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In dem anmutigen Kurort Ems gingen die Gäste auf der Kurpromenade auf und nieder, lauschten den Klängen der Kurmusik und besprachen die Tagesereignisse. In einem Seitengang saß einsam auf einer Bank eine noch junge, elegante Frau. Sie trug tiefe Trauer, und das schmale, blasse, von welligem braunem Haar umrahmte Gesicht zeigte einen leidenden Ausdruck. Ihr Blick ruhte wehmütig auf den geputzten Menschen, die da plaudernd auf und nieder schritten. Niemand kümmerte sich um die einsame Frau, ganz verlassen saß sie da. »Ich hätte meine Kinder doch nicht von mir lassen sollen,« dachte sie schwermütig, »die Sehnsucht macht mich erst recht krank.« Und ihre Gedanken eilten zu ihren Kindern, zu den beiden Buben in Mülhausen, den Mädels im Straßburger Pensionat; endlos schien ihr die Zeit, daß sie von ihnen getrennt war, und doch waren erst wenige Tage vergangen. Am Ende des Ganges wurde jetzt die Gestalt einer schlicht gekleideten Frau sichtbar, die sehr eilfertig auf die Sitzende zukam; sie schwenkte drei Briefe wie eine Siegesfahne in der Hand und rief schon von weitem strahlend: »O, Mrs. Flemming, Briefe, Briefe von den Kindern und Miß Lizzie.«
Ein heller Schein ging über das Gesicht der blassen Frau: Briefe, Briefe von ihren Lieben. Mit zitternden Händen griff sie danach; »setze dich zu mir, Sarah«, forderte sie ihre treue Dienerin auf, die ganz atemlos vom schnellen Lauf war. Sarah tat es mit einem so neugierigen, so sehnsüchtigen Gesicht, daß ihre Herrin, die schnell den ersten Brief erbrach, ihn laut vorlas:
»Geliebte Mammi!
Es ist sehr hübsch hier in Straßburg, und Lotty und ich sind gesund. Madame Fleury ist sehr freundlich mit uns, und die anderen Mädchen auch; nur daß wir immer Französisch sprechen sollen, gar nicht einmal Deutsch oder Englisch, ist sehr schlimm, weil wir es doch noch nicht gut können. Liebe Mammi, wir haben viel Sehnsucht nach Dir und wünschen sehr, daß Du bald gesund wirst, und daß Tante Lizzie wiederkommt und wir ein Haus haben, wo wir zu Hause sind. Ein Mädchen hier, das Amélie heißt und sehr nett ist, sagte, es wäre komisch, daß wir gar nicht wüßten, wo wir recht hingehören. Lotty steht jetzt am Fenster und sieht auf ein Storchnest, das auf einem Hause gegenüber ist, das ist sehr niedlich. Ein Storchnest soll auch einmal auf unserem Hause sein, nicht wahr, Mammi? Fleißig sind wir aber auch beide, damit Du nicht traurig über uns zu sein brauchst. Lebe wohl, liebe Mammi, grüße Sarah tausendmal, und Du kriegst tausend Küsse
von Deiner
Kate und Lotty.
Im Münster sind wir auch wieder gewesen, aber das war nicht so schön wie mit Dir; Madame Fleury hat gar nichts gesagt, und Du hast so fein erzählt. Die Buben haben auch schon geschrieben, und Freddy sagt, es gibt Krieg; ist das wahr?«
»Ach, mein Himmel, die lieben Engelchens,« rief Sarah und wischte sich ein paar Tränen aus den Augen, »so allein im fremden Land; Miß Lizzie hätte auch dableiben können.«
»Sie konnte nicht, Sarah,« sagte Mary Flemming, »sie mußte ihres Vaters Wunsch erfüllen, und für die Kinder ist es viel besser, wenn sie einmal eine Weile unter fremden Menschen sind; sie waren schon zu wild.«
»Grausam ist's,« brummelte Sarah und sah dann gespannt zu, wie ihre Herrin den zweiten Brief öffnete und las:
»Liebe Mutter!
Eigentlich wollten Henry und ich durchbrennen, weil wir sehr viel Sehnsucht nach Dir haben und wir uns gestern mit den andern Jungens geprügelt haben. Sie haben nämlich gesagt, es würde Krieg werden, und Preußen würde zu Frankreich kommen. Da haben wir gesagt, daß unsere Großväter deutsch gewesen wären, und dann haben wir uns gehauen. Henry hat eine dicke Nase und ich viele blaue Flecke, aber die andern haben noch mehr abgekriegt. Sonst geht es uns gut, nur Onkel Henry ist böse auf uns, er hat gesagt, wir wären verkehrt erzogen, wir müßten eigentlich ganz echte Amerikaner sein. Da habe ich »nein« geschrien, und Henry hat – bitte, Mammi, sei nicht böse – die Zunge rausgesteckt. Ich habe dann noch gesagt, daß ich Großvater vor seinem Tode versprochen habe, einmal nach Deutschland zu gehen, und ein rechter Junge hält sein Wort. Bitte, werde nur bald gesund, liebe Mammi, damit wir zusammen sein können und Tante Lizzie dazu und Sarah auch. Ich will Sarah auch nie mehr Sand ins Bett streuen, und Henry sagt auch, wenn wir erst ein rechtes Zuhause hätten, dann würde er auch fleißiger sein. In der Stadt gibt es einen Streik, das ist etwas sehr Schlimmes, und Onkel sagt, es könnte wie eine kleine Revolution werden.
Mit tausend Grüßen
Dein lieber Sohn
Freddy.
Liebe Mammi!
Ich schicke Dir auch viele Grüße. Meine Nase ist wie eine Kartoffel, das sieht sehr komisch aus. Gestern wollte ich einen kalten Umschlag machen, da steckte ich den Kopf in die Waschschüssel, bis ich keine Luft mehr kriegte, und dann haben wir schrecklich gelacht. Viele Grüße an Sarah; wenn wir erst zusammen sind, nenne ich sie nie mehr eine alte Pastete. Ich habe schreckliche Sehnsucht nach Dir, meine Herzensmammi.
Dein lieber Sohn
Henry.«
»Ach, mein lieber Himmel, die lieben, lieben Engelchen,« rief Sarah wieder, auf dem Gesicht der Mutter aber war ein leises Lächeln aufgedämmert. »Na, Engel sind meine wilden Buben eigentlich nicht,« meinte sie, und wieder ernst werdend fügte sie hinzu: »Ihnen fehlt der Vater!«
Sarah wollte die Trauer nicht aufkommen lassen, darum fragte sie rasch mit der Vertraulichkeit alter, treuer Dienerinnen: »Und was schreibt Miß Lizzie, bekomme ich das auch zu hören?«
»Gewiß,« sagte ihre Herrin, »vor dir haben wir doch kein Geheimnis.« Sie entfaltete den dritten Brief und las:
»Kloningken, den 1. Juli 1870.
Liebe Mary!
Als ich Deinen lieben Brief bekam, wäre ich am liebsten sofort zu Dir geeilt; es kam mir auf einmal grenzenlos töricht vor, daß ich allein unter fremden Menschen weilte, und wenn ich nicht an das Versprechen gedacht hätte, das ich unserem Vater in seiner Sterbestunde gegeben hatte, wäre ich schon nach einer Stunde hier abgereist. Am Vormittag bekam ich Deinen Brief, und am Nachmittag wie verändert war da schon alles! Sie haben mich erkannt, Mary, an der Ähnlichkeit mit meines Vaters Mutter. Weißt Du, wie oft Vater sagte: ›Wie du meiner Mutter gleichst, Lizzie!‹ Ach, eigentlich müßte ich Dir von Anfang an erzählen, wie alles war, sie nahmen mich freundlich, gütig auf, gar nicht als sei ich eine Fremde. Als ich in das Haus eintrat, von dem mir mein Vater so oft wehmütig erzählt hatte, in dieses liebe, enge, altmodische, behagliche Haus, da hätte ich es all diesen Menschen am liebsten entgegengerufen: Ich heiße Flemming, wie ihr, und Fritz Flemming, der Geächtete, den man um einer Jugendtorheit willen als Landesverräter angesehen hat, war mein Vater. Aber ich schwieg, ich schwieg auch, als am Abend die Hausfrau zu mir kam, lieb und lind wie eine Mutter. Und dann sah ich am nächsten Tag meines Vaters Geschwister. Sie leben beide noch, der Bruder Walter, der herrliche Bruder, den er so sehr bewundert hat, und seine Schwester Luise, die Frau von Seeheim, von deren heiterer, schelmischer Anmut er so oft erzählte. In ihrer Jugend mögen die Brüder sich nicht so ähnlich gewesen sein; als ich jetzt den alten Amtsrat Flemming erblickte, da war es mir, als sei der Vater wiedergekommen, so sehr glich er ihm. Wir tranken Kaffee zusammen, man zeigte mir das Haus, den Park, und sie alle wußten nicht, daß ich alles, alles aus meines Vaters Erzählungen kannte. Dann geschah eine lächerliche Sache, bei der wir ins Wasser fielen; ich mußte mich umkleiden, mein Haar ändern, und als ich wieder in den Garten kam, rief Lotte Flemming, ein lieber Übermut: ›Sie sieht wie die Urgroßmutter Flemming aus!‹ Da war es mit meiner Fassung zu Ende, ich lief in das Haus, in irgendein Zimmer, sank weinend auf einen Stuhl, bis auf einmal eine liebe, liebe Stimme zu mir sprach. Vor mir stand meines Vaters Schwester und sah mir angstvoll prüfend in das Gesicht. Da sagte ich alles, sagte ihr von meines Vaters nimmerruhendem Heimweh, von seiner Sehnsucht nach den Seinen, die ihn vergessen, verstoßen hatten.
›Nein, nein! Um Gottes willen, Kind, sage das nicht,‹ rief die Tante, ›kein Brief kam, wir haben geharrt, gehofft, haben da- und dorthin nach ihm geschrieben, nie ließ er etwas von sich hören. Wir haben ihn nie verdammt, nie, Kind; daß er sich der verbotenen Verbindung anschloß, war jugendlicher Leichtsinn, nichts weiter.‹
Ich war tief erschüttert, und mein Vater hatte immer gedacht, seine Briefe würden nicht beantwortet; dreimal hat er geschrieben, drei Briefe sind verloren gegangen. Ich erzählte weiter, wie mein Vater in seiner letzten Krankheit im Geist immer nur daheim in Kloningken gewesen war und er mir in einem letzten lichten Augenblick das Versprechen abgenommen hatte, hierher zu reisen und zu versuchen, seiner Verwandten Liebe zu erringen, und daß ich durch meines Bruders Tod, durch unsere verwickelten Vermögensverhältnisse aufgehalten wurde, gleich zu kommen.
›Und als Fremde kamst du, Kind,‹ sagte Tante Luise leise.
Ich erwiderte, daß ich erst hätte sehen wollen, wie sie hier über meinen Vater dächten, und daß ich darum Deinen Mädchennamen, Mary, angenommen hätte. Und von Dir habe ich erzählt, von Deinem Schmerz um Deines Mannes Tod und Deinen Kindern. Tante Luise hat mich dann an der Hand genommen und hinunter geführt und gesagt: ›Unseres Bruders Kind!‹
O, Mary, wie sie alle gut zu mir waren! Dich wünschte ich hier, Dich und die Kinder! Onkel Walter Flemming hielt mich lange, lange in seinen Armen, und seine Augen hatten einen so ernsten, weitschauenden Blick. Es ist immer, als sähe er Nähe und Weite, Vergangenheit und Zukunft, und ganz leise sagte er: ›Wenn meine Renate das noch erlebt hätte!‹ Renate hieß seine Frau, die er sehr, sehr geliebt hat. Und wie gütig, wie herzlich waren alle andern; von ihnen schreibe ich Dir noch, Du sollst sie alle einzeln kennen lernen.
Wir saßen noch lange unter der Linde, der Abend kam, nur ein Dämmern war's, gar keine richtige dunkle Nacht; die Zentifolien im Garten dufteten stark, im See quakten die Frösche, Fledermäuse und Nachtschmetterlinge huschten leise über unsere Köpfe hinweg, es war so, wie es der Vater mir oft erzählt hatte, still und friedsam. – Als ich dann allein in meinem Zimmer noch lange am offenen Fenster saß, gingen meine Gedanken zu Dir, Mary. Wir sind beide ausgezogen, eine Heimat zu suchen; ich glaube fast, ich habe sie gefunden oder ich werde sie hier finden, denn eine Heimat muß einem erst in Leid und Freude ans Herz wachsen, ehe sie zur richtigen Heimat wird. Aber Du, Mary, wird Dir der Ort, in dem Dein Bruder lebt, je Heimat werden? Ich denke voll Sorge an Dich, wenn Du nur erst wieder gesund wärst. Soll ich zu Dir kommen, solange Du in Ems bist? Sage ja, wenn Du mich willst, ich komme gern. Mein Trost ist, daß Sarah bei Dir ist. –
Ich wollte noch viel schreiben, aber nun kommt eben Lotte und sagt, der Postbote sei da; der kommt nur einmal am Tage; gestern versäumte ich schon die Post, so soll es heute nicht wieder geschehen. Lebe wohl, meine Mary, grüße Sarah und schreibe bald Deiner glücklichen Lizzie, nicht mehr genannt Brown, sondern Flemming.«
»Sie ist ein Engel, ein wahrhaftiger Engel,« sagte Sarah und blickte sich ganz stolz ob dieser großen Engelhaftigkeit der Familie, der sie diente, um. Aber niemand hörte es, niemand achtete auf die beiden Frauen, die Musik spielte eine lustige Tanzweise, und die geputzten Menschen schritten fröhlich auf und nieder.
Frau Mary Flemming saß noch lange mit Sarah auf der Bank, sie sprachen zusammen über den Inhalt der Briefe. »Ich bin so froh,« sagte Mary, »daß Lizzie gut aufgenommen worden ist. Das Versprechen, das sie ihrem Vater gegeben hatte, bedrückte sie, sie fürchtete sich vor den Verwandten, die sie nicht kannte, und hatte doch so viel Sehnsucht nach ihnen, nach ihres Vaters Heimat!«
Sarah wollte gerade wieder erklären, daß Miß Lizzie ein wahrhafter Engel sei, als ein alter Herr sich rasch den beiden Frauen näherte. Es war ein berühmter Gelehrter, der mit Frau Flemming im gleichen Gasthaus wohnte und der sich liebenswürdig der einsamen jungen Frau angenommen hatte. Mit fast jugendlicher Lebhaftigkeit rief er aus: »Denken Sie sich, Mrs. Flemming, der Hohenzoller hat die spanische Krone angenommen, und man spricht nun immer mehr von einem Krieg mit Frankreich, ja, man hält seinen Ausbruch für nahe bevorstehend!«
Mary Flemming sah erschrocken auf: »O, Herr Geheimrat,« sagte sie kummervoll, »wie schrecklich für das arme Preußen!«
Der alte Herr lächelte ein wenig: »Warum das arme Preußen? Sehen Sie es schon besiegt? Glauben Sie nicht, daß man vielleicht auch das arme Frankreich sagen könnte? Aber beunruhigen Sie sich noch nicht,« fügte er tröstend hinzu, »kommen Sie, gehen Sie mit mir, und Miß Sarah soll uns begleiten, vielleicht gelingt es uns heute, den König von Preußen zu sehen!«
Sarah strahlte, noch hatte sie den König Wilhelm nicht gesehen, und sie war doch brennend neugierig darauf. Sie vergaß Krieg und alles und machte ein so vergnügtes Gesicht, daß auch Mary Flemming ein sanftes Lächeln fand und fröhlicher als sonst einwilligte, sich unter die Kurgäste zu mischen.