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Es waren stille und in ihrer Stille doch so reiche, freudenvolle Tage, die Lizzie im Kreise der neuen Verwandten verlebte. In ihrem Herzen waren warme Quellen aufgesprungen. Sie nahm Liebe und gab Liebe, ihr Heimatgefühl wuchs immer mehr und mehr, sie war nicht mehr kühl, steif und verschlossen, sie wurde herzlich und offen, wie die Menschen es waren, unter denen sie jetzt lebte. Wenn sie morgens die Augen aufschlug und sich in ihrem kleinen, blitzsauberen Zimmer umschaute, dann dachte sie: »Wie schön ist es hier!« Sie hatte noch nie in ihrem Leben ein so einfaches Zimmer gehabt, aber das empfand sie kaum, und ob es draußen trübe war oder der Garten im hellen Sonnenglanz lag, ihr war es fast gleich, immer spürte sie nur wohlig die friedvolle Schönheit dieses stillen Erdenfleckes. Ihr war fast jeder Winkel heimatlich vertraut. Sie kannte so vieles aus des Vaters Erzählungen und ging jetzt den Spuren nach, suchte alle Plätze auf, von denen der Tote ihr gesprochen hatte.
Frau Luise von Seeheim hätte das Kind ihres Bruders gern bei sich gehabt, aber seit Lizzie erfahren hatte, daß das Zimmer, das sie bewohnte, das gleiche war, das ihr Vater in seiner Jugend inne gehabt hatte, wollte sie das Pfarrhaus nicht verlassen. Sie ging aber täglich zu den Seeheims hinüber; dann hing Lotte an ihrem Arm, und von drüben kamen ihnen Renate, Rikchen und Hans-Heinrich schon entgegen. Die Jugend verband bald eine herzliche Freundschaft miteinander, die drei Bäslein schwärmten laut und Hans-Heinrich leise für die amerikanische Cousine, die trotz ihrer zwanzig Jahre die Backfischchen und den Primaner nicht über die Achsel ansah. Lotte nannte sie himmlisch, Renate entzückend, Rikchen sagte, sie sei wundervoll, und die Flemmingsöhne erklärten sie für eine »famose Mariell«. Hans-Heinrich schwärmte besonders seinem Bruder viel von Lizzie vor; der sagte dann freilich meist kühl: »'n ganz nettes Mädel, weiter nichts.«
Der jüngere fand das empörend und wunderte sich, daß Franz, trotz dieses hochmütigen Urteils, sich jetzt an allerlei Unternehmungen beteiligte, die er sonst spöttisch »Kinderlust« zu nennen pflegte.
Auch den schmalen Wald- und Wiesenweg, der von Kloningken nach Schönheide, des Amtsrats Gut, führte, war Lizzie schon gegangen, Onkel Walter lebte in dem behaglichen Gutshaus allein mit seinem ältesten Sohn Fritz. Es war ein stilles Leben, das die beiden führten; seit der Sohn die Wirtschaftsleitung übernommen hatte, widmete sich der Amtsrat nur seinen Büchern und naturwissenschaftlichen Sammlungen. Fritz Flemming war ein ernster, wortkarger Mann. In seiner Jugend hatte er sich durch einen Sturz vom Pferde ein Hüftleiden zugezogen, er lahmte, sein Leiden und mancherlei trübe Erlebnisse hatten ihn so ernst gemacht. »Er kann gar nicht recht lachen,« sagte Lotte Flemming von ihm.
Seltsam war es wirklich, alle Heiterkeit wurde ein wenig gedämpfter, wenn Onkel Fritz kam, das Lachen jauchzte nicht so auf, das Plaudern wurde leiser. Als Lizzie dies das erstemal erlebte, war sie fast ärgerlich auf den Mann, der durch seinen Ernst so verstimmend wirkte. Es war in Schönheide, beim ersten Besuch Lizzies; sie saßen alle heiter in dem großen, mit weißen Möbeln gefüllten Gartensaal, als Fritz Flemming eintrat und es plötzlich stiller wurde; es war, als glitte eine dunkle Wolke schattend über die Sonne hin. »Er ist der einzige von allen, der mir nicht gefällt,« dachte Lizzie vorschnell.
Aber dieser Verwandte trug doch gerade ihres Vaters Namen, und ihres Vaters Mahnung fiel ihr ein, nicht zu schnell über einen Menschen zu urteilen. Sie war ein bißchen beschämt, und als Fritz Flemming zwei Tage später bei seinem Bruder im Pfarrhaus einkehrte, da folgte sie nicht Lottes Aufforderung, mit in den Garten zu kommen, sondern blieb und sprach zutraulich zu dem neuen Verwandten. Da merkte sie bald: der war ein innerlich einsamer Mann, der litt, und weil sie sich so reich an Liebe fühlte, versuchte sie auch hier Liebe zu geben. Sacht fing zwischen beiden an eine Freundschaft aufzublühen, so wie manchmal ganz unerwartet auf einsamer Höhe eine schöne Blume sich entfaltet.
So glücklich sich Lizzie aber auch bei den neugefundenen Verwandten fühlte, so weilten ihre Gedanken doch viel und oft voll Unruhe bei der kranken Schwägerin. Diese hatte zwar herzlich und froh geschrieben, sie hatte sich Mühe gegeben, nur ihre Mitfreude über Lizzies gute Aufnahme zu zeigen, ihren Brief durchzitterte aber doch die Sorge um ihre Kinder. Sie schrieb angstvoll von der immer drohender werdenden Kriegsgefahr, und daß nur die Bitten ihres Bruders sie in Ems zurückhielten. Diese Kriegsgerüchte, die immer bestimmter lauteten, trübten auch mehr und mehr in Kloningken den Glanz der heiteren Sommertage. Wie vor dem Ausbruch eures schweren Gewitters war es, jeder fühlte den Druck, jeder ahnte das aufsteigende Wetter. Mit fieberhafter Spannung verfolgten alle den Gang der politischen Ereignisse. Hans-Heinrich ritt jeden Morgen nach der Stadt, um die Zeitungen zu holen, und immer kamen ihm am Eingang des Dorfes schon seine Schwestern und Basen entgegen, und er las auf den Gesichtern die Frage: »Ist der Krieg erklärt?«
Die Ferien hatten begonnen, an eine Rückkehr nach Königsberg brauchte Hans-Heinrich vorläufig nicht zu denken, er erklärte aber auch jedem, daß er beim Ausbruch des Krieges nicht daheim bleiben würde. Auch Franz von Seeheim dachte daran, daß er vielleicht in den Kampf ziehen mußte, auch er begann beinahe wie Hans-Heinrich jeden Satz mit den Worten: »Wenn Krieg kommt!« Und der Amtsrat und seine Schwester sprachen in diesen Tagen oft von der Zeit ihrer Jugend, da Deutschland aufstand, das französische Joch abzuschütteln. Dann lauschten die Jungen ergriffen und begeistert und wünschten wohl die alten Zeiten zurück, die ihnen romantischer als die Gegenwart vorkamen. Großmutter Luise sagte mitunter lächelnd: »Wartet nur, Kinder, es kommt schon noch, daß euch die jetzige Zeit köstlich dünkt; wenn ihr erst alt seid, wollt ihr die Tage der Jugend zurück haben!«
Solche Großmutterweisheit war nichts für Lottes lebhafte Phantasie, und sie träumte sich gern ein bißchen in andere Zeiten hinein. »Wenn ich doch singen könnte,« rief sie einmal sehnsüchtig. Es war ein Sonnabend, und der 9. Juli. Im Pfarrhaus herrschte Stille an diesem Tage, Predigtstille, selbst die Wildlinge wagten im Garten kein lautes Wort und tobten, da auch sie Ferien hatten, am See herum.
»Warum dies auf einmal?« fragte Lizzie, »willst du eine Konzertsängerin werden?«
Lotte steckte vor Schreck über diese Zumutung gleich eine ganze Handvoll Erdbeeren, die sie soeben gepflückt hatte, in den Mund und sagte entrüstet, vorwurfsvoll: »Ich – o Lizzie, pfui, so zu spotten! Ich singe wie eine Krähe, und wie könnte eine Krähe zu einer Nachtigall werden! Aber dazwischen gibt es doch noch zwitschernde Vögel genug, bei denen es für den Hausgebrauch langt, und so einer möchte ich sein!«
»Warum?« fragte Lizzie wieder.
»Weil Vater es gern hat, wenn jemand in der Kirche singt. Früher tat es Mutter manchmal, Renate hat auch schon gesungen, aber so leise, daß das Schnarchen des alten Ragnit es übertönte.«
Lizzie lachte: »Dann muß es schön gewesen sein; aber vielleicht kann ich einmal singen, oder traust du mir das nicht zu?«
»Dir, dir traue ich alles Gute und Schöne zu,« rief Lotte stürmisch. »O ich Gans, ich schreckliche Gans, daß ich noch nicht darauf gekommen bin! Natürlich mußt du singen können, du hast ja eine Stimme wie eine Glocke. Du singst gewiß himmlisch, bezaubernd!«
»Na, na,« wehrte Lizzie dem Überschwang, »erst bist du eine Krähe, nun eine Gans; willst du noch mehr Vögel nachahmen? Aber nun sage mir: ist es ein besonderer Zweck, zu dem du Gesang willst?«
»Ach, eigentlich ist es eine alte Geschichte, eine uralte sogar, und alte Geschichten liebe ich. Als Großvater und Tante Luise jung waren, da hat es einmal etwas schrecklich Trauriges hier gegeben; was es gewesen ist, weiß ich nicht ganz genau, es hängt mit dem Franzosen zusammen, der auf dem Friedhof begraben liegt, aber jedenfalls ist das ganze Dorf dem Urgroßvater, der doch auch hier Pfarrer war, feindlich gesinnt gewesen. Großmutter Flemming, Großtante Luise und Großonkel Hans-Heinrich von Seeheim haben damals in der Kirche den Psalm gesungen: ›Befiehl dem Herrn deine Wege.‹ Später haben sie den Psalm noch einmal gesungen, als der Krieg erklärt war und der Großvater und der Großonkel mitzogen. Neulich sagte nun Großvater zu seiner Schwester: ›Wenn ich doch noch einmal diesen Gesang in der Kirche hören könnte, wie damals.‹ – Und allemal, wenn ich von damals höre, möchte ich dabei gewesen sein, und darum dachte ich, wenn jemand singt, könnte es ein bißchen wie damals sein, und das ist so romantisch.«
»Ich will's versuchen,« sagte Lizzie, »aber dann müssen wir heute noch in die Kirche gehen und eine Probe halten.«
Lotte war wieder einmal entzückt, sie drehte sich wie ein Kreisel rundum, da sie nicht wußte, ob sie Lizzie um den Hals fallen oder erst zu dem Kantor Lipert nach dem Chorschlüssel laufen sollte. »Wir gehen beide zu dem Herrn Lehrer,« meinte Lizzie, »ich will ihn bitten, daß er mich begleitet.«
»Nu, sieh nur, was Pastors Lottchen wieder zu rennen hat, und die Amerikanische läuft mit, als ob's brennte,« sagte ein Weilchen später die alte Mutter Strohbeck zu ihrer Tochter Leokadia, der Dorfschneiderin.
Die beiden Mädels rannten wirklich, als wollte der Herr Lehrer und Organist vor ihnen ausreißen. Der dachte aber gar nicht daran, er saß über seinen Büchern, rauchte eine Pfeife und war ordentlich verwirrt, als die Bäslein wie der Sturmwind angesaust kamen. Er erklärte sich aber gern bereit, Lizzie zu begleiten, er ließ Buch und Pfeife im Stich, nahm die Schlüssel von der Wand und führte seine Besucherinnen in die kleine Kirche hinüber.
Auf dem Heimweg hüpfte dann Lotte lustig auf einem Bein; das tat sie immer, wenn sie ausnehmend vergnügt war, und an diesem Sonnabend war sie es besonders, so sehr, daß sie ihrer Mutter beim Gutenachtkuß zuflüsterte: »Ich freue mich furchtbar auf morgen.«
»Warum denn?« fragte die Mutter ihren Wildfang.
»Ich kann's nicht sagen, darf's nicht sagen, aber es ist wunderwundervoll, ich glaube, ich schlafe heute vor Freude nicht!« Trotz dieser Versicherung schlief das Lottchen freilich nach fünf Minuten wie ein kleines Murmeltier, schlief, bis der Mutter weckende Stimme draußen erklang. –
Gar mancher aus dem Dorf, der sonst leicht in der Kirche fehlte, war an diesem Julisonntag doch hineingegangen. Die unruhige Spannung der Zeit lag auch auf den Bewohnern von Kloningken, und ihre Gedanken beschäftigten sich viel mit den Kriegsgerüchten. Das Leben in dem kleinen Ort in dem Winkel von Ostpreußen ging einen langsamen Gang, große Ereignisse unterbrachen selten den täglichen Kreislauf, da hafteten denn die Gedanken der Leute fester am Vergangenen. So war in allen Dorfbewohnern, selbst in den ganz jungen, noch die Erinnerung an die schlimmen Jahre von 1806-1813 viel lebendiger als in mancher anderen Gegend Deutschlands. Noch trug ja manche Gemeinde an den Lasten, die ihr damals der Krieg auferlegt hatte, und noch lebten ja etliche von denen, die dabei gewesen waren in ihrer Jugend. Ihren Erzählungen lauschten Männer und Frauen, Knaben und Mädchen mit fast heiliger Ehrfurcht. Unwillkürlich dachten alle, wenn vom Krieg gesprochen wurde, immer an die Schilderungen aus den Befreiungskriegen, namentlich jetzt, da es sich wieder um einen Krieg mit Frankreich handelte. Der Bruderkrieg mit Österreich Anno 66 das war ihnen wenig gewesen, aber wenn der alte Erbfeind aufstand, dann wuchsen blutige, traurige Erinnerungen aus der Heimaterde empor, über die einst Napoleons Riesenheer nach Rußland gezogen war.
An diesem Sonntagmorgen ging selbst der alte Christian Ragnit zur Kirche; er ging schon ganz gebückt und mußte sich fest auf einen Stock stützen, an der Kirchentür traf er mit dem Amtsrat Flemming zusammen. Die beiden Alten tauschten einen Händedruck aus, und der Bauer sagte: »Wir waren noch dabei, wir zwei, Herr Amtsrat!«
Pfarrer Flemming sprach schlicht und einfach, aber seine Worte gingen zu Herzen. Als er geendet hatte, blieb er noch auf der Kanzel stehen, der Lehrer hatte ihm gesagt, er wollte heute einen besonderen Choral spielen. Einige Augenblicke herrschte Stille in dem kleinen Kirchlein, in das durch bunte Fenster gebrochen das Sonnenlicht flutete, dann erklang die Orgel, und plötzlich rauschte vom Chor herab Gesang. Eine einzige Stimme nur ertönte, voll und weich: »Befiehl dem Herrn deine Wege.« Die ganze Kirche war ausgefüllt von dem Gesang, und oben auf dem Chor stand Lizzie im vollen Licht, das auf ihren blonden Haaren lag, und aller Friede, alle Freude, die ihr die letzten Tage gebracht hatten, hallte wider in dem frommen Gesang.
Frau Luise von Seeheim saß mit ihrem Bruder Hand in Hand, und Tränen rannen über ihre Gesichter, es war, als sei ihnen die Jugend wiedergekehrt. Als der Gesang verhallt war, zögerte die Gemeinde erst, ehe sie zum Schlußlied einsetzte, in allen zitterte noch die schöne, fromme Stimme nach, und mancher, der voll Unruhe im Herzen gekommen war, kehrte an diesem Sonntagmorgen in Frieden heim.
Lizzie wollte vor dem Schluß still davonlaufen, als sie aber vom Chor herunter kam, stand Franz von Seeheim da. Er war ein wenig später gekommen und hatte an der Kirchtür stehend Predigt und Gesang mit angehört. Er ergriff Lizzies Hand und sagte ernst: »Ich danke Ihnen, Cousine. Sollte es wirklich zum Krieg kommen, dann wird mich Ihr Gesang wie ein lieber Trost, ein Heimatklang begleiten. Ich werde diese Stunde nie vergessen!«
Drinnen rauschten die letzten Töne, die Türen öffneten sich, und auf einmal war Lizzie von vielen Menschen umringt. Die Bauern grüßten sie ehrerbietig, die Frauen knicksten, und wohlgefällige Blicke trafen das schöne Mädchen, »'s ist gar keine richtige Amerikansche, 's ist 'ne Flemming, man merkt's an der Art,« sagten die Leute untereinander. Der alte Christian Ragnit aber nahm treuherzig die feine Mädchenhand in seine schwielige Bauernfaust: »Ich habe Ihren Vater selig noch gut gekannt, Fräuleinchen, das war einer, der's Herz auf dem rechten Flecke hatte. Unsern alten Schäferhund hat er aus dem Wasser gezogen, und wie einmal die Strohbecken krank lag, ist er bei Hagelwetter in die Stadt nach der Medizin gelaufen; ja, ja, das war'n Jungchen!«
Lizzies Augen strahlten; so sprach man noch hier von ihrem Vater, noch war er nicht vergessen, noch lebte er in der Erinnerung. »Heimat, Heimat!« tönte es in ihrem Herzen, und als sie dann zwischen den beiden alten Geschwistern dahinschritt und Onkel Walter ihr für den Gesang dankte und Tante Luise sie einmal ums andere »mein trautstes Kind« nannte, da fühlte sie, daß kein Ort der Welt ihr je mehr Heimat sein könnte, wie dieser stille Winkel.