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Der Tod Hektors

Immer näher kam Achill geschritten, dem Kriegsgott an furchtbarer Herrlichkeit gleich; auf der rechten Schulter bebte ihm entsetzlich seine Lanze aus Pelions Eschenholz, seine Erzwaffen schimmerten um ihn wie eine Feuersbrunst oder wie die aufgehende Sonne. Als Hektor ihn sah, mußte er unwillkürlich zittern; er vermochte nicht mehr stillezustehen: er wandte sich um, dem Tore zu, und hinter ihm her flog der Pelide, wie ein Falk der Taube nachstürzt, die oft seitwärts schlüpft, während der Raubvogel grad andringt in seinem Fluge. So flüchtete Hektor längs der Mauer von Troja über den Fahrweg hinüber an den beiden sprudelnden Quellen des Skamander vorbei, der warmen und der kalten, immer weiter um die Mauer: ein Starker floh, aber ein Stärkerer folgte. Also kreisten sie dreimal um die Stadt des Priamos, und vom Olymp sahen alle ewigen Götter dem Schauspiele mit gespannter Aufmerksamkeit zu. »Erwägt es wohl, ihr Götter«, sprach Zeus, »die Stunde der Entscheidung ist gekommen; jetzt fragt es sich: soll Hektor dem Tode noch einmal entfliehen, oder soll er, wie tapfer er auch sein mag, fallen?« Da nahm Pallas Athene das Wort und sprach: »Vater, wo denkst du hin? Einen Sterblichen, der längst dem Verhängnis anheimgefallen ist, willst du vom Tod erlösen? Tu, was dir gut dünkt, aber hoffe nicht, daß die Götter deinen Rat billigen werden!« Zeus nickte seiner Tochter Gewährung zu, und sie schwang sich wie ein Vogel von den Felsenhöhen des Olymp aufs Schlachtfeld hinab,

Hier floh Hektor noch immer vor seinem Verfolger, der ihn, wie ein Jagdhund den aus dem Lager aufgejagten Hirsch, bedrängte und ihm, wie dieser seinem Wild, keinen Schlupfwinkel und keine Rast gönnte. Auch winkte Achill seinem Volke zu, daß keiner sein Geschoß auf Hektorn werfen und ihm den Ruhm rauben sollte, der erste und einzige gewesen zu sein, der den furchtbarsten Feind der Griechen erlegte.

Als sie nun zum viertenmal auf ihrer Runde um die Mauer an die Quellen des Skamander gelangt waren, da erhub sich Zeus auf dem Olymp, streckte die goldne Waage vor und legte zwei Todeslose hinein, das eine für den Peliden, das andre für Hektor. Dann faßte er die Waage in der Mitte und wog: da sank Hektors Waagschale tief nach dem Hades zu, und augenblicklich verließ Phöbos Apollo seine Seite. Zu Achill aber trat Athene die Göttin und flüsterte ihm ins Ohr: »Steh und erhole dich, während ich jenem zurede, dich kühn zu bekämpfen.« Achill lehnte sich, der Göttin gehorchend, auf seinen eschenen Speer, sie aber, in der Gestalt des Deïphobos, trat ganz nahe zu Hektor und sprach zu ihm: »Ach, mein älterer Bruder, wie bedrängt dich der Pelide! Wohlan, laß uns standhalten und ihn abwehren!« Freudig aufblickend erwiderte Hektor: »Du warst immer mein trautester Bruder, Deïphobos, jetzt aber muß dich mein Innerstes nur um so mehr hochachten, daß du dich, sobald mich dein Auge wahrnahm, aus der Stadt gewagt hast, während die andern alle hinter der Mauer sitzen!« Athene winkte dem Helden zu und schritt ihm, die Lanze gehoben, voran, dem ausruhenden Achill entgegen. Diesem rief Hektor zuerst zu: »Nicht länger entfliehe ich dir, Pelide; mein Herz treibt mich, dir fest entgegenzustehen, daß ich dich töte oder falle! Laß uns aber die Götter zu Zeugen eines Eidschwures nehmen: Wenn mir Zeus den Sieg verleiht, werde ich dich nimmermehr mißhandeln, sondern nachdem ich dir deine Rüstung abgezogen, die Leiche deinen Volksgenossen zurückgeben. Ein Gleiches sollst du mir tun!«

»Nicht von Verträgen geplaudert!« erwiderte finster Achill; »sowenig ein Hund zwischen Löwen und Menschen Freundschaft stiftet, sowenig zwischen Wölfen und Lämmern Eintracht besteht, sowenig wirst du mich mit dir befreunden. Einer von uns muß blutig zu Boden stürzen. Nimm deine Kunst zusammen, du mußt Lanzenschwinger und Fechter zugleich sein. Doch du wirst mir nicht entrinnen, all das Leid, das du den Meinigen mit der Lanze angetan hast, das büßest du mir jetzt auf einmal!« So schalt Achill und schleuderte die Lanze: doch Hektor sank ins Knie, und das Geschoß flog über ihn weg in die Erde; hier faßte es Athene und gab es dem Peliden, unbemerkt von Hektor, sogleich zurück. Mit zornigem Schwung entsandte nun Hektor auch seinen Speer, und dieser fehlte nicht, er traf mitten auf den Schild des Achill, aber prallte auch davon ab; bestürzt sah sich Hektor nach seinem Bruder Deïphobos um, denn er hatte keine zweite Lanze zu versenden. Doch dieser war verschwunden. Da wurde Hektor inne, daß es Athene war, die ihn getäuscht hatte. Wohl sah er ein, daß das Schicksal ihn jetzt fassen würde; er dachte daher nur darauf, wie er nicht ruhmlos in den Staub sinken wollte, zog sein gewaltiges Schwert von der Hüfte und stürmte, das geschwungene in der Rechten, wie ein Adler einher, der auf einen geduckten Hasen oder ein Lämmlein aus der Luft herabschießt. Der Pelide wartete den Streich nicht ab, auch er drang unter dem Schilde vor; sein Helm nickte, die Mähne flatterte, und sternhell strahlte sein Speer, den er grimmig in seiner Rechten schwenkte. Sein Auge durchspähte den Leib Hektors, forschend, wo etwa eine Wunde haften könnte. Da fand er alles blank von der geraubten Rüstung umhüllt: nur wo Achsel und Hals das Schlüsselbein verbindet, erschien die Kehle, die gefährlichste Stelle des Lebens am Leib, ein weniges entblößt. Dorthin lenkte Achill schnell besonnen seinen Stoß und durchstach ihm den Hals so mächtig, daß die Lanzenspitze zum Genick herausdrang. Doch durchschnitt ihm der Speer die Gurgel nicht so, daß der Verwundete nicht noch reden konnte, obgleich er in den Staub sank, während Achill laut frohlockte und den Leichnam Hunden und Vögeln preiszugeben drohte. Da begann der liegende Hektor, schon schwächer atmend, zu flehen: »Ich beschwöre dich bei deinem Leben, Achill, bei deinen Knien, bei deinen Eltern, laß nicht die Hunde bei den Schiffen der Danaer mich zerreißen! Nimm Erz und Gold, soviel du willst, zum Geschenk und entsende dafür meinen Leib nach Troja, daß Männer und Frauen dort ihm die Ehre des Scheiterhaufens zuteil werden lassen.«

Aber Achill schüttelte sein fürchterliches Haupt und sprach: »Beschwöre mich nicht bei meinen Knien und meinen Eltern, du Mörder meines Freundes! Niemand sei, der dir die Hunde verscheuche von deinem Haupt, und wenn mir deine Landsleute zwanzigfältige Sühnung darwögen und noch mehr verhießen. Ja, wenn dich Priamos mir selbst mit Gold aufwägen wollte!« »Ich kenne dich«, stöhnte Hektor sterbend, »ich ahnte, daß du nicht zu erweichen sein würdest; dein Herz ist eisern! Aber denk an mich, wenn die Götter mich rächen und am hohen Skäischen Tore du vom Geschosse Phöbos Apollos getroffen im Staube endest wie jetzt ich!« Mit dieser Weissagung verließ Hektors Seele den Leib und flog zum Hades hinunter. Achill aber rief der fliehenden nach: »Stirb du; mein Los empfang ich, wann Zeus und die Götter wollen!« So sprach er und zog den Speer aus dem Leichnam, legte ihn beiseite und zog die eigene, blutige Rüstung von den Schultern des Gemordeten.

Nun kamen aus dem griechischen Heere viel Streiter herbeigelaufen und betrachteten den Wuchs und die hohe Bildung des toten Hektor bewundernd, und mancher sprach, ihn anrührend: »Wunderbar, wieviel sanfter ist doch der Mann nun zu betasten, als da er den Feuerbrand in unsere Schiffe schleuderte!« Jetzt stellte sich Achill mitten unter das Volk und sprach: »Freunde und Helden! Nachdem die Götter mir verliehen haben, diesen Mann hier zu bändigen, der uns mehr Böses getan hat als alle andern zusammen, so laßt uns in unserer Rüstung die Stadt ein wenig auskundschaften, um zu erforschen, ob sie uns wohl die Burg räumen werden oder ob sie es wagen, uns auch ohne Hektor Widerstand zu leisten. Aber was rede ich? Liegt nicht mein Freund Patroklos noch unbestattet bei den Schiffen? Darum stimmet den Siegsgesang an, ihr Männer, und laßt uns vor allen Dingen meinem Freunde das Sühnopfer bringen, das ich ihm geschlachtet habe!«

Mit solchen Worten wandte sich der Grausame dem Leichnam aufs neue zu, durchbohrte ihm an beiden Füßen die Sehnen zwischen Knöchel und Fersen, durchzog sie mit Riemen von Stierhaut, band sie am Wagensitze fest, schwang sich in den Wagen und trieb seine Rosse mit der Geißel den Schiffen zu, den Leichnam nachschleppend. Staubgewölk umwallte den Geschleiften, sein jüngst noch so liebliches Haupt zog mit zerrüttetem Haar eine breite Furche durch den Sand. Von der Mauer herab erblickte seine Mutter Hekabe das grauenvolle Schauspiel, warf den Schleier ihres Hauptes weit von sich und sah jammernd ihrem Sohne nach. Auch der König Priamos weinte und jammerte. Geheul und Angstruf der Trojaner und der fremden Völker hallte durch die ganze Stadt. Kaum ließ sich der alte König abhalten, selbst in seinem zornigen Schmerz zum Skäischen Tore hinauszustürmen und dem Mörder seines Sohnes nachzueilen. Er warf sich zu Boden und rief: »Hektor, Hektor! Alle andern Söhne, die mir mein Feind erschlug, vergesse ich über dir: o wärest du doch nur in meinen Armen gestorben!«

Andromache, Hektors Gemahlin, hatte von dem ganzen Jammer noch nichts vernommen, ja ihr war nicht einmal ein Bote gekommen, der gemeldet hätte, daß ihr Gatte sich noch draußen vor den Toren befinde. Ruhig saß sie in einem der Gemächer des Palastes und durchwirkte ein schönes Purpurgewand mit bunter Stickerei. Und eben rief sie einer der Dienerinnen, einen großen Dreifuß ans Feuer zu stellen, um ihrem Gemahl ein wärmendes Bad vorzubereiten, wenn er aus der Feldschlacht käme. Da vernahm sie vom Turme her Geheul und Jammergeschrei. Finstre Ahnung im Herzen, rief sie: »Weh mir, ihr Mägde, ich fürchte, Achill habe meinen mutigen Gatten allein von der Stadt abgeschnitten und bedrohe seine Kühnheit, die ihn niemals im Haufen weilen läßt; folget euer zwei mir, daß wir schauen, was es gibt!« Mit pochendem Herzen durchstürmte sie den Palast, eilte auf den Turm und sah herab über die Mauer, wie die Rosse des Peliden den Leichnam ihres Gatten, erbarmungslos an den Wagen des Siegers gebunden, durchs Gefilde schleppten. Andromache sank rückwärts in die Arme ihrer Schwäger und Schwägerinnen in tiefe Ohnmacht, und der köstliche Haarschmuck, das Band, die Haube, die schöne Binde, das Hochzeitgeschenk Aphrodites, flogen weit weg von ihrem Haupte. Als sie endlich wieder aufzuatmen anfing, begann sie mit gebrochener Klage schluchzend vor Trojas Frauen: »Hektor! wehe mir Armen! Du, elend wie ich, zu Elend geboren, wie ich! In Schmerz und Jammer verlassen, sitze ich nun im Hause; eine Witwe mit unserem unmündigen Kinde, das des Vaters beraubt, die Augen gesenkt, mit immer betränten Wimpern aufwächst! Betteln wird es müssen bei den Freunden des Vaters und bald den am Rock, bald den am Ärmel zupfen, daß er ihm das Schälchen reiche und zu nippen gebe! Manchmal auch wird ein Kind blühender Eltern es vom Schmause verstoßen und sagen: ›Trolle dich, dein Vater ist ja nicht beim Gastmahl!‹ Dann flüchtet es sich weinend zu der Mutter, die keinen Gatten hat. Der aber wird die Hunde sättigen, und die Würmer werden den Überrest verzehren! Was helfen mir nun die schmucken zierlichen Gewande in den Kästen? Der Flamme will ich sie alle übergeben: was frommen sie mir? Hektor wird nicht mehr auf ihnen ruhen, nicht mehr in ihnen prangen!« So sprach sie weinend und wehklagend, und ringsumher seufzten die Trojanerinnen.


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