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8. Kapitel.
Es gibt Krieg!

Die unruhvolle Spannung, die über Preußen und den deutschen Landen lag, löste sich bald, der Krieg wurde erklärt. Hoch stieg die Erregung in diesen Julitagen von 1870. Es gibt Krieg, Krieg mit Frankreich! Wieder rief ein preußischer König sein Volk zum Kampf auf, und wieder folgte dieses stolze, treue Volk tapfer und begeistert dem Ruf, und die Brüder vom Süden schlossen sich ihm an.

Es gibt Krieg, Krieg mit Frankreich! Die Alten, die noch das Erinnern an vergangene schwere Zeiten hatten, sagten es beklommen, die Jungen riefen es heldenmütig. Durch die Straßen Berlins rauschte das Wort wie Sturmgebraus, und in jedem Haus draußen auf dem flachen Lande ertönte es.

Es gibt Krieg, Krieg mit Frankreich, der alte Erbfeind regt sich wieder!

Auch in Kloningken übertönte das Wort die kleinen Sorgen des Alltags. Im Herrenhaus und Pfarrhaus, in jedem Hüttchen des Dorfes herrschte in diesen Tagen eine fieberhafte Erregung, man sprach nur vom Krieg und was die kommenden Tage bringen würden. Hoffnungsfroh waren die einen, besorgt die andern. »Wir siegen,« jauchzten die Jungen; »wir hoffen es,« sagten die Alten. Ein paar besonders ängstliche Weiblein kamen sogar ins Pfarrhaus, um sich Rat zu holen, ob es wohl klug sei, schon jetzt ihre paar Spargroschen und Patenlöffel einzugraben. Erst als Pfarrer Flemming ihnen auf der Landkarte den weiten Weg bis Frankreich zeigte und ihnen versicherte, hierher kämen die Franzosen wohl kaum, beruhigten sie sich etwas. Freilich, damals waren sie doch gekommen, trotz des weiten Weges, ja damals!

Etliche Kloningkener Bauernsöhne standen beim stehenden Heere, andere wurden einberufen. Wenige Stunden schon nach dem Eintreffen der Kriegserklärung war Franz von Seeheim, der Reserveoffizier war, nach seiner Garnison abgereist, um sich dort seinem Regiment zu stellen. Hans-Heinrich mußte nach Königsberg fahren, um sich von seinem Direktor die Erlaubnis zum Verlassen des Gymnasiums zu holen. Ihm erschien das ein überflüssiger Umweg und Zeitverlust, aber sein Vater bestand daraus. »Alles muß seine Ordnung haben, man darf nicht eigenwillige Quersprünge machen in einer so ernsten Sache.« Die Mutter bat sanft: »Willst du nicht bleiben, Hans-Heinrich, soll ich denn um beide Söhne bangen?«

»Er ist ein Seeheim,« sagte die Großmutter wehmütig, »die lassen sich nicht halten.« Und Frau Anna von Seeheim bat vergeblich; aber auch sie war eine tapfere Frau, sie ließ ihre Söhne ziehen, und keine Klage kam über ihre Lippen. Das Vaterland ruft, das war das Zauberwort, dem sich in dieser Zeit alle beugten, vor dem Jammern und Klagen verstummten.

Tapfer und ergeben waren auch alle die Seeheims und Flemmings, die zurückblieben. »Wir dürfen nicht heulen,« sagte Rikchen fest, als Renate nach der Brüder Abreise bitterlich weinte, »wir müssen zeigen, daß wir Seeheim heißen.«

»Nein, nicht heulen!« rief Lotte Flemming, die dazu kam; sie schluckte ihre Tränen herunter, die ihr um Hans-Heinrich, den besten Kameraden, gekommen waren. Sie wäre am liebsten mitgezogen; da dies nun aber doch nicht ging, tat sie es Renate und Rikchen nach, plünderte auch den Leinenschrank und begann mit Lizzie Scharpie zu zupfen. Max und Walter führten am See die verwegensten Kriegsspiele auf, auch sie wären am liebsten mitgezogen, und sie grollten bitter dem Schicksal, das sie so spät auf die Welt gesandt hätte. »Wäre ich doch nur achtzehn Jahre,« stöhnte Max. Einmal wachte er in der Nacht auf und schrie Walter an: »Du, eben habe ich geträumt, ich wäre schon zwanzig Jahre; 's ist ein Elend, daß es nur ein Traum ist!«

Lizzie Flemming harrte voll Sorge auf eine Nachricht ihrer Schwägerin, sie hatte ein Telegramm erhalten, das sie beruhigen sollte, sonst nichts. Nach langen Tagen endlich erhielt sie am 20. Juli einen Brief, er hatte etwas länger als sonst gebraucht, um zu ihr zu gelangen. Sie war an diesem Morgen unruhig dem Briefträger entgegengeeilt. Es war ein trüber, schwüler Tag, die Wolken hingen tief und verhüllten die Sonne, aber man fühlte ihre Glut auch durch die grauen Schleier hindurch. Als Lizzie das Pfarrhaus verließ, um die Landstraße entlang zu gehen, traf sie Fritz Flemming, der in einem kleinen Jagdwagen angefahren kam. Er hielt an, und Lizzie erklärte ihm den Zweck ihrer Wanderung. »Steigen Sie ein,« sagte er freundlich, »ich fahre Sie ein Stück.« Er nannte die junge Verwandte, die eigentlich seine Cousine war, ihn aber wie die andern mit Onkel anredete, noch Sie. Heute vergaß Lizzie in ihrer Sorge aber die steife Anrede, und sie sagte vertraulich: »Weißt du, Onkel, ich sorge mich so um Mary und die Kinder!«

Der Onkel wußte nicht gleich etwas zu sagen, er verstand diese Unruhe wohl; erst als Lizzie rief: »Ich reise morgen hin, wenn ich heute keinen Brief erhalte,« erwiderte er ruhig: »Du kannst jetzt dort nichts helfen, Kind, deine Schwägerin ist sicher schon bei ihrem Bruder in Mülhausen; in seinem Schutz, da er dort ansässig ist, ist sie in dieser Zeit wohl am besten geborgen. Sorge dich nicht, eine Reise wäre Torheit, übrigens würdest du gar nicht mehr durchkommen, alle –«

»Da ist der Briefbote,« unterbrach ihn Lizzie hastig. Der Mann, der wußte, wie sehr sie wartete, hielt ihr schon von weitem einen Brief entgegen. »Aus Ems,« sagte er wichtig, »na, dort hätte ich jetzt auch sein mögen!«

Fritz Flemming gab dem Mann eine Belohnung, dann fuhr er langsam weiter, während Lizzie den Brief erbrach und ganz unwillkürlich das Schreiben dem Onkel vorlas:

 

»Ems, den 16. Juli 1870.

Liebe Lizzie!

Vor zwei Tagen noch beruhigte mich ein Bekannter und versicherte mir, die Kriegswolken verzögen sich; und nun, welch ein Sturz von froher Hoffnung zum tiefsten Ernst! Ich zittere so, daß ich kaum schreiben kann, und immer wieder kommen mir die Tränen, und doch will ich mich bezwingen und Dir schreiben; ich muß mich aussprechen können, und hier ist mir alles so fremd. Das Erlebte ist mir noch unfaßbar. – Gestern früh gegen sieben Uhr gingen wir zum Brunnen; ahnungslos kamen wir aus dem Haus, doch sofort fiel uns die Unruhe unter den Kurgästen auf, sie standen in Gruppen flüsternd zusammen, und überall sah man ernste Gesichter. Man stellte sich in Reihen rechts und links des Weges auf, immer mehr Menschen kamen, und immer größer wurde die Erregung, einige Damen mit großen, schönen Blumensträußen drängten nach vorn. Vergebens fragte ich nach dem Grund, man schwieg, man zuckte die Achseln; doch plötzlich erscholl ein starkes Brausen, näher und näher kam es, man hörte Hurra rufen, Blumen und Kränze flogen durch die Luft. Der König von Preußen war es, der kam, er fuhr über die Brücke nach dem Bahnhof zu. Ganz dicht an mir fuhr der hohe Herr vorbei. Er sah tiefernst aus, aber er hat so ein schönes, gutes Gesicht. Ich war tiefbewegt, die Erregung um mich her riß mich fort, und ich rief laut mit: ›Hurra!‹

Lautloses Schweigen herrschte, als die Equipagen verschwunden waren, es war wie ein Bann, der alle gefangen hielt, und dann pflanzte sich das Wort von Mund zu Mund: ›Der Krieg ist erklärt!‹ – Wie ein Pfeil flog es durch die Massen, und auf einmal drängte alles zum Brunnen, aber keiner trank, jeder forderte seinen Becher, man sagte sich Lebewohl. Die Musikkapelle setzte ein, man umarmte sich gegenseitig, wie ein Rausch war es, ich werde die Stunden nie vergessen. –

 

Den 17. 7. 1870.

Ich will meinem Brief noch einiges hinzufügen, dann kann er heute abgehen. Verzeih die Flüchtigkeit, in der ich schreibe, aber ich bin in fieberhafter Erregung. Hier ist es ganz still. Die meisten Kurgäste haben bereits gestern Ems verlassen, heute ist die Stadt ganz einsam, denn nachdem die gestrigen Abendzeitungen von den Vorgängen in der französischen Kammer und der kriegerischen Stimmung in Paris berichteten, zweifelt niemand mehr an dem Ernst der Lage. Ich rüste mich auch zur Rückkehr nach Mülhausen, es zieht mich in die Nähe meiner Kinder, ich muß zu ihnen, krank muß ich nun die Heilquellen verlassen, wo ich Genesung hoffte. Es wird mir sehr schwer, aber dennoch kann ich nicht bleiben, denn Erholung finde ich jetzt nicht. Sarah will noch immer nicht an eine Abreise denken, aber als wir vor einigen Stunden in den Anlagen promenierten, trat Mr. Herman, ein Bekannter Henrys, an uns heran und flüsterte uns zu: ›Wenn Sie nicht morgen früh fünf Uhr den Zug benutzen, dann können Sie überhaupt nicht mehr fortkommen, da alle Züge für das Militär requiriert werden!‹ Nun drängt Sarah angstvoll zum Aufbruch, hoffentlich kommen wir durch, und ich kann bald, bald meine Kinder umarmen. Dich weiß ich im Frieden und sicheren Schutz, dies macht mich unendlich froh. Ich schließe in Eile.

Sei in treuer Liebe umarmt von
Deiner
Mary.«

 

»O wäre ich doch bei ihr geblieben!« klagte Lizzie, und gleich darauf fügte sie hinzu: »Ich konnte ja nicht, ich mußte herkommen, und es war gut, daß ich kam, in dieser Zeit fühle ich so recht, daß ich zu euch gehöre.«

»Ja,« sagte der Onkel herzlich, »du gehörst zu uns und deines Bruders Frau und Kinder auch, und darum sorge dich nicht, ist einmal Hilfe notwendig, dann kannst du dich auf mich verlassen – zu einem solchen Dienst ist vielleicht auch noch ein Lahmer zu gebrauchen.« Tief schmerzlich klang das, und Lizzie sah betroffen in das verdüsterte Gesicht des Mannes. In diesem Augenblick fühlte sie erst recht, wie sehr der Onkel darunter litt, daß er ein Krüppel war. Sie legte leise ihre Hand auf seinen Arm und sagte innig: »Ich danke dir für dieses Wort. Du heißt wie mein Vater und gleichst ihm auch, auch er war immer hilfsbereit. Ich will gleich an Mary schreiben und sie zu trösten suchen, vielleicht geht es ihr ganz gut unter ihres Bruders Schutz – wenn sie nur nicht dort ganz unter Franzosen wären!«

»Aber Kind,« rief Fritz Flemming beinahe ärgerlich, »das französische Volk als Masse ist uns feindlich gesinnt, deshalb sind darunter wohl genau so viele gute und nicht gute Menschen wie bei uns. Die Liebe, Treue und Freundschaft des einzelnen ist nicht an den Völkerhaß gebunden. Doch diese bittere Frage werden wir nicht lösen; aber du hast da ja noch einen Brief.«

Jetzt erst achtete Lizzie auf den schmalen Brief, der ihr noch auf dem Schoß lag; ihr Name stand von kindlicher Hand darauf geschrieben, er kam aus Mülhausen und war schon vom 13. Juli datiert. »Die Buben schreiben,« sagte Lizzie gerührt, »meine lieben Kerlchens.« Sie las:

 

»Liebe Tante Lizzie!

Hier sagen alle Leute, es gibt Krieg, und dann schneiden sie vergnügte Gesichter und schreien à Berlin. Ich und Henry haben uns schon so viel darum geboxt, aber es sind zu viel Jungens, wir kommen nicht durch. Schade, daß Max und Walter nicht hier sind, von denen Du so famos schreibst, die könnten uns gut helfen. Wir wollen auch einmal einen Indianertanz machen, aber da muß auch jemand ins Wasser fallen, das ist ein prachtvoller Spaß. Wir haben schreckliche Sehnsucht nach Mammi. Henry steckt schon immer die Zunge heraus vor Kummer, und ich möchte heulen, aber ein Junge heult nicht. Was Du von Kloningken sagst, ist famos, wir möchten auch dort sein, viel lieber als hier. Schreibe doch Mammi, sie soll mit uns hinfahren. Wir wollen auch ganz gern dort bleiben und dann deutsche Jungens sein. Jetzt wissen wir nicht, ob wir amerikanische oder deutsche Jungens sind, und das ist sehr dumm. Aber die Girls müssen mit. Kate sagt, sie wird bald eine Lady sein, so fein muß sie sich benehmen. So eine Gans! Gewiß kann sie gar nicht mehr richtig boxen. Viele Grüße von Henry, der sagt, der Brief sei ein Meisterwerk.

Dein lieber Neffe Freddy.«

 

Fritz Flemming lachte so herzlich über Freddys Meisterwerk, wie Lizzie ihn noch nie hatte lachen hören. »Wie alt sind eigentlich die Kinder?« forschte er.

»Freddy und Kate sind Zwillinge und beinahe zwölf Jahre alt, Henry ist zehn und Lotty neun,« berichtete Lizzie. »Sie sind alle sehr lieb, nur etwas sehr wild – freilich, wenn ich Max und Walter sehe, meine ich, sie sind auch nicht anders.«

»Bubenart,« sagte Onkel Fritz gelassen, »deine Schwägerin muß wirklich mit den Kindern nach Schönheide kommen, unser stilles Haus kann einmal rechten Kinderlärm gebrauchen. Doch da sind wir am Pfarrhaus, Nichtchen; willst du aussteigen oder mit mir nach Schönheide kommen? Freilich muß ich erst einen Umweg machen, aber meinem Vater wäre es eine große Freude.«

»Ich komme mit!« rief Lizzie rasch und froh, »ich will es nur drin sagen.« Sie sprang vom Wagen und eilte in das Haus, Lotte kam ihr entgegen, versprach ihr, sie am Nachmittag abzuholen, und vergnügt fuhr Lizzie an des Onkels Seite von dannen.

Der lenkte den Wagen durch Kloningken hindurch nach der anderen Seite hinüber, er hatte versprochen, auf Amsee, dem Vorwerk, das Franz von Seeheim bewirtschaftete, etwas nach dem Rechten zu sehen. Lizzie war bisher nur einmal mit den Basen hier gewesen. Das Gut war nicht so groß und stattlich wie Kloningken, ein kleines Biedermeierhaus, niedrig und nicht sehr geräumig, lag in einem müßig großen Garten. In dem blühte es freilich in allen Farben, denn die Seeheims waren alle Garten- und Blumenfreunde. Nun war der Herr fern, die grünen Fensterläden im kleinen Haus geschlossen, und der Garten blühte unbeachtet. Während Onkel Fritz auf dem Hof seine Bestellung abgab, ging Lizzie auf den schmalen Gartenwegen entlang; sie dachte an den Sonntag, an dem sie in der Kirche gesungen hatte, und an die Worte, die ihr Franz gesagt hatte. »O möchte er doch wiederkehren,« flüsterte sie, und voll Grauen dachte sie an die kommenden Tage, an all das Leid, das über so viele Menschen kommen würde. »Und ich sitze hier und tue nichts, gar nichts, genieße den Frieden, statt meine Kräfte zu regen,« klang es in ihr. Sie dachte daran, daß, als sie ihren Vater gepflegt, der Arzt oft zu ihr gesagt hatte, sie würde eine gute Pflegerin werden. Sie war dann nach des Vaters Tode einige Wochen in einem Krankenhaus gewesen, um in der Arbeit Trost zu finden, bis der Tod des Bruders sie zu ihrer Schwägerin rief. Vielleicht konnte sie das Gelernte jetzt verwerten, als Pflegerin in ein Lazarett gehen. Ein Schauer durchrann sie, wie schwer das sein mußte, wie schwer. Und Kloningken mußte sie dann verlassen, aus der kaum gewonnenen Heimat in die Fremde ziehen! Nein, das nicht! das wollte und konnte sie nicht, aber sie fühlte doch, daß sie in der schweren Zeit, die über das neue Vaterland eingebrochen war, ihre Kräfte regen mußte, sie wollte auch um die Heimat kämpfen. Noch wußte sie nicht, wie, aber der Wille zur Arbeit war in ihr erwacht und sie wußte, sie würde auch einen Weg finden, der sie zur Arbeit führte.

Als Onkel Fritz nach einiger Zeit zurückkam, fand er Lizzie auf einer Bank sitzend; auf ihrem Gesicht lag ein stiller, entschlossener Ausdruck; er sah sie erstaunt an: was war mit ihr vorgegangen? Aber er fragte nicht, und Lizzie schwieg; es lag nicht in ihrer Natur, von einem Entschluß zu sprechen, über dessen Ausführung sie sich selbst noch nicht klar war. So fuhren beide still nach Schönheide, und dort verbrachte Lizzie friedvolle Stunden bei dem Bruder ihres Vaters.


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