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Friedel hatte den Schlüssel. Es war Blindenschrift. Ein kurzer Vergleich mit deren in einem Lexikon der Bordbücherei abgedruckter Buchstabenform hatte das am gleichen Abend noch ergeben.
Alles an Bord erwartete nun begierig die Enthüllung des Inhalts der geheimschriftlichen Blätter. Dr. Hell, Horst und Friedel arbeiteten gemeinsam, waren kaum an Deck zu sehen, steckten den ganzen Tag in Dr. Hells Kabine, ließen sich sogar das Essen dorthin bringen.
Und als sie endlich wieder erschienen, sprach der Stolz gelungener und vollendeter Arbeit aus ihren Augen.
Allen Fragen aber und aller selbstverständlichen Erwartung, vom enthüllten Geheimnis der Südsee zu hören, setzten sie ein unerschütterliches Schweigen gegenüber.
Dr. Hell wußte, daß ihr Benehmen eine Erklärung verlangte, und gab sie offen und ungeschminkt, wie sie dem Tatsächlichen entsprach:
»Die Urkunde Enno Harts ist entziffert.
Ihr Inhalt aber zwang uns zur Rechenschaft darüber, daß seine Geheimhaltung eine unerläßliche Pflicht gegenüber dem Vaterland bedeutet. In der Urkunde flehen Dinge, die nur der deutschen Regierung und auf lange Sicht hin niemandem anders bekannt werden dürfen, wenn die Bedeutung der Entdeckungen Harts für unser Land wirklich fruchtbar werden soll. Nach meinem Verständnis der Dinge sind sie aber von ganz unübersehbarer Tragweite. Darum müssen Sie, meine Herren, sich wohl oder übel mit dem abfinden, was wir vor unserem Gewissen allein rechtfertigen können: völligem Schweigen. Ja, ich muß Sie sogar bitten, auch Ihrerseits das Vorhandensein der Urkunde überhaupt gegen niemanden zu erwähnen, geschweige denn die Tatsache ihrer großen Bedeutung. Wir drei jedenfalls haben uns unbedingtes Schweigen in die Hand versprochen. Die Urkunde ist in sicherer Verwahrung. Und unser Wissen ebenso sicher unter dem Schloß unsres Schweigens.«
Kopfschütteln. Selbst eine vorwurfsvolle Stimme von Mißachtung der Kollegialität – Professor Allwiß war der Entrüstete – änderte nichts an der Haltung der drei. Horst und Friedel waren nicht wenig stolz auf den Handschlag des Schweigens im Dienste des fernen Vaterlandes. Friedel träumte. Horst plante.
Draußen durch die warme Nacht blitzten die fernen Leuchtfeuer von Curanmilla und Valparaiso.
*
Wenige Tage später, und der »Pinguin« ging mit neugefüllten Bunkern nach Süden, begleitet von der fernen Kette der Anden, an der Küste Chiles hinab.
Der Empfang in der deutschen Kolonie Valparaisos hallte noch lange nach. Ein eigenes Gefühl, weit draußen im fremden Land plötzlich solche Pulsschläge deutschen Lebens zu spüren. In der Hauptstadt Chiles schien der deutsche Name überhaupt einen guten Klang zu haben. – Nicht überall hatten die Freunde das gefunden. Die Erfahrungen, die sie sonst während ihrer Fahrt durch Nordamerika am Anfang der Reise und danach an Bord der »Wairuna« zwischen Frisko und Apia gemacht, zeigten deutlich genug, daß namentlich die angelsächsische Welt mit Neid, ja Groll das Emporkommen Deutschlands, und damit sozusagen das Erscheinen jedes Deutschen in der weiten Welt draußen betrachtete.
Die Herren der Expedition konnten das aus ihren Erfahrungen nur zu gut bestätigen. Allerdings ging unter ihnen nur Dr. Hell so weit, von einem förmlichen Deutschen haß zu reden. Das schien denn doch über die Hutschnur gehauen und entfachte ein lebhaftes Wortgefecht. Aber der Angegriffene konnte allen Einwänden zum Trotz nachweisen, daß die ganze Entwicklung Deutschlands die andern bei ihrem Unvermögen, deutsche Art aus deutscher Geschichte heraus zu verstehen, notwendig dazu führen müsse, von Deutschland abzurücken und gegen Deutschland zusammenzurücken.
»Lassen Sie sich nicht täuschen, meine Herren,« wiederholte er mehr als einmal, »die Professoren, die auf Universitäten mit Austausch-Kollegen den Bruderkuß tauschen und dementsprechend pauken, sind einflußlos in der Politik ihrer Länder. – Ich will die Frage ganz außer acht lassen, ob wir die politische Isolierung hätten vermeiden können, aber die Tatsache steht fest: Wir haben keinen Freund unter den Großen der Erde, jedoch um so mehr Feinde. Darüber muß man sich ganz klar sein, das gehört zur nüchternen politischen Rechenschaft für jeden. Solange wir stark sind, hat es keine Not. Gelingt es aber einmal, uns ein Bein zu stellen, dann wären sie uns allesamt an der Gurgel.«
Kapitän Winker hatte zu allem ein ruhiges Lächeln: »Der Doktor hat schon recht. Aber an die Gurgel kommen? Von wegen! Heer und Flotte lassen keinen Feind an Deutschlands Gurgel heran.« Es war die selbstverständliche Sicherheit, mit der der Offizier auf seine Waffe vertraute.
»Ich sagte ja auch: Solange wir stark dastehen, ist keine Gefahr. Wehe aber, wenn uns die Welt einmal schwach sähe; wir bekämen dann erst ihren ganzen Haß zu spüren, würden Beute der Großen und der Kleinen, würden gehetzt von der Meute der ganzen Welt.«
» Und dürften auch dann nichts andres, als deutsch sein und nicht verzweifeln. Aber –« Der Kapitän schnickte mit der Hand, als jage er eine Fliege und lachte, ohne seinen Satz zu vollenden. Die andern nannten Dr. Hell einen Schwarzseher und nahmen seine Ansichten über Deutschlands machtpolitische Lage dann auch nicht mehr ernst genug. Nur die Jungen folgten begierig seinen Gedanken, erfühlten in ihnen die gleiche Art, zu sehen und zu urteilen, wie sie Vater Stein besaß, und spürten dasselbe Ahnen einer kommenden Entscheidung. Dr. Hell wußte es auch sehr einleuchtend zu machen, daß die politische Entwicklung ganz Europas infolge des Heißlaufens der Maschine des wirtschaftlichen Wettbewerbs und der Materialisierung der abendländischen Kultur auf eine schicksalshafte Krisis hindränge. Aber von den andern gab sich keiner solche Rechenschaft über die Weichenstellungen der Zeit.
*
Und wie solche Gedanken und Gespräche durch die Berührung mit der deutschen Kolonie Valparaisos erst geboren waren, so setzten sie auch wieder aus. Und wurden vergessen. Die Herren der Expedition hatten noch eine erhebliche Arbeit zu bewältigen, um bis zum Einlaufen in den Heimathafen schon die vorläufigen Gesamturteile über die Ergebnisse der Expedition für die verschiedenen Gebiete niederzulegen, wenn möglich schon zum Druck fertigzumachen. Das bedeutete für jeden von ihnen auch eine Rechenschaft fachwissenschaftlicher Art. Namentlich auf Professor Körners Schultern lag dabei die Hauptlast und belegte ihn fast völlig, so daß ihm einfach keine Zeit blieb für Sohn und Neffen. Auch Dr. Hell war ziemlich an seine Arbeitsstätte gefesselt. Die niedrigere Temperatur des gemäßigten Klimas machte auch wieder längere Arbeitsleistungen möglich.
Pidder Karsten blieb so ziemlich der einzige, der Horst und Friedel die Treue hielt.
*
Noch waren die Nächte warm. Hin und wieder verglomm leuchtend eine Sternschnuppe über den dunklen Wassern. Horst und Friedel hatten die schwüle Kabine gar nicht erst aufgesucht, sondern am gewohnten, sorglich und gemütlich hergerichteten Plätzchen auf dem Bootsdeck den Abend verplaudert mit Pidder Karsten. Der fühlte sich ordentlich, wenn er sich so im Mittelpunkt ihres Fragens und Lauschens sah. Aber gemach waren doch auch ihm die Klüsendeckel zugeklappt und er hatte sich nach unten verdrückt.
Zwischen den beiden Freunden sprang nur hin und wieder ein Wort auf. Leis zuckerten die Maschinen. Strahlend funkelte ihnen zu Häupten das Diadem der Nacht. Je länger die Fahrt gedauert, desto mehr waren sie aneinandergewachsen in gegenseitigem schnellen Verstehen; auch ohne Worte.
Heute zumal wußte einer vom andern ahnungssicher, wohin die Gedanken liefen. Vom Fahrterleben der letzten Wochen hatten sie gesprochen und immer weiter zurückgegriffen in der Erinnerung.
Der letzte Hafen lag hinter ihnen. Und vor ihnen die Heimat. Noch in weiter Ferne. Aber jede neue Meile weiter nach Süden rief es neu ins Bewußtsein: Die Zeit ist um!
Und die Gedanken der beiden umgreifen wieder und wieder die ganze Spanne ihrer weiten Fahrt.
Bild um Bild gleitet über die Schwelle des Bewußtseins und reiht sich zum bunten Film. Hatte sie doch der ganze Zauber der Südsee umsponnen. »Weißt du noch? … Weißt du noch?« lockt die Erinnerung des einen das Erinnern des andern. Welch wunderreiche Welt! Und wieviel Rätsel in ihren Weiten, Tiefen, Fernen! Die Schätze, die das Schauen schuf, kennen fast kein Ende. Ja, wirklich: »Wem Gott will rechte Gunst erweisen, den schickt er in die weite Welt!« … Was wunder, daß das Herz dankbar die Monde mißt, in deren Tagen es so reich geworden.
Und doch zugleich, tief im Denken, ein deutlich spürbares Wägen: was wohl das Tiefste sei und Reichste von allem, was die Fahrt beschert. Ja, Rechenschaft! Vor ihr Fahrterinnern stellt die samtne Nacht im Diadem der Sterne dies Wort. Es wächst und wächst, und härter wird sein Klang, bleibt nicht nur ein spielerisches Abwägen zwischen tausend Wundern, sondern dringt in die Tiefe und wird, ganz ernst gemeint, zur Frage an das Gestern und Ehegestern, … zur Frage an all der bunten Bilder langen Zug: Was bleibt als Tiefstes, Reichstes … Heute?! Und morgen?!
Damit aber beginnt auch die andre Wirklichkeit, die am Tag der Heimkehr neu auftauchen wird, ihre Forderung zu stellen. Das Leben Arbeit und Alltag, kommender Berufsentscheidung und gesteigerter Selbsterziehung, das in Deutschland daheim nun wieder wartet, dies Kommende, legt den Maßstab an das Gestern. Was dies Leben fordern muß und wird, das vermag erst die Frage nach dem Wert des Gestern zu lösen.
Herrisch fordert es. Wägt und mißt. Und im Licht dieses kommenden Lebens verblaßt nun so manches Bild, wird so manche Erkenntnis bedeutungslos. Verliert so manches Abenteuer seinen Reiz.
Am Maßstab des fordernden Lebens gemessen, behält aber bis zuletzt die neugewonnene Gemeinschaft verstehender Menschen ihren Wert und ihre Wucht. Dies ist's eben zutiefst:
Nicht Erkenntnisse, nicht Abenteuer stillen das Herz, adeln den Geist, denn sie sind nicht das Größte. Das Größte bleibt immer erlebte Liebe!
Und so bewährt sich in der Rechenschaft vor dem Leben auch die nahe Freundschaft des jungen Gelehrten. Doch noch ganz anders tief strahlten aus Nacht und Ferne Frau Herthas Mütterlichkeit und Reinhard Steins Mannestum vor dem rückschauenden Auge auf; und im Herzen der Freunde glänzt über allem Erinnern an Abenteuer und Rätselwunder als schönstes Fahrtgeschenk der Gruß von Haus Neuland, dessen Zauber sie unzerstörbar begleitet und redet von Menschen, bereit, alles Eigene fortzugeben, an die andern zu verschenken, Wissen und Zeit, Gemeinschaft und:.
»Das Größte bleibt immer: Erlebte Liebe!«