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»Tua« – Tofua – »Tofa«

Von Mulifanua hatte man sich, als die beiden damals nicht zurückgekehrt wären, am andern Morgen zuerst nach Haus Neuland gewandt. Und Frau Hertas Besorgnis war keineswegs kleiner geworden, als im Lauf des Tages Leute von Salua das auf dem Riff angetriebene und leckgeschlagene Boot Herrn Krügers herübergebracht hatten, von dem sie nichts anderes angenommen, als daß es dem Riff entlang herübergetrieben sei. Inzwischen hatten die Heimkehrenden die Einladung Manaias, zunächst mit nach Apolima zu kommen, trotz früherer Sehnsucht abgeschlagen und gebeten, sie auf dem nächsten Wege zurückzubringen. Va'oa war es, der sie schon von weitem sichtete und zu Frau Herta führte.

Als Friedel ihren Augen begegnete, entfiel ihm alles zur Entschuldigung Ausgedachte; denn er sah, daß hier jemand wie eine Mutter um ihrer beider Leben gebangt. So schwieg auch Horst. Aber Frau Herta brachte sie bald über den toten Punkt hinüber und sonnte sich in der bei beiden nach überstandenem Abenteuer doppelt schnell wieder durchbrechenden Fröhlichkeit um so lieber, als sie im Trennungsschmerz um ihren wieder abgereisten Ältesten für jeden Strahl von Freude und Unbekümmertheit doppelt dankbar war, wenngleich die vorauseilenden Gedanken an die bevorstehende Heimkehr ihres Jüngsten schon allem ihr Herz rascher schlagen ließen.

Dann aber kamen Tage, an denen sie die beiden gern um sich sah – als Schutz.

Denn am gleichen Tag, an dem Herr Stein, der Hermann nach Apia fortbegleitet, Eilnachricht sandte: seine Rückkehr sei unbestimmt lange verzögert, begannen auf Mulifanua und seinen Nachbarplantagen wie auf Kommando die chinesischen Arbeiter unbotmäßig zu werben. Es dauerte keine vierundzwanzig Stunden, und Samoa hatte seinen regelrechten Chinesenaufstand. Auch Herrn Steins Chinesen erschienen plötzlich vor der Veranda des Hauses, aufgeregt und gebärdenreich. Aber Frau Herta las in ihren Gesichtern weder Aufruhr noch Drohung. Der mühsamen Verständigung in schlechtem Pidgin-Englisch vermochten Friedel und Horst kaum zu folgen. Nur Brocken schnappten sie auf: »… Tuan nicht glauben, daß wir auch fortlaufen – German totmachen … Wir hier. Tuan viel Arbeit viel Reis. Wir viel Reis viel Arbeit … Dir nichts tun … Tuan gut, wir auch gut.« Dann trollten sie sich wieder, hatten noch eine erregte Auseinandersetzung mit dem Koch, der scheinbar mehr vom Durchbrennen hielt. Horst und Friedel stellten aber mit dem Dämmern fest, daß er noch da war und bereits schnarchte. Die beiden Buben bei sich zu haben, war Frau Herta angesichts des Aufstandes bei den Nachbarpflanzern immerhin eine Beruhigung.

Nun fühlten sich natürlich Horst und Friedel in ihrer Eigenschaft als Beschützer und suchten die Abenteuer-Schlappe wettzumachen durch Umsicht und Fürsorge, die den jungen Kerlchen nicht einmal fremd zu Gesicht stand. Für ihre Begriffe zu schnell brach der Aufstand zusammen; hatten sie doch eigentlich noch gar nichts in ihm erlebt, als Herr Stein bereits die Nachricht brachte bei seiner Rückkehr: nach scharfem Zufassen des Amtes auf den Pflanzungen Vaitele und Vailele um Apia hätten die Chinesen ihre Rädelsführer im Stich gelassen und sich wieder zur Arbeit gestellt; Blut sei zwar in Apia geflossen, und die Polizeitruppe noch immer auf der Suche nach zwei ins Innere geflohenen Führern des Aufstandes; im übrigen aber wäre die Sache erledigt. Praktisch. Ob auch politisch, sei eine Frage für sich. Denn die in Apia verhafteten Drahtzieher hätten nachweislich falsche Zöpfe gehabt und seien ebenso nachweislich echte Japaner, und zwar augenscheinlich in besonderer Sendung, gewesen.

Vater Stein schien froh, daß der Aufstand so schnell zusammengebrochen, und darum auch in der Stimmung, das Abenteuer der beiden »Friedhofswärter wider Willen«, wie er sie nannte, von humorvoller Seite zu betrachten, in einer »humorvollen« Art freilich, bei der Horst dennoch einen roten Kopf kriegte und Friedel dem Lächeln Frau Hertas verlegen auswich. Aber Vater Stein hatte auch ein Pflaster für diese Wunden: »Wißt ihr, Jungs, der ›Pinguin‹ kann eigentlich nun täglich kommen. Wir sollten die Zeit noch nutzen, einmal ganz ins Innere zu marschieren. Was meint ihr, wollt ihr morgen mit zum Tofua?« – Und ob sie wollten! Gerade auch noch zum Tofua! An dem Tulivaepupula den Hals brach, von Max und Moritz zur Strecke gebracht! Über der Geschichte des alten Va'oa wurden sie gleich wieder übermütig und ausgelassen. »Nu, Kinder,« meinte da Frau Herta, »wer wie ihr uns auskneift, um Friedhofswärter zu spielen in Nulopa, der sollte sich über Laupanini und Laupanana gar nicht groß lustig machen!« Sie aber gelobten verschmitzt: »Wir wollen gewiß unsern Pflegeeltern nicht mehr ausreißen, weder zu Wasser noch zu Land.«

Dieser scherzhafte Ton ging aber bald in der Spannung unter, mit der sie, um die abendliche Lampe geschart, Vater Steins näheren Berichten über die Vorgänge in Apia zuhörten und werkten, was er nicht betonte, daß auf seinen Rat hin in Apia die Maßnahmen des Gouverneurs rechtzeitig erfolgt waren und infolge ihrer Sachlichkeit zur schnellen Niederwerfung des Aufstandes geführt hatten. Er selbst war nach Festnahme der japanischen Agenten zu den Rebellen geritten, hatte sie nach Ausspielung des Gegensatzes Tokio-Peking überzeugt, daß sie nur japanische Kastanien hätten aus dem Feuer holen sollen, und kurzerhand gefordert: Sofortige Rückkehr zur Arbeit und Auslieferung ihrer Führer. Beides war erfolgt. Bis auf jene zwei lagen alle Führer des Aufstandes in Ketten.

»Was macht Egidy?« fragte Frau Herta. »Der hätte beinahe vor lauter Schimpfen vergessen, dich grüßen zulassen!« – »Was fehlt ihm denn?« – »Gute Luft. Er stöhnt über die ›gute Gesellschaft‹ und ihren Benimm. Immer das alte Lied.« – »Er hat's auch nicht leicht und steht doch so ziemlich allein.« – »Ich glaube, wir müssen ihn mal wieder herüberholen. Zur Luftveränderung«.«

Bei der Nennung des Namens Egidy waren Friedel und Horst wieder an ihr eigenes erstes Erlebnis in Apia erinnert worden, und sprachen nun davon. Der Name Larsen fiel. Frau Herta und Herr Stein wechselten einen verstehenden Blick. »Wir kennen ihn«, sagte er. »Aber ich gebe ihn nicht auf«, brach sich ihr mütterliches Vertrauen Bahn. »Jedenfalls«, fiel Reinhard Stein wieder ein, »beweist er gerade, wie verwandt Abenteuer und Abenteurer sind. Wer Abenteuer sucht, den halten sie meist zum Narren.«

Horst fühlte, daß er im Dunkeln sogar einen roten Kopf bekam. Doch merkte er sofort, daß Vater Stein nicht im entferntesten an sie beide gedacht mit ihrem Jungenstreich. Denn er fuhr fort:

»So ist diesem Larsen die Suche nach dem Abenteuer zur Sucht geworden, an die er sich verlor und zum Abenteurer ward. In jedem Abenteurer aber steckt ein Flüchtling vor Alltag und Arbeit. Und hier wird durch solche Menschen, wie gerade im Fall Larsen, der deutsche Name gebrandmarkt. Der Samoaner hat für Würde ein feines Gefühl und ein ebenso feines für Würdelosigkeit.«

»Aber wir Jungen träumen doch gern von Abenteuern!« wendete Horst ein in unwillkürlichem Bekenntnistrieb. Friedel sah ihn verschmitzt an und dachte an Nulopa.

»Das bleibt euer Vorrecht, Horst, solange ihr jung seid. Und was ihr Abenteuer nennt, ist einfach: Gelegenheit zur Tat. Sie liegt zwar auch für euch meist ganz nüchtern nah in vielgestalteter Form. Eure Phantasie aber und der Jugendrhythmus des Blutes träumen von ganz besonderer Tat, verbinden gern Abenteuer und Ferne. Du, Horst, hast vielleicht auch von samoanischen Abenteuern geträumt und keine erlebt. Hast du sie vermißt?«

»Ich vermisse sie nicht mehr«, gab Horst etwas kleinlaut zu.

»Das dankst du Friedels Vater. Sehr weise von ihm, daß er euch eine Aufgabe umriß. Sie erstickt, wie alle Arbeit, die Sucht nach dem Abenteuerlichen.

Aber gerade in der Arbeit werden einem oft Abenteuer geschenkt. So außergewöhnliche, wie dir, Friedel, neulich erst eins in den Schoß fiel. Du hast deine Entdeckung als Geschenk empfunden. Das ist die rechte Art, Abenteuer zu erfassen; und: sich der Lage gewachsen zu zeigen, ist die rechte Art, Abenteuer wirklich zu erleben. Aber nicht um an solch außerordentliche denke ich, sondern an Abenteuer in erster Linie, die man nur zu sehen braucht, damit sie da find. Sie warten ständig auf uns. Auch in der kleinsten Gelegenheit zu Freude, zu Leid, zur Liebe, das heißt aber, in der kleinsten Gelegenheit zu tätigem Leben.«

Vater Stein erhob sich.

»So ist's ja auch euch ergangen. Mit der Aufgabe vor euren Füßen verband sich der Zauber des Entdeckens, des Schauens, Beobachtens. Das war euer Abenteuer. So habt ihr gelernt, das große Rätsel der Lebensfreude anzufangen zu lösen. Ja – das ganze Leben ist Abenteuer in tieferem Sinn für den, der bewußt lebt, sich empfindungsfähig erhält für das Neue und den ungekannten Reiz jeder Stunde. Erobert mich, sagt jeder einzelne Tag. Wer aber das Abenteuer suchen geht außerhalb seiner Lebensaufgabe, in unwirklicher Ferne oder schmutziger Tiefe, der flieht vor der Tat, die jeder Alltag verlangt, während er sich vorlügt, er suche Gelegenheit zu Taten. Diese Gelegenheit gibt die Nähe zuerst. Und eure Nähe letzthin war das Riff. ›Abenteuer‹ habt ihr da im üblichen Sinn nicht erlebt, aber ein Lebensgesetz entdeckt – außer deinem Palolo«, lächelte er schalkhaft zu Friedel hin –, »das Lebensgesetz, daß man im Kleinsten einen Zauber entdecken kann, wenn man richtig sehen gelernt hat. Das macht das Leben zum Abenteuer, daß wir jeden Augenblick gewärtig sind, dem Reichtum Gottes in den Wundern der Welt zu begegnen; auch im Unscheinbaren.

›Tua-Tua‹ sagt der Samoaner. Das staunende Sehen! – Die Ehrfurcht vor dem Unendlichen, wollen wir mal gut deutsch sagen. Tua-Tua! Ehrfürchtig staunendes Sehen, Leben, Lieben. Überall und immer.

Stellt Gott uns vor das Kleine, so laßt uns das Kleine lieben. Schickt er uns das Große, so laßt uns sorgen, daß unsere Tat dem Großen gegenüber nicht klein sei.

Bannt er uns in enge Grenzen, so lehre uns die Beschränkung Meister werden; führt er uns in die Weite, so achtet darauf, daß wir ihrer wert sind. Sehende Augen! In Nähe und Ferne! Liebende Herzen für das Große und das Kleine. – Jugend, ihr, mit euren glückhungrigen Augen, lernt das Wunder sehen! Und den Meister spüren! Weh, wer in die Weite zog und fand ihn nicht. Je weiter euch Jugend der Weg hinausführt in die Welt, desto schwerer ist die Verantwortung, die ihr tragt, das auch zu finden, wozu ihr geführt wurdet …«

Leise griff Vater Stein in die Tasten des Instruments, an dem er bisher gelehnt. Da sprang die morgenfrisch jubelnde Weise in den Raum:

»Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
– – – – – – – – – – – – –
Dem will er seine Wunder weisen

»Laßt euch, Jungens,« schloß der Spielende, plötzlich abbrechend, in merkwürdigem Ergriffensein, als stiegen Bilder des Erinnerns in ihm auf, »laßt euch, Jungs, den Widerschein aller Wunder, die ihr saht und sehen werdet, zurückfallen und das größte Wunder hell beleuchten, das Leben eures Geistes in euch selbst. Die Burg zu Schutz und Trutz wird unerstürmbar in dem Vertrauen, das dieses Liedes Ausklang ist und jedes Lebens Hochklang sein kann:

›Der Erd' und Himmel will erhalten,
Hat auch mein' Sach' aufs best' bestellt!‹

Das ist ein Trotz, ein Glaube, ein Sieg!

Und glaubt mir's: wer sich gestellt weiß, der steht; wer trauen darf, trotzt; wer sich gesandt weiß, siegt. So sang ich als Bursch und so traue ich heut':

›Der die Sterne lenket am Himmelszelt,
Der ist's, der meine Fahne hält!‹

Lernt's singen, Jungen, lernt's leben

Sie schwiegen alle vor dem Feuer Reinhard Steins. Frau Herta aber trat still an seine Seite und schlang ihren Arm um ihn. Da ahnten die Jungen, wieviel gemeinsames Erleben der beiden sich hinter den Worten bergen mochte, sahen die beiden Lebenskameraden dunkel gegen den hellen Mondhimmel stehen, hörten in der Stille nur ihren Atem und die Brandung fern und fühlten plötzlich, wie ihnen das Herz klopfte im Erleben dieser Stunde.

*

Und dann ging's andern Tags durch den Urwald zum Tofua.

Nachdem sie das Zitterspiel von Sonne und Schatten in den Kokos-Pflanzungen des Hinterlandes von Mulifanua verlassen, den die Nord- und Südküste verbindenden Lauapi-Weg, der immer noch ein Stückchen blauen Himmel über sich trägt, gekreuzt, umfing sie das ewige Dämmer des Urwaldes.

Gerade wo angesichts des nahen Abschieds das Bewußtsein, zum letztenmal durch samoanischen Urwald zu schreiten, die Jungen wie etwas Körperliches begleitete, wurden ihre Augen doppelt sichtig und achtsam auf das geheimnisvolle Leben und Weben der nahen Umwelt, unter dem Urwalddunkel.

Je weiter sie vordrangen auf dem für ein ungeübtes Auge kaum erkennbaren Pfad, desto dichter schien das Unterholz zu werden; modernde Baumriesen legten sich oft querüber und wollten überklettert sein; rings rauschten und plauderten noch die Bächlein der Regenzeit. Hohe Wasserfälle sprühten über Felsen nieder, dumpf hob sich der Dunst faulender Pflanzen vom Boden. Auch wo keine Rinnsale rieselten, blieb der Wald laut; der stete Tropfenfall in seinem Innern pirschte auf Blätter und Geäst und ließ auch in der Tiefe, wohin kein Wind reicht, Bewegung entstehen; dort wippte ein Blatt, hier zitterte ein Zweig.

.

Rings aber war neben strotzendem Wachsen, lichthungrigem Aufstreben des Lebens das Heer seiner unsichtbaren Zerstörer am Werk; der Käfer, Milben, des niedersten Getiers, bis zur unscheinbarsten und doch mächtigsten Zerstörungskraft, dem Alter. Äste stürzten, rissen ganze Vorhänge von Rankenwerk und Lianen mit hernieder. Aber es blieb in der Tiefe um die Baumwurzeln, am Boden, alles nur ein verhaltenes Bewegtsein. Selbst ein Riese, den sie altersschwer zusammensinken sahen, tat es in müdem Sturz, ohne Leidenschaft und Größe, wie sie doch jeder Brandungswoge eignet am Saum des offenen Meeres. Hier in der Tiefe des Waldes blieb alles gedämpft, wie die Kraft, so das Licht. Nur hoch oben unter den Wipfeln liefen die Sonnenstrahlen wohl ein Stück am Stamm entlang, harfte der stete Passat, als ob eine leise Orgel spielte. Dumpfe Schwüle lastete über dem Boden und sorgte mit dem Tropfenfall dafür, daß die Wanderer sehr bald schon in Feuchtigkeit und Schweiß sich weiterarbeiten mußten; oft genug, daß das Buschmesser nicht zu entbehren war. Immerhin ließ Va'oas feiner Spürsinn sicher auf dem Pfad bleiben, wie der Hund auf der Fährte.

Ein so ganz anderes Samoa blieben doch diese Urwälder um die Berge des Inneren, so ganz anders als das helle, offene, heitere Antlitz des freien Strandes, der tiefatmenden Dünung unter strahlender Sonne da draußen, eines Bildes, in das hineingewebt die Töne der Tanzweisen aus den Dorfschaften erst den ganzen Zauber von Südseefarbe trugen.

Urwaldwandern ermüdet schnell. Auge und Ohr hatten zuviel zu beachten und wahrzunehmen, als daß der Mund zum Sprechen aufgelegt gewesen wäre. Unterdes begann der Boden immer mehr zu steigen, immer näher kamen sie dem Ziel: hoch über allem Düster aufragender Höhe der Basaltfelsen.

Gegen Abend brachte eine Begegnung mit einer Patrouille aus Apia Aufenthalt und Kenntnis davon, daß die Spuren der entflohenen Rädelsführer des Chinesenaufstandes über den Tofua wiesen. Auch Herr Stein teilte die Ansicht des führenden Unteroffiziers, daß die beiden wahrscheinlich durch Aana nach der Küste Lefanga zu entkommen suchen würden, wo immerhin Möglichkeiten bestehen mochten, auf Eingeborenenbooten um den Süden herum nach Tutuila und Pango-Pango zu verduften.

Für diesen Abend aber beschloß der Patrouillenführer, am Tofua zu übernachten.

Auch Va'oas Tagesziel war eine der im vulkanischen Gestein, aus dem der ganze Berg besteht, zahlreich vorhandenen Höhlen, alten Ausflußkanälen früherer Lavaströme vermutlich. Gerade dieser letzte Teil des Weges freilich ward das härteste Stück Arbeit. Vom Afolau herkommend, hatten sie längst den Fuß des Tofua erreicht, aber Va'oas Schlupf lag hoch droben, nah am Gipfel, und bot außer gewichtigen Vorzügen der Örtlichkeit auch den, daß man zeitig zum Sonnenaufgang auf dem Gipfel sein konnte. So bestand auch Vater Stein trotz der Müdigkeit der Jungen darauf, ihn zu erreichen, während die Patrouille weiter unten blieb und vorlieb nahm.

Durch Felsenschluchten kletterten die vier zur Höhe; gespenstisch angestrahlt von glimmendem Faulholz, das fahl durch schnell zunehmende Dunkelheit glomm. Umhuscht vom erwachten Getier des bei Tage Horst etwas wildarm vorgekommenen Waldes, fanden sie endlich zur bestimmten Höhe hin. Und wie schnell schlossen sich bald die müden Augen!

Als Va'oa am andern Morgen wieder erwachte, rieb er sich verwundert die Augen. Noch war es halb dunkel. Aber – Horst fehlte. Herr Stein und Friedel machten bei der Feststellung keine klügeren Gesichter als der Alte. Schon wollte Friedel zur Höhle hinaus und rufen, aber Va'oa fiel ihm in den Arm. »Nix rufen!« mahnte er, legte die Finger an die Lippen und wies auf eine Spur, die sein Auge eben gerade wahrgenommen, als Friedel aufsprang. Friedel sah sie auch und wußte sofort: das tat Horst! Er hatte mit ihm gestern von den eigentümlich gestalteten Sporen eines Bäumchens gesammelt, um sie Frau Hertas Vögeln mitzubringen, die sie so gern pickten; nun war der Beutel weg, aber eine feine Spur von solchen Sporen lief nach dem Innern der Höhle.

»Vorwärts!« befahl Herr Stein. Sie tasteten sich durch das Dunkel des Ganges und leuchteten ab und zu auf den Boden. Nichts mehr. »Ist auch nicht nötig. War er einmal hier drin, so konnte er nur gradeaus gehen.« Als eine Verzweigung des Ganges kam, wiesen wieder Farnsamen die Richtung. Die Höhle bog gänzlich um, so daß der neue Gang wieder zurückkam und nahe ihrem Lager hinter der Felsenwand vorbeiführen mußte. Nicht weit von dieser Stelle glommen Aschenreste. »Nanu?!« Va'oa untersuchte, hielt die Nase an dem Boden, fand einen kleinen Fetzen Tuch, schnüffelte daran und stellte fest: »Saini, alii!« – »Chinesen?« – Auf Herrn Steins Gesicht stand deutlich geschrieben, welche Überlegungen hinter seinen Augenbrauen sich blitzschnell drängten. »Vorwärts!« ermunterte er noch einmal, ernster, drängender … Der Gang stieg steil an. Mehrere Menschen mußten hier emporgeklettert sein, Friedel bangte um Horst. »Kopf hoch!« nickte ihm Herr Stein zu. Schon nach wenigen Schritten lagen wieder die Samen der Baumfarne: Horst war hinter den andern, ward dadurch erkennbar.

Das Dämmerlicht der Höhle war längst vollendetem Dunkel gewichen. Draußen aber mußte der Zeit nach schon die Sonne aufgestanden sein. Denn eine der nächsten Biegungen ließ volles Tageslicht um die schroffen Felskanten strömen. Vorsichtig schlichen die drei weiter.

Plötzlich stand Herr Stein wie gebannt und hielt die andern fest.

Offen lag der Blick in den ganzen Kraterkessel des Tofua. Bis fast zu ihnen empor hob sich der Urwald, der ihn wie ein Polster bedeckte. Drüben im Morgenlicht, gut hundert Meter über der Sohle, ragte schroff der Rand des Felsengrates, der den Kessel nach oben schließt und den sie auf bisher unbekanntem Höhlengang durchquert haben mußten an ihrer Stelle. Auch Va'oa fand sich sofort in die Lage des Ortes, dann sah auch er, was Herrn Stein bewogen, so jäh anzuhalten.

Unter einem Busch am Ausgang der Höhle lag Horst zwischen niederen Farnen und Mimosen.

Und winkte mit der Hand nach hinten ihnen zu: Nieder! … Nur Vater Stein fühlte weiter vor, leise, ohne Laut. Neben Horst angelangt, sah er den Blick senkrecht nach unten vor sich frei werden und erblickte unter sich die Köpfe zweier Chinesen, die scheinbar nicht wußten, wie sie von der erreichten Plattform, auf der sie zu stehen schienen, weiter hinab zur Sohle des Kessels gelangen sollten. Wenige Augenblicke später war Va'oa bereits lautlos auf dem Rückweg durch den Berg, um die Patrouille zu benachrichtigen, die kaum so früh würde aufgebrochen sein.

Friedel aber schob sich nun auch behend zu den beiden andern vor, äugte mit in die Tiefe und blickte in ungläubigem Staunen zu Horst hinüber. Der nickte: Da unten stand Koo und sein Landsmann mit der Schädelnarbe!

Matt klang von fernher ein Schuß, das Zeichen, daß Va'oa die Patrouille erreicht. Auch die Chinesen hatten ihn gehört, lachten höhnisch auf und versuchten wieder vorsichtig eine Möglichkeit zum Abstieg von ihrer Plattform zu entdecken. Ein Schuß Reinhard Steins über ihre Köpfe hinweg drückte sie schnell an die glatte Rückwand. Donnernd sprang das Echo im Kessel des Kraters auf.

Sobald die Chinesen wieder versuchten, an den Rand der Felsplatte vorzukommen, belehrte sie ein neuer Schuß, daß die unbekannten und noch mehr unvermuteten Verfolger sich nicht in ihrer Wachsamkeit täuschen ließen.

Die Zeit verging. Langsam, tropfenweis. Schon streiften die Strahlen der Sonne den jenseitigen Kraterrand und ließen seine matte Grasnarbe und die mageren Flechten auf den Basalten aufleuchten. Wie ein feiner Reif schimmernden Metalls lag der Glanz auf dem Grat zwischen Himmelsblau und Tiefenschatten. – Hinter den drei Beobachtern hielten schon eine Weile einige Mann der Patrouille mit Va'oa, aber sie blieben untätig, bis vom jenseitigen Rand ein Signalschuß fiel und ihre Kameraden drüben auftauchten, von wo sie die beiden Rädelsführer im Schach zu halten vermochten mit ihren Gewehren. Dann erst nahmen die mit Va'oa Gekommenen den Platz Reinhard Steins und der beiden Jungen ein und kletterten tiefer hinab, um die gesuchten Herrschaften aus dem Reich der Mitte dingfest zu machen.

Die vier Höhenwanderer fanden durch den Höhlengang zum Lagerplatz zurück und begannen den nun allerdings verspäteten Aufstieg zum Kraterrand. Inzwischen hatte Horst berichtet; wie er von einem Geräusch wach geworden sei, das nach seinem Ohr aus den Felsen zu kommen schien und ihn nach kurzem Überlegen in den Gang gelockt habe. Dort hätte er Rauch feststellen können, sei weiter, habe die beiden gehört, ihren Aufbruch beobachtet und dabei zunächst Koo erkannt. Darum sei er ihnen auf den Fersen geblieben, na, und alles andere wüßten sie ja ebensogut wie er. – »Aber warum bist du allein hinterher und hast nicht auch uns geweckt?« fragte Vater Stein in ehrlichem Zweifel. –

»Weil ich eine Scharte auszuwetzen hatte, und um zu zeigen, daß ich mir mehr zutraue, als ›Friedhofswärter‹ zu spielen.« Da lachte Herr Stein und gab ihm die Hand. – »Aber ein bißchen unüberlegt war auch dies Abenteuer, Horst. Wenn wir dich nun nicht fanden, aber die Kerle dich zu fassen kriegten?« Horst erinnerte an die Sporenspur und sagte nur schlicht, alles verneinend, zu Vater Stein: »Mein Vertrauen zu Ihnen hinter mir war größer als die Gefahr vor mir!« Der Blick aus seinen Jungenaugen, den Vater Stein dabei auffing, machte ihn tiefinnerlich froh.

Frisch kletterten sie die letzten Meter aufwärts und standen im wehenden Passat auf dem nur wenige Meter breiten Kraterrand.

Und schwiegen. Tiefatmend.

Das königliche Bild zu Füßen, im großen Bogen von West nach Ost sich dehnend, nahm ihnen jedes Wort.

Unendliche Fernen blau träumenden Meeres! Grünwaldige Inseln, ragend Savai; niedlich, ein dunkler Smaragd: Manono; und die Klippe in der Brandung: Nulopa. Dahinter der Gischtgürtel um Apolimas Felsen, wie eine schimmernde Halskrause. Scharf geschnitten, deutlich bis in die Einzelheiten lag das kleine Kratereiland, nach innen gewölbt wie die Fläche der Hand, in der nach ihm benannten Enge. Vor dieser Inselbrücke das grüne Meer der Wälder mit dem Afolau und dem Sameaberg, auslaufend in die lichtgrünen Farben der Pflanzungen Aanas zur Rechten und zur Linken, bis rings zum Strand … Und weiß und weithin klafternd rings des Saumriffs Brandung, schimmernd wie Geschmeide.

Jäh fühlte Horst seinen Arm umspannt von Friedels Griff und folgte des Freundes fernem, verlorenem Blick. Tief im Westen leuchtete aus dem Blau der Wogen ein weißer Streifen, dunkler eine Rauchfahne darüber. Noch sprach Friedel kein Wort, aber seine Nasenflügel bebten in zitternder Erwartung … Langsam kam der Dampfer auf. Herr Stein gab sein Glas an Friedel. »Du bist der Nächste dazu!« sagte er. Da wußten sie beide, die Buben: Dort kam der »Pinguin«!

Als er durch die Apolimastraße fuhr, war die Reichsflagge deutlich auszumachen, die Schiffsform unverkennbar. »Er ist's – er ist's!« jubelte Friedel, und verstummte doch jählings, als er Horst neben sich sagen hörte: »Das bedeutet – auch – Abschied!« – »Und noch ist Hartmut nicht da«, setzte er schmerzlich hinzu.

Und dieser Abschied ward kurz. »Pinguin« blieb kaum solange in Apia, als Herr Professor Körner Zeit brauchte, seinen Sohn und seinen Neffen von Haus Neuland herüberzuholen. Selbst in den wenigen Stunden, die er dort verbrachte, empfand auch er den Zauber dieser Menschen, die so ganz eins im Verstehen und Sich-Vertiefen dem Haus ihren Geist gegeben, und deren Leben so offen und unbestechlich den Siegeldruck ihrer Persönlichkeit verriet.

Haus Neuland tauchte zurück hinter die Palmen der Bucht, Frau Hertas Winken verwehte, Va'oas Lebewohl verklang »Tofa! … Tofa!«

Mit brennenden Augen schauten Horst und Friedel zum letztenmal vom Wege abseits Metanduas Grab, zum letztenmal blickten sie hin über Riff und Brandung, und saßen Hand in Hand … wortlos und schweigend.

Vater Stein ging noch mit an Bord. Dann trug eine Stunde vor Ankerlichten auch ihn das letzte Boot zur Landungsbrücke zurück. Winkend standen Horst und Friedel an der Reeling, als klak–klak–klak die Ketten durch die Klüsen zu laufen begannen und der Anker sich hob aus dem Grund des Hafens von Apia. »Tofa, Samoa!«

Rückwärts ging »Pinguin« durch die Fahrrinne, drehte vor Matautu und steuerte zwischen den Riffen hindurch.

Als die Freunde, die bisher immer nur hafenwärts geblickt und zum fernen Tofua über dem niedrigen Strand von Mulinuu, plötzlich einen Reichspostdampfer dem Kurs des »Pinguin« entgegen von draußen kommen sahen. Schon wären die Schiffe einander so nah, daß sich die Personen unterscheiden ließen, die am Bordgeländer standen und winkten, wie es immer Passagiere tun, die einander begegnen.

Da drang ein heller Ruf von drüben her.

»Hartmut!« klang Friedels Antwort hinüber.

Auch Horst sah ihn gleich. Allein stand er. Am weitesten vorn am Bug und winkte. Horst nahm das Glas und sah des vielgenannten Fernen Gesicht nun nah und fand im Sohn den Vater, den sein Herz gelernt zu lieben.

Und als er so schaute und prüfte zwischen Rufen und Winken, den Vater im Sohn, klang in ihm irgendwoher ein Singen, aus jener Stunde tiefsten Erkennens wiedergeboren:

»Der die Sterne lenket am Himmelszelt,
Der ist's, der unsre Fahne hält.« – –

Dampfer rauschte an Dampfer vorüber. Flatternd verflog der letzte Gruß, verhallend starb der letzte Ruf. –


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