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Priamos, Hekabe und Paris

Das weitere Los des Königes Laomedon und seiner Tochter Hesione ist schon von uns berichtet worden. Ihm folgte sein Sohn Priamos in der Regierung. Dieser vermählte sich in zweiter Ehe mit Hekabe oder Hekuba, der Tochter des phrygischen Königes Dymas. Ihr erster Sohn war Hektor. Als aber die Geburt ihres zweiten Kindes herannahete, da schaute Hekabe in einer dunkeln Nacht im Traume ein entsetzliches Gesicht. Ihr war, als gebäre sie einen Fackelbrand, der die ganze Stadt Troja in Flammen setze und zu Asche verbrenne. Erschrocken meldete sie diesen Traum ihrem Gemahle Priamos. Der ließ seinen Sohn aus erster Ehe, Aisakos mit Namen, kommen, welcher ein Wahrsager war und von seinem mütterlichen Großvater Merops die Kunst, Träume zu deuten, erlernt hatte. Aisakos erklärte, seine Stiefmutter Hekabe werde einen Sohn gebären, der seiner Vaterstadt zum Verderben gereichen müsse. Er riet daher, das Kind, das sie erwartete, auszusetzen. Wirklich gebar die Königin einen Sohn, und die Liebe zum Vaterland überwog bei ihr das Muttergefühl. Sie gestattete ihrem Gatten Priamos, das neugeborne Kind einem Sklaven zu geben, der es auf den Berg Ida tragen und daselbst aussetzen sollte. Der Knecht hieß Agelaos. Dieser tat, wie ihm befohlen war; aber eine Bärin reichte dem Säugling die Brust, und nach fünf Tagen fand der Sklave das Kind gesund und munter im Walde liegen. Jetzt hob er es auf, nahm es mit sich, erzog es auf seinem Äckerchen wie sein eigenes Kind und nannte den Knaben Paris.

Als der Königssohn unter den Hirten zum Jünglinge herangewachsen war, zeichnete er sich durch Körperkraft und Schönheit aus und wurde ein Schutz aller Hirten des Berges Ida gegen die Räuber; daher ihn jene auch nur Alexander, das heißt Männerhilfe, nannten.

Nun geschah es eines Tages, als er mitten im abwegsamsten und schattigsten Tale, das sich durch die Schluchten des Berges Ida hinzog, zwischen Tannen und Steineichen, ferne von seinen Herden, die den Zugang zu dieser Einsamkeit nicht fanden, an einen Baum gelehnt mit verschränkten Armen hinabschaute durch den Bergriß, der eine Durchsicht auf die Paläste Trojas und das ferne Meer gewährte, daß er einen Götterfußtritt vernahm, der die Erde um ihn her beben machte. Ehe er sich besinnen konnte, stand, halb von seinen Flügeln, halb von den Füßen getragen, Hermes der Götterbote, den goldnen Heroldsstab in den Händen, vor ihm; doch war auch er nur der Verkündiger einer neuen Göttererscheinung; denn drei himmlische Frauen, Göttinnen des Olymp, kamen mit leichten Füßen über das weiche, nie gemähete und nie gewendete Gras einhergeschritten, daß ein heiliger Schauer den Jüngling überlief und seine Stirnhaare sich aufrichteten. Doch der geflügelte Götterbote rief ihm entgegen: »Lege alle Furcht ab; die Göttinnen kommen zu dir als zu ihrem Schiedsrichter: dich haben sie gewählt, zu entscheiden, welche von ihnen dreien die schönste sei. Zeus befiehlt dir, dich diesem Richteramte zu unterziehen; er wird dir seinen Schirm und Beistand nicht versagen!« So sprach Hermes und erhob sich auf seinen Fittichen, den Augen des Königssohnes entschwebend, über das enge Tal empor. Seine Worte hatten dem blöden Hirten Mut eingeflößt; er wagte es, den schüchternen gesenkten Blick zu erheben und die göttlichen Gestalten, die in überirdischer Größe und Schönheit seines Spruches gewärtig vor ihm standen, zu mustern. Der erste Anblick schien ihm zu sagen, daß eine wie die andere wert sei, den Preis der Schönheit davonzutragen; doch gefiel ihm jetzt die eine Göttin mehr, jetzt die andere, so wie er länger auf einer der herrlichen Gestalten verweilt hatte. Nur schien ihm allmählich eine, die jüngste und zarteste, holder und liebenswürdiger als die andern, und ihm war, als ob, aus ihren Augen ausgehend, ein Netz von Liebesstrahlen sich ihm um Blick und Stirne spänne. Indessen hub die stolzeste der drei Frauen, die an Wuchs und Hoheit über die beiden andern hervorragte, dem Jünglinge gegenüber an: »Ich bin Hera, die Schwester und Gemahlin des Zeus. Wenn du diesen goldenen Apfel, welchen Eris, die Göttin der Zwietracht, beim Hochzeitmahle der Thetis und des Peleus unter die Gäste warf, mit der Aufschrift: ›Der Schönsten‹, mir zuerkennest, so soll dir die Herrschaft über das schönste Reich der Erde nicht fehlen, ob du gleich nur ein aus dem Königspalaste verstoßener Hirte bist.« »Ich bin Pallas, die Göttin der Weisheit«, sprach die andere mit der reinen, gewölbten Stirne, den tiefblauen Augen und dem jungfräulichen Ernst im schönen Antlitz; »wenn du mir den Sieg zuerkennst, sollst du den höchsten Ruhm der Weisheit und Männertugend unter den Menschen ernten!« Da schaute die dritte, die bisher immer nur mit den Augen gesprochen hatte, den Hirten mit einem süßen Lächeln noch durchdringender an und sagte: »Paris, du wirst dich doch nicht durch das Versprechen von Geschenken betören lassen, die beide voll Gefahr und ungewissen Erfolges sind! Ich will dir eine Gabe geben, die dir gar keine Unlust bereiten soll; ich will dir geben, was du nur zu lieben brauchst, um seiner froh zu werden: das schönste Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme führen! Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!«

Als Venus dem Hirten Paris dies Versprechen tat, stand sie vor ihm, mit ihrem Gürtel geschmückt, der ihr den höchsten Zauber der Anmut verlieh. Da erblaßte vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer Schönheit der Reiz der andern Göttinnen vor seinen Augen, und mit trunkenem Mute erkannte er der Liebesgöttin das goldene Kleinod, das er aus Heras Hand empfangen hatte, zu. Hera und Athene wandten ihm zürnend den Rücken und schwuren diese Beleidigung ihrer Gestalt an ihm, an seinem Vater Priamos, am Volk und Reiche der Trojaner zu rächen und alle miteinander zu verderben; und Hera insbesondere wurde von diesem Augenblicke an die unversöhnlichste Feindin der Trojaner. Venus aber schied von dem entzückten Hirten mit holdseligem Gruße, nachdem sie ihm ihr Versprechen feierlich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte.

Paris lebte seiner Hoffnung geraume Zeit als unerkannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die Wünsche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, so lange nicht in Erfüllung gingen, so vermählte er sich hier mit einer schönen Jungfrau, namens Önone, die für die Tochter eines Flußgottes und einer Nymphe galt und mit welcher er auf dem Berge Ida bei seinen Herden glückliche Tage in der Verborgenheit verlebte. Endlich lockten ihn Leichenspiele, die der König Priamos für einen verstorbenen Anverwandten hielt, zu der Stadt hinab, die er früher nie betreten hatte. Priamos setzte nämlich bei diesem Feste als Kampfpreis einen Stier aus, den er bei den Hirten des Ida von seinen Herden holen ließ. Nun traf es sich, daß gerade dieser Stier der Lieblingsstier des Paris war, und da er ihn seinem Herrn dem Könige nicht vorenthalten durfte, so beschloß er, wenigstens den Kampf um denselben zu versuchen. Hier siegte er in den Kampfspielen über alle seine Brüder, selbst über den hohen Hektor, der der Tapferste und Herrlichste von ihnen war. Ein anderer mutiger Sohn des Königs Priamos, Deïphobos, von Zorn und Scham über seine Niederlage überwältigt, wollte den Hirtenjüngling niederstoßen. Dieser aber flüchtete sich zum Altare des Zeus, und die Tochter des Priamos, Kassandra, welche die Wahrsagergabe von den Göttern zum Angebinde erhalten hatte, erkannte in ihm ihren ausgesetzten Bruder. Nun umarmten ihn die Eltern, vergaßen über der Freude des Wiedersehens die verhängnisvolle Weissagung bei seiner Geburt und nahmen ihn als ihren Sohn auf.

Vorerst kehrte nun Paris zu seiner Gattin und seinen Herden zurück, indem er auf dem Berge Ida eine stattliche Wohnung als Königssohn erhielt. Bald jedoch fand sich Gelegenheit für ihn zu einem königlicheren Geschäfte, und nun ging er, ohne es zu wissen, dem Preis entgegen, den ihm seine Freundin, die Göttin Aphrodite, versprochen hatte.


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