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12. Kapitel.
Frau Mary zieht aus, ihre Kinder zu suchen

Am Abend des 11. September saß in der Gaststube eines kleinen, freundlichen Gasthauses zu Offenburg Frau Mary Flemming am Fenster und starrte verzagt auf die Straße hinaus. Die letzten Tage lagen wie ein wüster, schwerer Traum hinter ihr. Krank war sie von Kolmar nach Mülhausen zurückgekehrt, fiebernd, unfähig sich zu rühren, hatte sie zwei Tage im Bett zubringen müssen. Sarah und die beiden Buben hatten die Kranke liebevoll gepflegt, auch der Bruder und die Schwägerin hatten sich ihrer freundlich angenommen. Freilich die trennende Mauer vermochte auch das Leid nicht zu überbrücken. Mary Flemming fühlte immer mehr, daß es zwischen ihr und dem Bruder kein Verstehen gab, sein Haß gegen Deutschland wurde immer größer. Seine deutsche Abkunft, seine Kindheit, alles hatte er vergessen, er fühlte sich ganz als Franzose, und allen Jammer, alles Elend des Krieges schrieb er in seiner Verblendung Deutschland zu. Auch daß die Schwester um ihre Kinder leiden mußte, war Deutschlands Werk in seinen Augen.

An die verlassenen Kinder aber dachte die verängstigte Mutter Tag und Nacht. Furchtbare Schreckbilder quälten sie, und jeder Laut draußen, jeder Ruf auf der Straße, ließ sie entsetzt auffahren. Der Arzt schüttelte besorgt den Kopf, und wenn er auch nichts sagte, so fühlten doch Sarah und die Buben, fühlte die Mutter selbst, daß er für ihr Leben bangte.

Freddy und Henry waren ganz still geworden, ihr Lachen war verstummt, und niemand hätte in den beiden blassen, kleinen Kerlen, die leise und scheu im Hause herumschlichen, mehr die frischen, lustigen Wildfänge von einst erkannt. Aber die Mutter sah die Veränderung, und Sarah sah sie, und sie konnten doch beide nicht helfen. Wie gern hätte die Mutter ihr Leben geopfert, wenn sie damit das Glück ihrer Kinder hätte erkaufen können, aber jedesmal, wenn sie in ihrem gequälten Herzen den Entschluß faßte, doch nach Straßburg durchzudringen, zürnte der Bruder, klagte die Schwägerin: »Denkst du nicht an deine Knaben? Ihnen mußt du dich erhalten!«

Was war da das Rechte, was sollte sie tun?

Am Morgen des dritten Tages war Freddy leise an das Bett der Mutter gekommen, hinter der wieder eine schlaflose, durchfieberte Nacht lag: »Mammi, ein Brief aus Deutschland.«

»Von Lizzie!« Ein leiser Schimmer von Freude hatte ihre Augen erhellt, und dann hatte sie den über Basel gekommenen Brief gelesen; er kam von Fritz Flemming, der nie gesehene Verwandte schrieb warm und herzlich wie ein Bruder. Er hoffte, am 11. d. M. in Offenburg einzutreffen. Durch Vermittlung eines Freundes habe er eine Karte als Kriegsberichterstatter erhalten, damit, hoffte er, würde es ihm möglich sein, sie auf ihrer Fahrt ins Hauptquartier zu begleiten. Er möchte ihr zugleich raten, ihre Buben, wenn irgend möglich, mit nach Basel zu nehmen und sie dort im Schutz der alten Sarah, von der Lizzie ihm viel Gutes erzählt hätte, zurückzulassen. Er hoffte, sie alle miteinander nach Schönheide mitnehmen zu können.

Dieser Brief bewirkte ein Wunder, es war, als strömten der kranken Frau neue Kräfte zu, sie stand auf und rüstete sich, trotz des Abratens ihrer Verwandten und des Arztes, zu der Reise. Ihr Bruder zürnte laut: »Natürlich, von Deutschland muß dein Heil kommen.«

»O Henry,« bat Frau Mary, »sei nicht ungerecht; soll ich die rettende Hand ausschlagen, weil ein Deutscher sie mir bietet, ich, deren ganzes Herz an Deutschland hängt?«

Dies Wort zerriß das letzte Band zwischen den Geschwistern; vielleicht wäre es doch noch zu einer Versöhnung gekommen, wenn nicht Germaine und ihre Eltern, die ganz bei der Tochter wohnten, in ihrem rasenden Haß gegen Deutschland das Feuer geschürt hätten. Frau Germaine vergaß, daß ihr Mann von Geburt ein Deutscher war, Frankreich sollte er gehören mit seinem Herzen, die deutschgesinnte Schwägerin war ihr daher ein Dorn im Auge. Bisher hatte Mitleid und Güte in ihr über ihren Haß gesiegt, aber nun erstickte der alles, Mary war für sie nicht mehr eine Kranke, eine hilfsbedürftige, schwer geprüfte Frau, sie war eine Feindin geworden. Wie feige ihr Mann eigentlich handelte, daß er im eigenen Herzen sein Vaterland verriet, dafür hatte Germaine in ihrer Leidenschaft kein Verständnis.

So verließ Mary Flemming bereits wenige Stunden nach Eintreffen des Briefes das Haus ihres Bruders für immer, sie wußte, daß es für sie nun kein Zurück mehr geben würde, daß sie die Hilfe des Fremden annahm, würde er ihr nie verzeihen. Es war ein wehmütiges Scheiden, sie hatte gemeint, eine Heimat in der Nähe des Bruders zu finden, nun verließ sie krank, heimatlos, in schwerer Sorge die Stadt. Aber sie war doch nicht mehr mutlos wie noch am Tage vorher, sie dachte an den unbekannten Freund, den sie finden sollte, und an den stillen, friedlichen Erdenwinkel am anderen Ende Deutschlands. Und während der Fahrt nach Basel plauderte sie leise, matt mit den Buben und Sarah von Schönheide, Kloningken und Onkel Fritz. Der ferne, unbekannte Ort schwebte ihnen vor wie ein lichtes, schönes Bild.

Daß sie in Basel bleiben sollten, war den Buben ein bitterer Schmerz, auch Sarah wollte trotz ihres noch immer schmerzenden Fußes weiter; doch sie fügten sich alle drei, Onkel Fritz hatte es ja so bestimmt, und die Buben wollten der Mutter Kummer nicht vergrößern. Der Aufenthalt in einem Hotel erschien Sarah bedenklich, und sie humpelte mit Freddy gleich nach ihrer Ankunft in die Stadt hinein, während sich Frau Mary hinlegte, um ihre Kräfte zu schonen, am anderen Morgen wollte sie allein die Weiterreise antreten. Henry saß als Hüter am Lager der Mutter, er steckte nicht mehr die Zunge heraus in Freude und Schmerz, Jubel und Ärger, eine Gewohnheit, die den Geschwistern immer so viel Vergnügen gemacht hatte, sein kleines Herz war ihm unendlich schwer, und die Mutter hörte manchmal sein leises, unterdrücktes Schluchzen.

Nach zwei Stunden kamen Sarah und Freddy sehr müde zurück. Sie waren kurz entschlossen zu einem Geistlichen gelaufen und hatten dem ihre Not geschildert, und der freundliche Mann hatte Rat gewußt, hatte sie einer Witwe zugewiesen, die zwei hübsche Zimmer zu vermieten hatte. Da waren die beiden ins Imbergäßlein zu Frau Maria Sprüngli gewandert, und in dem Gäßlein, das steil und schmal bergan lief, hatten sie wirklich ein gutes Unterkommen gefunden. Die Witwe Sprüngli war groß und stark, hatte eine laute rollende Stimme und ein paar herzensgute Augen.

»Ich muß flenne, ich muß flenne,« schrie sie, als Sarah ihr kurz Frau Flemmings Lage schilderte, und dann nahm sie sich geschwind ein Tuch um und sagte, sie wollte mitkommen und Frau Mary selbst sehen, eine Mutter müßte die sehen, bei der ihre Kinder wohnen sollten. Erst erschrak die kranke Mutter freilich vor dieser riesigen Frau mit der lauten Stimme, aber nach wenigen Minuten wußte sie schon, daß ihre Knaben und Sarah dort gut aufgehoben sein würden.

Trotz ihrer Schwäche trat sie am Morgen getroster die Reise an, Frau Sprüngli war zum Abschied gekommen, und sie versprach noch einmal laut und schmetternd für die Buebli und 's Sarahli zu sorgen, und dabei rollten ihr dicke Tränen aus den Augen, so herzlich nahm sie Anteil an dem Schicksal der Familie.

Nun lag das alles, der Abschied von den Buben und der treuen Dienerin und die lange Fahrt, hinter Frau Mary, und sie saß allein in der fremden Stadt und wartete auf den unbekannten Freund. Im Geiste sah sie immer noch Henrys und Freddys tapferes Lächeln, hinter dem doch die Tränen standen; ach, würde sie je wieder mit ihren vier Lieblingen vereint sein? Der Mut, der sie am Morgen beseelt hatte, war schon beträchtlich geschwunden, und ein trüber Schleier hatte sich ihr über die lichten, friedlichen Zukunftsbilder gelegt.

Ein schweres, dumpfes Rollen erschütterte unaufhörlich die Luft, das war das Dröhnen der Geschütze, die ihren feuerspeienden Mund auf Straßburg gerichtet hatten.

In dem nebenliegenden Zimmer saßen Gäste, mitunter hörte man ein lautes Wort, sie sprachen alle nur von dem Krieg, von dem Brand Straßburgs. Und jedes Wort, das sie hörte, ließ die geängstigte Frau erbeben. Nach allen Berichten schien ein Vordringen ins Hauptquartier unmöglich zu sein; ein Herr erzählte, daß in den letzten Tagen sogar einige Korrespondenten großer deutscher und auswärtiger Zeitungen abgewiesen worden seien.

Der Wirt hatte schon einige Male das Zimmer durchschritten und die blasse Frau betrachtet, nun trat er auf sie zu und erkundigte sich freundlich nach dem Woher und Wohin. Es tat Frau Mary schon wohl, daß sie mit jemand sprechen konnte in ihrer Verlassenheit, und so erzählte sie leise, warum sie nach Straßburg wollte. Fast entsetzt sah sie der Mann an, er schüttelte zweifelnd den Kopf: »Das wird nicht möglich sein, liebe, gute Frau, das müssen Sie aufgeben, seit Wochen hat niemand außer einem kleinen Mädel Straßburg verlassen!«

»Ein kleines Mädchen!« schrie Frau Mary auf; »wann, wo? Um Gottes willen, sagen Sie mir alles!«

Der Aufschrei lockte einige Gäste aus dem Nachbarzimmer herbei, und bald umstand eine kleine Gruppe die Frau und den Wirt, der etwas zögernd erzählte: »In einem Mädchenpensionat war ein kleines Mädchen untergebracht, deren Eltern unweit Straßburgs wohnten. Als General Uhrich so unvermutet die Tore schließen ließ, mußte sie trotz aller Reklamationen der Eltern in Straßburg bleiben. Eines Tages schlug eine Bombe in den Hof und tötete fünf Kinder, die Kleine allein blieb unversehrt an der Stelle sitzen, wo sie mit den anderen gespielt hatte. In ihrer Angst lief sie fort. Sie lief durch Straßen, über Plätze, über sie flogen die Kugeln, immer weiter lief sie bis an eines der Tore; hier angelangt, halb tot vor Hunger und Müdigkeit, flehte sie die Wache an: »O, bitte, bitte, lassen Sie mich zu den Eltern!« Aber sie bat vergebens, denn es steht ja Todesstrafe darauf, ein Tor zu öffnen. Da trat ein alter Herr, wohl ein höherer Offizier, heran, der das Kind bitten hörte. Er fragte nach der Heimat der Eltern, und als die Kleine nur immer bat: »Lassen Sie mich hinaus, ach, lassen Sie mich doch hinaus«, gab er einen Wink, das Tor öffnete sich ein klein wenig, und die Kleine lief hinaus. Die Gegend war ihr bekannt, und so lief sie unversehrt bis zur nächsten Ortschaft, von dort aus hat man sie glücklich ihren Eltern zugeführt. Das ist ein Wunder, aber jetzt ist der eiserne Ring um Straßburg noch viel dichter geworden, da wäre auch das nicht möglich!«

»Und die Straße, wo war das Kind?« stöhnte Frau Flemming, die an die anderen fünf getöteten Kinder dachte.

Der Wirt zuckte die Achseln, eine Straße, einen Namen wußte er nicht, aber er tröstete: »Es gibt ja mehr Pensionate dort.«

Niemand hatte, während der Wirt erzählte, es beachtet, daß noch ein Gast das Zimmer betreten hatte. Als jetzt nach der Erzählung alle mitleidig auf die blasse, trostlose Frau blickten, sagte plötzlich eine tiefe, warme Stimme: »Cousine Mary, bist du es?«

»Fritz, Fritz Flemming!« Wie ein Schleier legte es sich über die Augen der Frau, da war der Helfer, nun war sie nicht mehr verlassen. Sie brachte kein Wort weiter heraus, sie saß nur ganz still und hielt des neuen Freundes Hand fest, sie schaute tief in seine ernsten, gütigen Augen und sie wußte: dies war ein Mensch, auf den sie sich verlassen konnte in aller Not.

»Wann fahren wir?« fragte sie nur. Sie fand kein Wort weiter, sie fühlte, daß sie nichts zu erklären brauchte, für nichts weiter zu sorgen, der Freund war ja da.

»Morgen früh. Wir müssen dann noch einmal auf das Bezirksamt, du mußt deinen Geleitsbrief von dem amerikanischen Konsul zeigen, ich habe mir von einem Freund unserer Familie, einem höheren Offizier, noch ein Empfehlungsschreiben geben lassen und hoffe durchzukommen.«

»Und wer fährt uns?«

»Es wird sich schon jemand finden,« sagte Fritz Flemming gelassen. »Jetzt aber folge mir und lege dich hin. Du hast noch Fieber, ich fühle es, und du mußt deine Kräfte schonen, du wirst sie noch brauchen. Versuche zu schlafen, versprich es mir!«

Trotzdem Frau Mary auch zu schlafen versuchte, fand sie doch keine Ruhe; unablässig tönte dumpfes, fernes Rollen an ihr Ohr, und sie atmete auf, als endlich der Morgen heraufdämmerte, ein trüber Herbstmorgen, in dessen fahlem Licht alles grau und schattenhaft aussah. Sie war aber doch froh, daß es hell wurde, daß die endlose Nacht vorbei war, sie kleidete sich rasch an und eilte hinunter. In der Gaststube brannte trübe eine Lampe, Fritz Flemming hatte bereits Frühstück bestellt, und sie mußte etwas zu sich nehmen. »Wir wollen fahren,« drängte Frau Mary, der jede Minute ein unersetzlicher Verlust schien; es verging aber doch noch eine Stunde, ehe die Geleitsbriefe geprüft und unterschrieben waren. An guten Wünschen für die gefahrvolle Fahrt fehlte es nicht, ganz fremde Menschen drängten sich heran, gaben gute Ratschläge, warnten, erboten sich noch zu allerlei Liebesdiensten und nahmen dann Abschied von den Reisenden, als wären es langjährige treue Freunde.

»Wer fährt uns?« fragte Mary wieder, als endlich alles so weit war und der Wagen vor der Tür des Gasthauses hielt.

»Ich,« sagte Fritz Flemming, »es hat sich kein Kutscher gefunden, ich habe Wagen und Pferd gekauft, eine Wegkarte habe ich bei mir, unser Wirt hat mir so viel als möglich Bescheid gegeben, ich hoffe, wir kommen durch!«

Frau Mary nickte: »Ich habe keine Angst an deiner Seite.« Sie stieg auf, setzte sich mit auf den Vordersitz, und so fuhren beide mutig in den grauen Morgen hinein.



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