herum. Meine beiden lieben Schelme waren auch ganz still und niedergedrückt. Jetzt denke ich oft, daß es wohl nicht richtig war, daß wir alle in den Kindern so sehr die Liebe zur deutschen Heimat wachsen ließen. Aber nein, wir hätten dann ja unser Vaterland verleugnen müssen, und in allem Leid jetzt fühle ich, wie sehr ich an der deutschen Heimat hänge. Diese Liebe zum angestammten Vaterland bringt mich ganz mit Henry auseinander, zwischen uns steigt eine Mauer auf, ich kann ihn nicht verstehen, daß er nur noch Franzose ist, und er findet es lächerlich, daß ich mich nicht völlig als Amerikanerin fühle. Ich habe nun heute an Madame Fleury telegraphiert und sie gebeten, die Kinder bis nach Offenburg zu senden, dort will ich sie abholen. Henry und Germaine finden meine Angst übertrieben, aber ich weiß doch, daß ich nur ruhig sein werde, wenn ich meine Kinder alle bei mir habe, dann flüchte ich mit ihnen nach der Schweiz. –

›Lieber nach Kloningken,‹ riefen beide Buben, als ich dies schrieb. – Inzwischen sind Deine Zeilen und ein lieber, gütiger Brief von Herrn Fritz Flemming angelangt. Er fordert mich auf, nach Schönheide zu kommen, er erbietet sich, mir entgegen zu fahren. O Lizzie, wie sehr mich diese Güte gerührt hat! Es ist mir, als ob sich mir eine treue Freundeshand entgegenstreckt. Dieser Brief und Deine tapferen Worte haben mich ganz mutig gemacht, Du schreibst so froh und stolz von Deiner Arbeit, fühlst, wie Du durch sie Deine Heimat Dir erkämpfst. – Ich muß schließen, Germaine kommt –

Den 8. August.

Nun weißt Du schon die Siegesnachricht vom 4. und 6. (Weißenburg und Wörth). Du weißt es, die ganze Welt weiß es, daß es deutsche Ehre, deutschen Mut, deutsche Helden gibt. Wie würde unser seliger Vater frohlocken, wenn er dies hörte! Noch will man es hier kaum glauben. Wie eine Gewitterwolke liegt es über der Stadt, man ist sehr niedergedrückt, mehr empört freilich als entmutigt, empört über die Kühnheit, die Franzosen zu besiegen. Ich wage nicht die geringste Freude zu zeigen und vermeide, soviel ich kann, von den Ereignissen zu reden. Henry riet mir, mich unter den Schutz des amerikanischen Konsuls zu stellen, dies sei am sichersten. Ich habe dies gestern auch getan. Von Madame Fleury aber habe ich bisher noch keine Antwort. Hoffentlich hat sie Anschluß für die Kinder bis hierher gefunden, und ich warte eigentlich immer, daß plötzlich meine Mädels ins Zimmer treten. Der Konsul ist ein wohlwollender und teilnehmender Herr und fertigte mir sofort den Revers aus. Morgen mehr. –

 

Den 9. August, abends zehn Uhr.

Heute fuhr ich nach Basel. Ich war in großer Aufregung, da jede Nachricht von Madame Fleury fehlte, und wollte von Basel nach dort telegraphieren. In B. herrschte gewaltige Aufregung; ein Telegramm, von London über Paris nach Basel gelangt, berichtet von einem großen Sieg der Franzosen. »Der Kronprinz soll gefangen und die Rheinarmee vernichtet sein.« Es schwindelte mir bei dieser Nachricht, wie in einer dumpfen Betäubung wanderte ich durch die Straßen. Dieser Sturz nach so großem Sieg ist furchtbar. –

Ich brachte dann das Telegramm für Madame Fleury in das Amt. Der Beamte sah mich erstaunt an und fragte, ob ich nicht wüßte, daß Telegraph und Eisenbahn nach Straßburg suspendiert seien. Er mag wohl mein Entsetzen gesehen haben, denn er fügte beruhigend hinzu: nach dem großen Siege, der heute verkündet sei, würden wohl bald andere Vorkehrungen getroffen werden. Erst war ich ganz ratlos, dann aber ging ich zu Henrys Agenten und bat diesen, einen zuverlässigen Boten nach Straßburg zu schicken und die Kinder zu holen oder mir Nachricht zu bringen; es fand sich auch bald ein älterer, verständiger Mann, und ich konnte nach hier zurückkehren. Am liebsten wäre ich sofort mit einem Wagen selbst gefahren, aber der Agent riet dringend ab, auch fühlte ich mich so elend, daß ich fürchtete, unterwegs krank zu werden. Ich bin in namenloser Aufregung. Ich schicke den Brief nun heute ab, damit Du etwas von uns weißt; sobald die Mädels da sind, erhältst Du Nachricht. Grüße alle die Verwandten, sie sind mir unbekannt und doch schon so vertraut.

In Liebe
Deine Mary.«

 

Lizzie war totenbleich geworden, angstvoll fragte sie: »Hat man Nachricht, gibt es neue Depeschen von dort?«

Fritz Flemming zögerte mit der Antwort, dann sagte er fest: »Du bist ein tapferes Mädchen, Lizzie, und vielleicht sind die Kinder längst in Sicherheit. Straßburg ist eingeschlossen!« Er reichte Lizzie, die blaß und stumm am Fenster lehnte, eine Depesche, die am Tage vorher in Berlin eingetroffen war und in der gesagt wurde, daß ein Teil der deutschen Armee vor Straßburg stehe.

»Wenn man doch helfen könnte!« murmelte das Mädchen erschüttert.

»Wir können jetzt nichts tun,« sagte Fritz Flemming. »Sind die Kinder wirklich noch in Straßburg, dann muß deine Schwägerin versuchen, mit Hilfe des amerikanischen Konsuls sie herauszubekommen. Sie ist bei ihrem Bruder, er wird ihr beistehen. Ich denke immer, sie hat ihre Kinder schon, und wir erhalten eines Tages die Nachricht, daß sie alle herkommen.«

Lizzie nickte dem freundlichen Tröster dankbar zu, sie konnte nicht mehr sprechen, ein Kranker rief, und eilig ging sie wieder an ihre Arbeit. –

Das Befinden der Kranken besserte sich, einige konnten schon aufstehen und im Garten sitzen. Die Dorfleute, die anfangs etwas über die strenge Absperrung der Ihren gemurrt hatten, waren jetzt längst ausgesöhnt und den treuen Pflegerinnen herzlich dankbar. Diese Dankbarkeit zeigte sich auch in der Teilnahme an Lizzies Sorge um ihre Verwandten. Das Schicksal der geängstigten Mutter in Mülhausen war in Kloningken Dorfgespräch geworden, und Lizzie konnte sicher sein, daß, wenn sie sich am Fenster oder im Garten zeigte, draußen jemand stehen blieb und fragte: »Haben Sie wieder einen Brief, gnädiges Fräuleinchen?«

Fritz Flemming aber fuhr entweder jeden Morgen selbst nach Neuhaus oder sandte einen Boten, um nach Briefen zu fragen; doch nichts für Lizzie kam.

Die Zeitungen meldeten jetzt eine Siegesnachricht nach der andern. Spichern, Vionville, St. Privat, Metz, Gravelotte, das waren Namen, die von Mund zu Mund gingen. Das Weinen derer, die um Tote zu klagen hatten, verklang leise in dem Jubel über die Siege. Wehende Fähnlein verkündeten auch in Kloningken die tapferen Taten deutscher Söhne auf Frankreichs Erde. Noch war keiner gefallen von den Kloningkenern, die dabei waren. Am Tage vor Gravelotte hatte Franz von Seeheim geschrieben, mutig, hoffnungsfroh, und Hans-Heinrich hatte auf einer Karte mitgeteilt: »Nun ziehen wir bald nach Frankreich, ich zittere vor Ungeduld.«

Am 28. August feierte Renate von Seeheim ihren Geburtstag, sie wurde siebzehn Jahre alt an diesem Tage. Sonst war der Tag immer festlich begangen worden, in diesem Jahre sollte es keine große Feier geben, aber dafür eine besondere Freude. Die Kranken im Gartenhause waren so weit, daß sich die Pflegerinnen nun auch etwas Ruhe gönnen konnten, und Frau von Seeheim hatte als Geburtstagsfeier einen gemeinsamen Morgenkaffee unter den großen Linden im Park vorgeschlagen. »Den Kuchen müßt ihr freilich selbst backen, Mädels,« hatte sie gesagt, und die drei Bäslein hatten auch mit Feuereifer am Freitag alle ihre Backkünste entfaltet. Der Tisch war an diesem Sonnabendmorgen festlich gedeckt, und die Sonne erfüllte Renates flehentliche Bitte und schien hell auf alle Geburtstagsfreunde herab. Selbst der Großonkel aus Schönheide war gekommen, auch Onkel Fritz, er hatte einen Boten nach Neuhaus reiten lassen, um nicht beim Nichtengeburtstag zu fehlen.

Lizzie war recht blaß und schmal geworden in den letzten Wochen. Sie mußte es sich darum gefallen lassen, daß jeder versuchte, ihr ein besonders schönes Stück Kuchen zuzuschieben und sie ermahnte, tüchtig zu essen. Sie gab sich redliche Mühe, heiter zu sein, aber selbst das Lachen konnte den Zug von Sorge, in ihrem lieblichen Gesicht nicht verwischen. Eine seltsame Unruhe war in ihr, und immer wieder spähte sie den Gang entlang, der vom Hause her zu dem Lindenplatz führte, ob der Bote, der die Post bringen sollte, nicht kam. Und mitten in eine halb lachende, halb kummervolle Schilderung Lottes, über schmerzliche Küchenerlebnisse hinein, sagte sie aufatmend: »Da ist er.«

Sie, die sonst so Gelassene, sprang rasch auf und riß dem Mann einige Briefe aus der Hand; zwei waren von Mary. Lizzie achtete gar nicht darauf, daß sie eine Kriegsdepesche mit ergriffen hatte, sie war so erregt, daß auch alle andern nur auf sie sahen. Sie riß den Umschlag auf und las angstvoll, was die Schwägerin schrieb.

 

»Mülhausen, den 15. August 1870.

Liebe Lizzie!

Es ist furchtbar, Straßburg ist geschlossen, meine Kinder gefangen, ich bin fast wahnsinnig vor Aufregung und schreibe an Dich, um mich selbst zu beruhigen. ›Straßburg geschlossen!‹ Seit gestern nachmittag, seit ich durch Zufall die Hiobspost, die mir meine Verwandten verheimlichen wollten, erfuhr, gellt es mir unaufhörlich im Ohr: »Straßburg geschlossen!« Ich bin nicht imstande, alle Einzelheiten dieser letzten Tage zu erzählen. Vergeblich wartete ich auf die Rückkehr des Boten, keine Nachricht, nichts. Da kam gestern eine Frau ins Haus und weinte um ihre in Straßburg verheiratete Tochter. Ich komme gerade die Treppe herab und höre es: ohnmächtig hob man mich auf. Man holte den Arzt. Ich sollte liegen bleiben, ich sei krank. Aber ich stand auf, ich finde doch keine Ruhe.

Meine Kinder in Straßburg gefangen! Die zarten Geschöpfe unter Fremden eingeschlossen, wenn die Stadt belagert wird, gestürmt, es ist gräßlich, nur daran zu denken. Die Verwandten haben es bereits seit einigen Tagen gewußt; ich zürne ihnen, daß sie es mir nicht gesagt haben. Ich hätte schon eher etwas zur Befreiung der Kinder tun müssen, aber was? Wäre doch jemand da, der mir raten könnte. Der General Uhrich, der Kommandant von Straßburg, ließ die Tore ohne jede vorhergehende Bekanntmachung schließen, so daß sogar die Händler, die Getreide und Vieh aus der Umgegend nach der Stadt brachten, dort mit eingeschlossen blieben. Ist es nicht empörend? Henry und Germaine trösten mich, daß an eine Gefahr für Straßburg nicht zu denken sei. Unter Befehl eines Generals seien einige badische Regimenter vor Straßburg aufgestellt, aber das habe keine Bedeutung, um Straßburg zu belagern, dazu gehöre eine ungeheure Macht. Was nützt mir dieser Trost! Meine Gedanken kommen nicht los von dem Furchtbaren. Gut, daß ich wenigstens meine Jungen um mich habe! Die lieben Buben tun, was sie mir an den Augen absehen können. Freddy ist so ritterlich, ganz wie sein Vater war. Ich muß schließen, meine Augen schmerzen mich von den vielen Tränen; ach, Lizzie, bete für meine Lieblinge!

Deine Mary.

 

Den 18. August.

Es sind furchtbare Tage. Ich bin ganz allein auf mich angewiesen und muß versuchen, mir selbst aus dieser Not zu helfen. Henry und Germaine haben kaum Gedanken für mich. Jetzt, wo das Vaterland in Gefahr ist und die wahnwitzigsten Gerüchte über die Deutschen im Umlauf sind, haben sie nur Gedanken für den Krieg, und Germaine zeigt mir deutlich, wie unsympathisch, ja verhaßt ihr alles Deutsche ist. In meiner Angst habe ich an unseren lieben treuen Mr. Smith nach London telegraphiert und geschrieben und ihn gebeten, sich an den amerikanischen Botschafter Mr. Motley zu wenden, damit dieser versuche, für die amerikanischen, in Straßburg eingeschlossenen Kinder die Freilassung zu bewirken. Wenn Mr. Smith kann, so hilft er uns, glaubst Du nicht auch, daß er der rechte Mann ist? Aber wann werde ich Antwort erhalten? Die Wartezeit ist namenlos schwer, und ich bin so elend, daß ich mich kaum aufrecht halten kann. Die Jungen sitzen fast immer bei mir, Freddy hat immer die abenteuerlichsten Pläne, um die Schwestern zu befreien. Gestern sagte er beinahe traurig: ›Schade, Mammi, daß ich nicht in Straßburg bin, es wäre doch wunderschön!‹ –

Es ist wieder eine Siegesnachricht eingetroffen, der Ort soll in der Nähe der Festung Metz liegen, Vionville, aber vielleicht bist Du besser orientiert als ich; so nahe ich dem Kriegsschauplatz bin, Genaues erfahre ich nicht, in finsterem Schweigen empfängt man die Botschaften, und so viel Falsches, Unwahres wird berichtet. Germaines Mama ist übrigens krank durch die Aufregungen, ihr Papa fast immer unsichtbar, Henry hat den Kopf voller Sorgen, und Germaine – nun, ich will davon schweigen, sie ist eben mit Leib und Seele Französin. Ach, Lizzie, wenn ich zu bestimmen hätte, dann sollte es sicher keinen Krieg geben; wie zittere ich schon um meine Kinder, die doch immerhin noch in dem Schutz einer festen Stadt sind; wie mag es aber denen zumute sein, die ihre Lieben im Felde wissen? Wenn ich lese von den Hunderten, die gefallen, tot und verwundet sind, dann ist es mir, als höre ich das Jammern dieser Armen. – Man erzählte mir, General Uhrich habe eine Aufforderung des deutschen Befehlhabers, Straßburg zu übergeben, zurückgewiesen. Das bedeutet – ich kann es gar nicht ausdenken! – wenn Straßburg beschossen würde, – und die Kinder noch dort.

 

Den 21. August.

Erst heute setze ich den Brief fort, ich war krank und mutlos. Wollte telegraphieren und um Hilfe aus Kloningken bitten, da wurde Henry so zornig, wie ich ihn nie gesehen habe. ›Unsere Feinde‹, nannte er die Verwandten, ›unsere Feinde.‹ Etwas später.

Soeben (es ist Mittag) kam aus London ein Telegramm. Unser Freund hat meine Bitte dem amerikanischen Botschafter vorgetragen, und dieser hat sich sofort bereit erklärt, einzuschreiten. Direkt nach Straßburg fehlt jede Verbindung, er wird sich deshalb an den deutschen Botschafter in London, Grafen Bernstorff, wenden, um durch seine Vermittlung für die Kinder zu wirken. Nun hoffe ich auf weitere Nachrichten und tue es ein wenig beruhigter. Und während ich so in Angst warte, geht die furchtbare Geißel, genannt Krieg, immer weiter. Kaum ein Tag vergeht, ohne daß die Nachricht von einer Schlacht eintrifft. So kam gestern die Botschaft von einem Sieg der Deutschen bei Gravelotte, es muß furchtbar gewesen sein! Mein erster Gedanke ist nur immer: wo liegt der Ort, ist es in Straßburgs Nähe? Aber Gravelotte liegt schon weit in Frankreich drinnen, der Siegeszug der Deutschen geht unaufhaltsam vorwärts. – In der Stadt herrscht große Aufregung, Arbeitslose haben sich nach der Bekanntmachung dieser neuen Niederlage zusammengerottet und Waffen oder Sensen verlangt, um gegen die Prussiens zu marschieren, und es ist nur schwer gelungen, die Aufgeregten zu beruhigen. Da hier kein Militär liegt, hat sich aus den Bürgern eine Mobilgarde zum Schutz gebildet, und die Väter der Stadt sitzen Tag und Nacht im Rathause zusammen. Viele der Bewohner fürchten, daß die Preußen die Stadt in den Grund schießen werden, und der Ruf: »Die Preußen kommen!« macht sie schon zittern; es gibt aber auch viele, die das Einrücken deutscher Truppen wünschen, damit die Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten wird. Noch will ich den Brief nicht abschicken, ehe nicht wieder eine Nachricht aus London eintrifft. –

Meine Buben sind mein ganzer Trost; sie und unsere treue alte Sarah, die ihre eigenen Schmerzen vergißt in der Sorge um mich, halten mich aufrecht.

 

Abends.

Das Telegramm ist eingetroffen. Mr. Motley hat unserem Freund Smith das Antwortschreiben des Grafen Bernstorff mitgeteilt. »Er habe Kenntnis von der Sachlage genommen und an den Chef des deutschen Hauptquartiers vor Straßburg, General Werder, telegraphiert, und dieser habe geantwortet: alles solle geschehen, die Kinder zu befreien; er verhehle aber nicht, daß es große Schwierigkeiten habe. Vielleicht werde er bald in der Lage sein, weitere Mitteilungen folgen zu lassen.« – Also Mr. Motley und Graf Bernstorff können mir von London aus nicht helfen. Man wollte mich trösten, aber man konnte mir nicht widersprechen. So muß ich einen Weg zu dem General v. Werder finden, er ist doch ein Mensch, er wird Erbarmen haben mit einer Mutter. Ich muß einen Weg finden, und sei er noch so schwer. Ich schließe diesen Brief, damit Du Nachricht hast. Wir grüßen Dich alle vier. So oft ich Dich herbeisehne, ich bin doch froh, Dich in Sicherheit zu wissen, geborgen unter lieben Menschen.

Gott schütze uns alle! In Treue

Deine Mary.«

 

Lizzie hatte die letzten Briefe nicht mehr lesen können, die Tränen rannen ihr unaufhaltsam über die Wangen. Pfarrer Flemming hatte ihr die Briefe aus der Hand genommen und sie vorgelesen. Still, erschüttert saßen alle, da fiel Lizzies Blick auf das Blatt, das sie mit ergriffen hatte; oben stand auffällig gedruckt: »Straßburg«. Sie las, und ihre Augen weiteten sich vor Angst; »lies«, stammelte sie erschrocken und hielt dem Pfarrer zitternd das Blatt hin.

Der las eine am sechsundzwanzigsten in Berlin veröffentlichte Depesche, die der General von Werder aus dem Hauptquartier von Mundolsheim gesandt hatte; sie lautete:

 

»Seit dem 23. abends wird Stadt und Festung Straßburg von Kehl mit Belagerungsgeschützen beschossen; von der Südfront des Nachts mit der Feldartillerie, von der Nordfront seit 24. früh mit Belagerungsgeschützen. Die Vorposten stehen 5-8000 Schritt von der Festung. Der Schaden in Straßburg bedeutend. Kleinere Pulvermagazine sind in die Luft geflogen, Zitadelle, Magazine und eine große Anzahl Gebäude stehen in Flammen.

Verluste diesseits sehr gering.

v. Werder.«

»Mary, die Kinder, o mein Gott!« schluchzte Lizzie.

Alle, die da unter der dicht schattenden Linde versammelt waren, vergaßen in diesen Minuten die Tausende, die für das Vaterland im Kampf standen. Sie dachten alle nur an die verzweifelte Mutter, die eingeschlossenen Kinder. Alle hätten sie helfen mögen und fühlten doch alle, daß es unmöglich war.

Still ging man auseinander.

»Ich werde an Deine Schwägerin noch einmal schreiben, ihr vorschlagen, sie in Basel zu treffen, vielleicht gelingt es uns, ins Hauptquartier vorzudringen,« sagte Fritz Flemming zu Lizzie, und dies Wort war ihr wie ein Licht, das einem Wanderer in dunkler, einsamer Nacht verheißungsvoll aufleuchtet. Sie wurde ruhiger, zwang sich, tapfer zu sein, und ihre Kranken meinten an diesem Tage, das amerikanische Fräulein sei wirklich so gut und sanft wie ein Engel.



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