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Als Valerian von Schlettendorf am andern Morgen in dem Schlafkämmerlein einer Dorfschenke erwachte, war die Uhr weit vorgerückt. Draußen hörte er bekannte Stimmen; als er aus Fenster eilte, sah er seine Reiseequipage vor dem Hause halten, wo der Kutscher seine Pferde fütterte.
Der Kammerdiener erkundigte sich bei dem Wirth mit besorgter Miene nach seinem Herrn; der Hospes, der wahrscheinlich zur Abwehr des heißen Sonnenscheins eine wollene Schlafmütze und darüber einen alten Filzbut aufgestülpt hatte, versicherte, nichts von dem Herrn Grafen gesehen zu haben, und der Kutscher fluchte und verschwor sich, er fahre keinen Schritt weiter, bevor der Kammerdiener ihm Zeugen stelle, daß sein Herr durch das Dorf gekommen. Beide wurden nicht wenig überrascht, als ihr Herr in leibhafter Gestalt plötzlich über ihren Köpfen durch das Fenster schaute und ihre bekümmerten Seelen aufs vollständigste beruhigte.
Valerian kam um die Mittagsstunde auf seiner Herrschaft an, wo ihn der festlichste Empfang erwartete. Mit Kränzen hatte man die Thore seines Schlosses umwunden, der Schulmeister hatte ein Gedicht gemacht, welches des Verwalters niedlichstes Töchterchen declamirte, und die Schulkinder sangen mit ihren blechernen Stimmchen eine höchst eindringliche Aufforderung, wie ersprießlich tugendhafter Wandel auf Erden und wie angenehm die Erringung der ewigen Seligkeit sei, was sehr rührend anzuhören war.
Valerian wurde in der That von dieser Feier seiner Ankunft gerührt; er hatte ein kindliches Gemüth, das der Mehlthau, welchen die Atmosphäre der großen Welt auf alle Blüten des Gefühls tröpfelt, nicht zu trüben vermocht hatte. Seine Seele war frisch und gesund, wie eine im Mairegen gebadete junge Lerche.
Als er sich in dem großen Ahnensaale des Schlosses in den goldgestickten Sessel seines Vaters niederließ, an einer Stelle, wo er nach drei Richtungen hinaus das Auge schweifen lassen konnte, ohne das Ende seines Gebiets abzusehen, überschlich ihn ein wehmüthiges, seltsames Gefühl. Er drückte bewegt seiner Umgebung, den glückwünschenden Beamten, die Hände und entließ sie bis zur Tafel. Dann fragte er sich, woher diese Wehmuth, die ihn überschlichen in dem Augenblick, in welchem er stolz als Herr und Gebieter den Ehrensitz eingenommen, von dem herab sein Vater eine Art Herrschaft geübt über Land und Leute? Er sollte ja selbst jetzt fühlen, wie süß es ist, befehlen und jedem Einfall, jedem Wunsche sich hingeben zu können, ohne auf Widerspruch zu stoßen.
Valerian war der zweitgeborene Sohn des vorletzten Besitzers von Schlettendorf, des Grafen Peter Engelbert; der älteste Sohn desselben war ein Jahr nach seiner Verheirathung durch ein Unglück um's Leben gekommen; er hatte sich auf der Jagd erschossen, oder war erschossen worden, aus Unvorsichtigkeit – vorsätzlich – man war nicht recht dahinter gekommen, denn der einzige Zeuge des Unglücks, der Büchsenspanner des Grafen, hatte sich aus dem Staube gemacht.
Valerian's verunglückter Bruder hinterließ einen Sohn, einen starken und gesunden Knaben. Jener hatte deshalb kaum je an die Möglichkeit gedacht, daß er einst in den Besitz der Familiengüter treten könne, und deshalb hatte Valerian sich selbst eine Stellung im Leben zu erringen gesucht. Große Schritte dazu waren bis jetzt freilich noch nicht gemacht worden. Nachdem er seine Studienzeit in ziemlich lebhafter Theilnahme an den Fröhlichkeiten des Studententhums verlebt, war er auf Reisen gegangen, er hatte Frankreich, Spanien und England gesehen, er hatte einen Winter in Neapel zugebracht.
Eines schönen Morgens, als er hier just beschäftigt war, seine Koffer zu packen, um heimzureisen und Staatsdienstaspirant zu werden, erhielt er einen schwarzgesiegelten Brief: es war ein Schreiben von dem Vormunde seines Neffen, daß dieser Knabe, für den seit zwei Jahren, nach dem Tode des Grafen Peter Engelbert, welcher seinem unglücklichen Sohne bald ins Grab gefolgt war, die Güter verwaltet wurden, am Scharlachfieber gestorben sei und daß Valerian als Erbe jeden Tag in den Besitz der Güter treten könne.
Valerian eilte in seine Heimat zurück; er hatte sie als blutjunger Mensch verlassen und da sein Vater sich während seiner letzten Lebensjahre in Nizza aufhielt, wo Valerian, wenn Ferien die Studienzeit unterbrachen, ihm Gesellschaft leisten mußte, so kam es, daß dieser jetzt in acht Jahren seine Heimat nicht mehr gesehen hatte und ihr völlig entfremdet war. Selbst unter den Physiognomien, die sich bei seiner Ankunft auf Schlettendorf um ihn drängten, waren ihm die meisten fremd, und ein Gefühl von Oede und Einsamkeit überschlich ihn deshalb, als er allein in dem großen Ahnensaal seines Schlosses sich befand und die lebendige Erinnerung an seinen dahingegangenen Vater und seinen armen, in der Blüte der Jahre abgerufenen Bruder vor seine Seele trat. Seine Wimper wurde feucht.
Um seiner tiefen Bewegung zu entgehen, durchwandelte er die nächsten Zimmer. Sie waren alle noch, wie er sie kannte, wie sie Zeugen seiner kindischen Spiele gewesen. Derselbe schwerfällige Luxus der Einrichtung, nur etwas vergilbter, etwas verblaßter; die Gemächer nicht so riesig hoch, die Spiegel nicht so colossal, wie sie ihm in der Erinnerung vorgeschwebt, aber derselbe Duft, der ehemals darin geweht, und in dem Eckzimmer seiner Mutter das Pastellbild mit ihren Zügen, ganz wie er sie so oft sich ausmalte. Er kniete auf einem Stuhle vor diesem Bilde; ohne zu beten, mußte er dem Drange von frommen und religiösen Gedanken nachgeben, die ihn vor dem Bilde seiner Mutter erfaßten und in das Innerste seiner Seele griffen.
Dann schritt er weiter, durch alle Zimmer des ganzen großen Geschosses. Kein menschliches Wesen in irgend einem derselben! Ueberall eine Todtenstille und keine andere Bewegung, als das Flattern eines übersehenen Spinngewebes, wenn das Oeffnen und Schließen der hohen Flügelthüren die gewirkten Tapeten erschütterte, oder der Flügelschlag einer kecken Schwalbe, welche in die zum Lüften geöffneten Fenster hereinschoß.
Valerian fühlte, daß ihn die Einsamkeit hier erdrücken werde, wenn nicht die Hoffnung mit ihm einziehe, daß sie einst von einem geliebten Wesen getheilt werde.
Valerian dachte dabei an Theo; aber er vermied es, sich diesen Gedanken förmlich auszusprechen, denn sie stand vor dem Auge seines Gemüths mit einer Schönheit und einer idealen Erhabenheit angethan – in jener unnahbaren Glorie, welche nur die erste Liebe in ihrem Erwachen kennt – daß irdische Wünsche ihr gegenüber ihm ein Frevel schienen.
Sein Kammerdiener kam und meldete ihm, daß die Tafel servirt sei. Als er sich hinunter begab, kam ihm der Verwalter mit einem Briefe entgegen, den ein reitender Bote so eben gebracht habe. Das Schreiben enthielt eine Einladung, am dritten Tage nach Surenburg (einem kaum eine halbe Tagereise entfernten Gute) zu kommen, wo man sich sehne, den Vetter kennen zu lernen und ihn mehreren, dann zufällig anwesenden Freunden vorzustellen. Es war unterzeichnet: Heinrich, Freiherr von Mainhövel.
Vetter Mainhövel schreibt eine ausgezeichnet schöne Hand! bemerkte Valerian.
Nicht er, versetzte der Verwalter: er ist blind.
Blind? seit wann?
O, seit sechs Jahren etwa; seine nächtlichen Arbeiten haben ihm die Augen ruinirt.
Welches Unglück bei seinem Thätigkeitstrieb, rief Valerian aus, der sich des Freiherrn von Mainhövel erinnerte und seinen Vater viel von ihm hatte sprechen hören.
Freilich, sagte der Verwalter, auch soll er sehr übeln Stimmungen ausgesetzt sein und nur im Umgang der Gräfin Quernheim Trost finden. Sie ist sehr oft auf Surenburg.
Wer ist die Gräfin Quernheim?
Gräfin Allgunde von Quernheim, sagte der Verwalter, ist eine Dame, welche viel Einfluß bei dem ganzen Adel hat und für sehr gescheidt gehalten wird, weshalb Alle, die mit ihr in Berührung kommen, ihr ein großes Uebergewicht einräumen. Man erzählt sich manche Züge von ihr, die einen energischen und unerschütterlichen, aber auch harten Charakter verrathen, und im Ganzen scheint sie mehr gefürchtet als geliebt zu werden. Doch mag das freilich weniger ihrem Charakter, als dem Geheimnißvollen, was Manches in ihrem Leben umschwebt, zuzuschreiben sein.
Geheimnißvollen? fragte Valerian, der bei Tische den Verwalter auf den Platz neben sich zog.
Nun ja; man begreift den großen Einfluß nicht, den sie zu besitzen scheint – selbst in den höchsten Regionen, und man fragt sich, wohin ihre vielfachen Reisen führen können, welche sie macht, oft ohne ihr eigentliches Ziel anzugeben?
Ist sie so unabhängig?
Sie hat ein großes Vermögen von ihrer Mutter ererbt und bezieht die Einkünfte einer Stiftspräbende. In dem Stift nun soll sie oft vorgeben, sie reise zu ihrem Vater und bei ihrem Vater, sie reise in ihr Stift und doch ist sie dann weder in diesem, noch bei jenem – wie man sich erzählt.
Aber wo ist sie denn?
Der Verwalter, der sich offenbar mit großer Zurückhaltung aussprach, zuckte die Achseln. – In diesem Augenblicke, sagte er, in Blankenaar. Sie ist Vormünderin und Erzieherin des Fräuleins von Blankenaar, der reichsten Erbin im Lande.
In Blankenaar? fuhr Valerian auf.
Nicht mehr, sagte ein anderer Gast, der Rentmeister; – die Gräfin ist diesen Morgen in aller Frühe in Surenburg angekommen, wie ich vorhin von dem Boten hörte, welcher das Schreiben von daher brachte.
Valerian durfte also hoffen, sie in den nächsten Tagen zu treffen. Er war um so gespannter auf ihre Bekanntschaft, als sie es gewesen zu sein schien, von welcher die Zeilen ausgegangen, die einen so erschütternden Eindruck auf Theo gemacht hatten. Valerian erinnerte sich der Unterschrift: »A. Gr. zu Q.«
Den Nachmittag brachte Valerian zu, indem er mit Verwalter und Rentmeister einen Theil seines Gutes durchritt; als er in der Dämmerung heimkehrte, wurde ihm gemeldet, daß ein Fremder ihn zu sprechen wünsche. Eine schlanke, schmächtige Figur in abgetragenem Anzuge trat ein; eine schlechtverhehlte Dürftigkeit zeigte sich überhaupt in seinem Aeußern, es war eine etwas stark vom Leben mitgenommene Persönlichkeit; doch hatte der Fremde die Formen eines durchaus gebildeten Mannes.
Er wünschte von Valerian die Stelle eines Jägers, Waldaufsehers oder der Art, und zeigte einen Paß vor, in welchem er als Jäger Willibald Gentz, bislang in Diensten des Grafen Quernheim, verzeichnet stand.
Als Valerian ihm sagte, er müsse sich an den Rentmeister wenden, da er selbst nicht wisse, ob eine solche Stelle in seinen Diensten zu besetzen sei, sagte er:
Ich bin nur mit Mühe bis hierher gekommen, da ich krank bin, und würde nicht weiter gehen können!
Sie sind krank? so bleiben Sie hier – setzen Sie sich, man wird Sorge für Sie tragen.
Valerian schellte und da ihm einfiel, daß die Gewißheit einer sichern Stellung das beste Heilmittel für einen von Sorgen gedrückten Kranken sein könnte, sagte er im ersten Anstoß einer edelmüthigen Theilnahme ohne alle weitere Prüfung:
Sie können als Forstwart bei mir eintreten, unter denselben Bedingungen, welche sie beim Grafen Quernheim hatten.
Der neue Forstwart Valerian's war niemand Anderes als derselbe Mann, den Allgunde von Quernheim Herr von Finkenberg nannte und auf dessen völliges Verschwinden aus der Gegend sie so eifrig bestanden hatte. Er hatte sich in der Unruhe der vorigen Nacht stille aus Blankenaar davongemacht.