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Zum Indianerspiel kam es nun freilich nicht an diesem Morgen, so große Lust Max auch bezeigte, den Gast gleich aufzufordern. Schwester Lotte tat zum Ärger der Jungen, als gehörte die Amerikanerin ihr ganz allein. Sie hatte rasch ihre Scheu verloren und war so zutraulich und herzlich, daß auch Lizzie bald aus ihrer kühlen Steifheit herauskam, so wie eine Schnecke aus ihrem Häuschen herauskriecht. Sie lief mit Lotte treppauf, treppab, ließ sich das altmodische Haus von oben bis unten zeigen; es war nicht sehr geräumig, nicht gerade elegant mit seinen niedrigen Stuben, aber Lizzie fand alles sehr gemütlich. Beinahe zu allen Fenstern guckte der Garten in die Zimmer und sandte seine süßen Düfte hinein. Und dieser Garten war wundervoll in seinem Blütenschmuck, ein richtiger Landgarten, in dem alles ein wenig kraus und bunt durcheinander wuchs, in dem Rosen und Lilien neben Bohnen und Erbsenbusch blühten und die Petersilie sich mitten auf ein Blumenbeet hingesetzt hatte, als müßte das so sein. Selbst in die Küche und Speisekammer, in die Waschküche und den Holzstall steckte Lizzie ihr feines Näschen, und dann erklärte sie sich auch zu Lottes großem Entzücken bereit, gleich an diesem Morgen einen Besuch im Herrenhaus drüben zu machen.
»Das ist himmlisch,« rief Lotte und wollte dem Gast geschwind die Verwandtschaft sämtlicher Seeheims und Flemmings aufzählen, aber Lizzie wehrte lächelnd: »Das hat mein Reisegenosse schon gestern etwas besorgt, ich weiß schon ganz gut Bescheid in der Familiengeschichte!«
»Ich finde das frech von ihm, aufdringlich,« rief Lotte empört, »wie kommt er dazu!«
Lizzie lachte: »Ich habe gefragt, und wenn man fragt, bekommt man eben Antwort. Aber sagen Sie, wo lebt Ihr Großvater Flemming? Ist's weit zu ihm? Amtsrat nannte ihn Herr von Seeheim. Ist er noch rüstig, ist er schon sehr alt?«
»Ach wo, weit ist es nicht bis nach Schönheide, es geht über Wiesen und durch den Wald, und wenn Sie wollen, gehen wir nachmittags hin. Großvater freut sich, wenn wir kommen; Großmutter – ach, sie war himmlisch – starb vor fünf Jahren, seitdem ist Großvater immer so allein, Onkel Fritz ist so still, er spricht kaum ein Wort.«
»Onkel Fritz,« murmelte Lizzie träumerisch, – sie bückte sich rasch, nestelte etwas an ihrem Kleidersaume und errötete dabei tief.
»Ja, Onkel Fritz, sein ältester Sohn, er ist unverheiratet – er hat –« Lotte stockte verlegen und sah Lizzie nachdenklich an; erst als diese lächelte, fuhr sie geheimnisvoll fort: »Er hat, glaube ich, einmal eine unglückliche Liebe gehabt. Schrecklich traurig, nicht wahr? Ich möchte aber keine haben, denn so schweigsam sein wie Onkel Fritz ist langweilig. Aber Schönheide wird Ihnen gefallen, es ist ein wundervolles altes Gut, es hat früher auch einem Seeheim gehört, der aber keine Söhne hatte, nur Töchter. Erst war Großvater lange Zeit Pächter, nun gehört das Gut ihm. Es ist aber schade, daß Onkel Fritz keine Frau hat, Großtante sagt auch, in ein Gutshaus gehört eine Frau.«
Lizzies Blick ging in die Weite, und als Lotte schwieg, murmelte sie noch einmal: »Onkel Fritz!« Als sie aber in ihrer Gefährtin erstaunte Blicke sah, fügte sie laut und schnell hinzu: »Eine unglückliche Liebe, sagten Sie nicht so? Das ist wirklich sehr romantisch, ach, ich glaube, man ist schrecklich romantisch in Deutschland. Brrr, wie langweilig das ist! Aber nun will ich rasch Toilette machen zu dem Besuch, es geht schnell, Sie brauchen nicht lange zu warten.«
Lotte Flemming musterte rasch das helle feine Kleid des Gastes, das sich weit mit Fältchen und Garnituren über eine Krinoline bauschte, sie sah prüfend auf ihr eigenes, einfaches Kattunkleidchen und rief dann lachend: »Warten will ich schon; aber wissen Sie, Sie sind doch schon sehr elegant angezogen, viel, viel zu elegant für unser Kloningken. Wenn Sie mit diesem Kleid über die Dorfstraße gehen, denken alle, Sie sind eine Prinzessin! Großvater sagt, wenn wir uns sehr putzten, würden die Gänse scheu und die Hühner neidisch!«
Nun lachte auch Lizzie Brown und sie begnügte sich damit, ein feines, mit Rosen geschmücktes Hütchen aufzusetzen. Wie ein Aschenbrödel sehe ich daneben aus, dachte Lotte, aber ohne Neid, sie seufzte nur: »Ach, ich fürchte, ihr gefällt es nicht lange bei uns,« und laut sagte sie: »Warum sind Sie eigentlich nach Kloningken gekommen? Es ist doch so ein einsamer, weltverlorener Erdenwinkel.«
»Mein Vater hat gesagt, wenn man Deutschland kennen lernen wolle, müsse man in eine kleine Stadt oder aufs Land gehen, da sei es am gemütlichsten!«
»Aber auch langweilig,« seufzte Lotte Flemming; vertraulich schob sie ihren Arm unter den des Gastes und bettelte: »Erzählen Sie mir von Amerika, ich möchte so schrecklich gern einmal etwas von der Welt sehen!«
Sie erfuhr jetzt aber nicht viel von der Heimat ihres Gastes, denn Lizzie hatte selbst viel zu schauen und zu fragen, als sie auf die Dorfstraße traten. Wer in diesem Hause wohnte und in jenem dort, wollte sie wissen. Sie wollte sich totlachen, als ein Schweinchen über die Straße lief, und vor einer Kuh wäre sie zu Lottes großem Vergnügen beinahe ausgerissen. Lachend kamen die beiden Mädchen vor dem Herrenhause an, auf Lottes Gesicht blieb das Lachen, als sie in einem mit steifem, altmodischem Urväterhausrat gefüllten Zimmer der alten Frau Luise von Seeheim gegenübertraten, aber Lizzie wurde plötzlich blaß und ernst, und ihre blauen Augen wurden fast schwarz. Sie war so steif und kühl, von so vollendeter, förmlicher Höflichkeit, daß Lotte sich ärgerte und innerlich schalt: »Sie war doch eben so nett, und Großtante Luise ist doch so reizend, bei der braucht wirklich kein Mensch ein so feierliches Feiertagsgesicht aufzustecken und zu tun, als müßte er Essig trinken; brrr, gräßlich! Ich glaube, mit einer Amerikanerin wird man nicht so leicht gut Freund.«
Im Großmutterstübchen hatten sich auch Hans-Heinrich, Renate und Rikchen eingefunden, der Hausherr war auf dem Feld, die Hausfrau hielten Wirtschaftssorgen fern. Die drei Geschwister aber hatten schon heimlich erwartungsvoll nach dem Gast ausgeschaut. Während Lizzie die Fragen der alten Dame beantwortete, ruhten ihre Augen gespannt auf ihr. Weiße Löckchen umrahmten ein unendlich gütiges Gesicht, daraus schauten braune klare Augen liebevoll, ein wenig schelmisch und prüfend auf den jungen Gast. Wie am Abend vorher die Pfarrerin, so fragte jetzt Frau von Seeheim nach Lizzie Browns Heimat und Elternhaus, aber sie erhielt noch knappere Antworten. Darinnen klang nichts von des Vaters Sehnsucht nach der deutschen Heimat wider, nichts von Einsamkeit und Leid. Nur von ihrem wechselnden Leben erzählte Lizzie, von ihrem Aufenthalt mal hier, mal dort.
Rikchen tuschelte rechts und Renate links der Base ins Ohr: »Du, sie ist ja so steif, sie ist wohl schrecklich langweilig?« Der sanftmütigen Renate kam das Bäslein sogar bedauernswert vor, sie streichelte ihre Hand und sagte: »Arme Lotte, du hast's gewiß schwer!« Und Lotte bedauerte sich flugs selbst, sie zog ein Schmollgesicht und nahm sich vor: nachher bin ich steif und kühl.
Auch Hans-Heinrich fand heute seine Reisegefährtin gar nicht so nett, und er hatte sie noch gestern der Großmutter so begeistert gepriesen, nun war diese gewiß enttäuscht. Aber Frau von Seeheim urteilte nicht so rasch wie ihre jungen Enkelkinder und sie dachte wie am Abend vorher Frau Flemming: »Vertrauen kommt nur langsam.« Es war etwas im Gesicht dieser jungen Fremden, das sie seltsam anzog: sie sah auch, daß in den blauen Augen eine schmerzliche, traurige Sehnsucht lag, und sie fühlte, daß die steife, kalte Höflichkeit nur ein Mantel war, hinter dem sich ein junges Herz in seinem Leid verbarg.
Mitunter schwatzten die drei Mädels und Hans-Heinrich laut und lustig auf die Großmutter ein, dann schweiften wohl Lizzies Blicke forschend durch den Raum, wie suchend, und Wehmut verschleierte die blauen Augen. Wie heimelig und traut das hier alles war, jedes Möbelstück schien eine Sprache zu haben, und jeder kleine Gegenstand paßte zu der alten Frau mit dem lieben gütigen Gesicht.
Lotte Flemming mahnte bald Zum Aufbruch, aber davon wollten Vetter und Basen nichts wissen. »So bringt uns heim,« schlug Lotte vor, »am Nachmittag wollen wir zum Großvater gehen, und Mutter hat gesagt, wir sollten früh heimkommen.«
»Ei, wenn ihr den Großvater sehen wollt,« sagte Frau von Seeheim, »dann braucht ihr heute nicht weit zu gehen, er hat mir gestern sagen lassen, er würde heute nachmittag kommen; ich wollte es schon deinen Eltern bestellen, Lotte. Ich denke, ihr kommt allesamt zum Kaffee, dann lernt Fräulein Brown gleich einen gemütlichen deutschen Familienkaffee kennen!«
Vier junge Augenpaare ruhten forschend, etwas zweifelnd auf dem Gesicht der Amerikanerin; würde sie ja sagen oder weiter ungemütlich steif bleiben? Aber Lizzie Brown küßte ehrerbietig die Hand der alten Dame und sprach in so wohlgesetzten Worten ihren Dank für die Einladung aus, daß die drei Basen in ehrlicher Selbsterkenntnis einsahen: so gut konnten sie sich noch lange nicht benehmen. »Ordentlich beängstigend,« murmelte Renate und stieß Lotte Flemming an; die seufzte schwer und tuschelte zurück: »Wir werden ihr wohl zu dumm sein, ganz sicher, ich fühle das. Ach, ich glaube, sie wird doch nicht meine Freundin.«
»Also bleibt es dabei,« sagte Frau von Seeheim, »ihr seid heute alle aus dem Pfarrhaus, die Wildlinge nicht zu vergessen, unsere Gäste!«
»Wird es ein Kaffee mit Waffeln?« fragte Hans-Heinrich neugierig.
»Ja, mit Waffeln, wenn nämlich Renate und Rikchen noch welche backen.«
Dazu erklärten sich beide gern bereit; sie meinten, zum Mitgehen hätten sie jetzt freilich keine Zeit mehr, und so schloß sich nur Hans-Heinrich den beiden Mädchen an. Vor der Tür bat Lizzie: »Wollen wir nicht über den Friedhof gehen? Ich möchte so gern einen deutschen Dorffriedhof sehen; ich glaube, sie sind sehr friedlich und poetisch.«
»Nun ist sie wieder entzückend,« dachte Lotte und sie vergaß ihren Vorsatz zu schmollen und schob ihre Hand unter Lizzies Arm; sie schlugen den Weg zu dem kleinen Friedhof ein, der wie ein blühender Garten die Kirche von drei Seilen umgab. Rosen, Malven, gelbe Studentenblumen, Gretel im Busch, brennende Liebe und Balsaminen blühten bunt durcheinander auf den Gräbern, Lizzie las nachdenklich da und dort einen Namen. Vor einem einfachen verwitterten Holzkreuz blieb sie stehen und las die schon ziemlich verlöschte Schrift: »Anatole Gréville, gestorben im Feindesland am 5. Januar 1813.« »Das war die Zeit des großen Krieges,« sagte sie, und Hans-Heinrich von Seeheim erzählte: »Der hier liegt, war ein Franzose, den die Urgroßeltern Flemming in ihr Haus aufnahmen, als er schwer verwundet aus Rußland heimkehrte. Sie haben damals viel Kummer davon gehabt, Großmutter erzählt noch manchmal von den schweren Tagen.«
»Eine schreckliche Zeit,« rief Lotte erschauernd, »ach, wenn es doch nie, nie mehr Krieg gäbe!«
Über Hans-Heinrichs frisches Jungengesicht flog ein Schatten, ein tiefer Ernst legte sich auf seine Züge. »Es kann eher Krieg kommen, als man denkt,« sagte er, »man spricht von einem Krieg mit Frankreich; aber das weiß ich, dann ziehe ich auch mit.«
»Ach rede so etwas nicht,« verwies ihm Lotte, »du bist ja noch Schüler; und überhaupt wer weiß, ob ein Krieg kommt. Nein, sicher, es kommt kein Krieg.«
Lizzie Brown sah ängstlich über die stillen Blumenhügel hinweg, und ihre Gedanken flogen zu ihrer Schwägerin nach Mülhausen. Krieg mit Frankreich, ihre Lieben dort und sie hier allein. »Wäre ich mit ihnen gefahren,« dachte sie, aber das dem Vater gegebene Wort hatte sie in die Fremde getrieben. Schwer fiel es ihr auf einmal auf das Herz, daß sie schon lange keinen Brief von der Schwägerin hatte, nichts von ihr und den Kindern wußte. Mary hatte sie so ungern allein reisen lassen, war fast verstimmt über die Trennung gewesen; ob sie es ihr noch nachtrug?
»Sie sind ganz blaß geworden,« sagte da Lotte Flemming erschrocken, »fürchten Sie sich doch nicht, es kommt gewiß kein Krieg! Hans-Heinrich redet manchmal dummen Schnickschnack zusammen.«
»Lotte!« rief Hans-Heinrich empört, den es in seiner Würde kränkte, daß die Cousine in der bewunderten Amerikanerin Gegenwart so etwas von ihm sagte.
»Ich dachte an meine Angehörigen in Frankreich,« sagte Lizzie leise, ohne des Jünglings Ärger zu beachten, »man bangt doch um Menschen, die man lieb hat.«
Hans-Heinrich und Lotte schwiegen betroffen. Ganz still gingen sie neben der Fremden her, und Lotte fand plötzlich die Heimat schön und das Geborgensein im Vaterhaus köstlich. Darüber wurde ihr Mitleid mit der Fremden groß und sie hatte mal wieder den Wunsch, dieser um den Hals zu fallen.
Lizzies Unruhe nach einem Lebenszeichen von der Schwägerin aber wurde bald gestillt; schon an der Haustür kamen Max und Walter strahlend dem Gast entgegen, Max schwenkte einen Brief: »Aus Frankreich!« schrie er wichtig. Sie meinten nicht anders, als die Amerikanerin würde sofort den Brief erbrechen und allen miteinander den Inhalt vorlesen; sie spitzten daher schon recht neugierig die Ohren. Es kamen selten Briefe ins Pfarrhaus, darum wurde jeder wie ein kleines Weltwunder angeschaut. Lizzie aber nahm das Schreiben mit kühlem Dank, verabschiedete sich kurz und flüchtig von allen und eilte in ihr Zimmer hinauf, um dort in der Einsamkeit den Brief zu lesen. Sie ahnte nicht, daß sie die Pfarrerskinder einmal wieder recht gründlich enttäuscht hatte.