Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Palamedes und sein Tod

Der einsichtsvollste Mann im griechischen Heere war Palamedes, tätig, weise, gerecht und standhaft; von zarter Gestalt, des Gesanges und Leierspiels kundig. Seine Beredsamkeit hatte den Atriden die meisten Fürsten Griechenlands für den Feldzug gegen Troja gestimmt, seine Klugheit selbst den Sohn des Laërtes überlistet. Dadurch hatte er sich aber auch einen unversöhnlichen Feind in dem Heere der Danaer erworben, der Tag und Nacht auf Rache sann und nur um so finsterer darüber brütete, je mehr das Ansehen des verständigen Euböers unter den Fürsten zunahm. Nun wurde den Griechen durch ein Orakel Apollos bekannt, daß sie diesem Gott als Apollo Smintheus – unter solchem Namen wurde er in der Landschaft Troas verehrt – eine Hekatombe an der Stelle opfern sollten, wo seine Bildsäule und sein Tempel stand, und Palamedes war von dem Gotte auserwählt worden, die stattlichen Opfertiere nach der heiligen Stätte zu führen. Dort wartete ihrer Chryses, der Priester des Gottes, der das feierliche Opfer vollbrachte. Die Verehrung Apollos in dieser Landschaft hatte einen seltsamen Ursprung. Als die alten Teukrer, aus Kreta herüber mit ihrem Könige Teucer kommend, an dieser Küste Kleinasiens gelandet waren, gab ihnen das Orakel den Befehl, da zu bleiben, wo sie ihre Feinde aus der Erde würden hervorkriechen sehen. Als sie nun in Hamaxitos, einer Stadt dieser Landschaft, angekommen waren, benagten die Mäuse, aus der Erde hervorschlüpfend, in einer Nacht alle ihre Schilde. Sie sahen auf diese Weise den Spruch des Gottes erfüllt, ließen sich in der Gegend nieder und erbauten dem Apollo eine Bildsäule, der eine Maus, was in äolischer Mundart Smintha bedeutet, zu Füßen lag.

Diesem Apollo Smintheus, der seinen Tempel nicht weit von Chryse auf einer Anhöhe stehen hatte, ward nun unter Palamedes' Anführung von seinem Priester Chryses eine Hekatombe oder Hundertzahl heiliger Schafe geopfert. Die Ehre, die dem Palamedes durch die Anordnung Apollos selbst widerfuhr, beschleunigte seinen Untergang. Denn in Odysseus' sonst nicht unedlem Gemüte gewann jetzt ganz der Neid die Oberhand, und er sann auf eine fluchwürdige List, durch welche er dem edlen Manne den Untergang bereitete. Er verbarg eigenhändig in tiefster Heimlichkeit eine Summe Geldes in dem Zelt des Palamedes. Dann schrieb er im Namen des Priamos einen Brief an den griechischen Helden, in welchem dieser von überschicktem Gelde sprach und dem Palamedes seinen Dank ausdrückte, daß derselbe ihm das Heer der Griechen verraten habe. Dieser Brief wurde einem phrygischen Gefangenen in die Hände gespielt, bei demselben sodann von Odysseus entdeckt und der unschuldige Träger auf seine Veranstaltung sofort auf der Stelle niedergemacht. Den Brief zeigte Odysseus vor der Fürstenversammlung im griechischen Lager. Palamedes wurde von den entrüsteten Häuptern der Danaer vor einen Kriegsrat gestellt, welchen Agamemnon aus den vornehmsten Fürsten zusammensetzte und in welchem Odysseus sich den Vorsitz zu verschaffen wußte; auf seine Veranlassung ward im Zelte des Beschuldigten geforscht, endlich nachgegraben und so die Summe Goldes, die der trügerische Odysseus dort versteckt hatte, unter seiner Lagerstätte aufgefunden. Die Richter, nichts vom wahren Vorgang der Sache ahnend, sprachen einstimmig das Todesurteil aus. Palamedes würdigte sie keiner Selbstverteidigung: er durchschaute den Trug, aber er hatte keine Hoffnung, Beweise seiner Unschuld sowie der Schuld seines Gegners vorzubringen. Als daher das Urteil gefällt war, das auf Steinigung lautete, brach er nur in die Worte aus: »O ihr Griechen, ihr tötet die gelehrteste, die unschuldigste, die gesangreichste Nachtigall!« Die verblendeten Fürsten lachten über diese Verteidigung und führten den edelsten Mann im griechischen Heere zum unbarmherzigsten Tode fort, den er mit heldenmütiger Standhaftigkeit ertrug. Als ihn schon die ersten Steinwürfe niedergeschmettert hatten, brach er in die Worte aus: »Freue dich, Wahrheit, du bist vor mir gestorben!« Als er diese Worte gesprochen, fuhr ihm, von Odysseus' rachsüchtiger Hand geschleudert, ein Stein an die Schläfe, daß er umsank und starb. Aber Nemesis, die Göttin der Gerechtigkeit, schaute vom Himmel herab und beschloß, den Griechen und ihrem Verführer Odysseus noch am Ziel ihrer Taten den Frevel zu vergelten.


 << zurück weiter >>