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Wochen in Freiheit und freier Arbeit vergingen wie im Fluge unter Schauen, Sammeln, Zeichnen, Loten. Reinhard Stein war überrascht, welche Tatkraft in den zwei jungen Kerlen steckte, nun jeder einmal sein besonderes Ziel erkannt. Er half mit seinem reichen Wissen und ließ sie Zusammenhänge finden, Ähnlichkeiten entdecken, daß ihnen die Arbeit immer lockender erschien. An den Tagen, an denen das Niedrigwasser der Zeit nach ungünstig lag, begleiteten die beiden Vater Stein des öfteren auf die Pflanzung hinaus.
Breite, von lichtem Grün überwucherte Wege führten durch die der Küste am nächsten liegenden älteren Kokospflanzungen. Schon Herrn Steins Vorgänger hatte sie angelegt. Hinter ihnen begann das, wenn auch immerhin schon fast zwei Jahrzehnte in Kultur befindliche, Neuland. Reinhard Stein hatte als einer der ersten für Samoa praktisch erprobt, in welchem Maße sich der Anbau von Kakao lohne, und war noch dabei, in immer neuen, ausgedehnteren Versuchen zu beweisen, wie besonders kulturwürdig eine von ihm zuerst gebaute Kreuzung zweier bestimmter Kakaosorten sei; zumal wenn sie im samoanischen Klima mit Kokos gemischt gepflanzt wurde.
Gerade in diesen Wochen war für den Pflanzer besonders reiche Arbeit. Die Kakaoschößlinge, vor der Regenzeit gesteckt, mußten beschnitten werden. Nur die geübte Hand des europäischen Pflanzers selbst kann diese Arbeit tun. Geschick und Können der chinesischen Arbeiter reichen im wesentlichen nur für die Rodung der Neupflanzungen, ihre Freihaltung von Unkraut und das Ernten aus. Auch Reinhard Stein hatte chinesische Arbeiter in seinem Dienste. Zwar nur wenige im Verhältnis. Aber sie genügten eben bei eigenem unermüdlichem Mitanfassen. Horst, obwohl für ihn wie Friedel das alles gleicherweise gänzliches Neuland bedeutete, hatte mit dem praktischen Sinn des Kaufmannssohnes sehr bald heraus, daß das Geheimnis des Fleißes der Chinesen Reinhard Steins wesentlich aus dieser unermüdlichen Mittätigkeit ihres Herrn zu erklären war. Reinhard Stein verlangte viel von seinen Arbeitern, bewies ihnen aber zugleich, daß er ebensoviel von sich selbst verlange. Auch behandelte er seine Kulis mit einer unbeirrbaren Gerechtigkeit. Und die Jungen waren mehr als einmal Zeugen davon, daß sein Verhalten auch zu diesen Kulis ihm eine soziale Menschenpflicht bedeutete, deren er sich stets bewußt blieb. Daß er damit im Gegensatz zu anderen Pflanzern, für die Chinesen und Melanesiern gegenüber lediglich die größtmögliche Ausnutzung als ständig zu bewegende Frage galt – auf dem richtigen Wege war, bewies die Tatsache, auf die schon Herr Krüger einmal aufmerksam gemacht hatte: daß es von allen Pflanzern nur Herrn Stein möglich sei, zu Zeiten besonderen Arbeitshochdrucks auch eine Anzahl eingeborener Samoaner aus den umliegenden Dorfschaften zu gewinnen. Nur zu ihm gingen sie. Zu niemandem sonst.
Kein Wunder natürlich, daß auf den Wegen durch die Plantagen, die bis zum Samoa-Vorwerk hin reichten, auch zwischen Reinhard Stein und seinen jungen Gästen manches Wort fiel über die Eingeborenen der Nachbardörfer, ihre Sitten und Gebräuche, auch über ihre Geschichte. Reinhard Stein kannte das braune Völkchen Samoas, dessen Lebensweise, Herkommen und Künste für Horst und Friedel noch ahnungsreiches Neuland ethnographischer Art waren. »Schade, daß ich mein Motorboot noch nicht habe,« bedauerte gelegentlich Vater Stein, »es wird erst mit Hartmut etwa ankommen, sonst führe ich einmal mit euch rund um die Insel und nach Savai hinüber, wo neulich wieder der eine Vulkan gespuckt hat; aber sobald der regelmäßige Passat weht und der Urwald etwas wegsamer geworden ist nach Aufhören der Regenzeit, wandre ich mal mit euch in die Berge.« – »Und Apolima?« fragte Horst mit sehnsüchtigem Unterton. »Das ist nicht so einfach, in die enge Felseneinfahrt des alten Kraters findet kein Europäer hinein, selbst Va'oa würde sich wohl etwas hinterm Ohr kratzen. Doch wollen wir's im Auge behalten; der ›Handteller‹ ist ein Fleckchen besonderer Eigenart.«
Das Fleckchen besonderster Eigenart aber blieb für Friedel und Horst doch – Haus Neuland
Kaum ein paar Steinwürfe weit lag es von der Bucht ab, die im Munde der Eingeborenen Mua'ava hieß, »Riffeinlaß«, nach der Lücke im Riss, durch die Ebbe und Flut die Lagune zwischen Riss und Strand füllten und leerten.
Unter hohen schlanken Palmen stand Hartmut Steins Vaterhaus. Ein Holzhaus wie fast alle Pflanzerhäuser drunten, mit einem hellen Wellblechdach und rings herumlaufender, nur wenig über dem Boden erhöhter Veranda. Etwas abseits das Kochhaus, nach Tropensitte getrennt von den Wohnräumen. Eine Lichtung dazwischen; halbschattig am Rand der windbewegten Palmen, der größere Teil in voller Sonne und der Farbenpracht samoanischer Blütensträucher liegend. Lattenzaun und Gattertüre umfriedeten Haus und Lichtung gegen das lichte Dämmer unter den Palmen der beginnenden Pflanzung Lautlos stand die Stille zwischen den Stämmen und über dem Strand zur Zeit der Ebbe. Nur hin und wieder ein Aufrauschen ferner Brandung, wenn der oft schnell wechselnde Wind einmal umsprang. Auf dem Teppich der Bärlappe und niedrigen Mimosen spielten ewig unruhvoll die zittrigen Schatten der feinwedeligen Palmkronen. Im Sonnenglast zwitscherten elfengleich die bunten Honigsauger über leuchtenden Blütenkelchen. Über die Lichtung herüber um Haus Neuland herum aber sang und piepste noch eine ganze Gesellschaft von kleinem Gefieder.
Horst und Friedel hatten sich sehr bald dabei ertappt und gestanden, daß sie sich nirgends so wohl fühlten wie dort. Aber nicht der lauschige Zauber der Umgebung, nicht die nahe stille Bucht mit den hochbeinig hockenden fischenden Reihern, nicht die einfach, aber behaglich ausgestatteten Bäume des Hauses selbst begründeten den Zauber dieses Fleckchens Erde für sie, sondern der Geist, der in Haus Neuland lebte: die beiden Menschen, Hartmuts Eltern, übten den Zauber aus. Dabei zog Horst mehr das Mannestum Reinhard Steins an, während Friedel, der Mutterlose, sich zu Frau Hertas stiller Mütterlichkeit hingezogen fühlte. Kein Wunder, daß es ihnen wie ein großes Glück in den Schoß fiel, als schon bald nach Beginn ihrer Rissstudien Frau Herta ihnen den Vorschlag gemacht hatte, doch ganz zu ihnen nach Haus Neuland überzusiedeln. Gründe hatte sie keine ins Feld zu führen brauchen, als sie das frohe Aufleuchten in den Augen beider Jungen gesehen.
Seitdem bildete Haus Neuland eine Hausgemeinschaft zu vieren, denn Tuanli, der chinesische Koch, führte sein Eigenleben, und Va'oa wohnte bei seiner Tochter in Fualalo, dessen erste Hütten bis nahe an Haus Neuland heranreichten. Es war deutlich, daß Frau Herta eine Aufgabe darin sah, sich der beiden Jungen anzunehmen und sie auch hier draußen in der Ferne von Vaterhaus und Vaterland fürsorgende Liebe fühlen zu lassen. Ihr ward reich gelohnt. Denn die Vettern gingen ihr nicht nur zur Hand, wo sie konnten, sondern wuchsen ihr so nah ans Herz, daß sie die letzten Monate der jahrelangen Trennung von ihren eigenen Söhnen in doppelter Vorfreude durchlebte.
Frau Herta war eine seltene Frau. Schon ihr Äußeres trennte sie von den meisten der in der Südsee lebenden Europäerinnen. Waren diese gelblich bleich, müde und anfällig selbst im gesunden Klima Upolus, Frau Herta blühte wie ein blondes deutsches Märchen und strömte eine Herzensfrische und Reinheit aus, die Haus Neuland seinen heimlichen Adel gab.
Doppelt stark hob sich von ihrem lichten Wesen Reinhard Steins herbe Männlichkeit ab; beherrscht und beherrschend zugleich. Wie oft kam Horst nicht los vom unbeobachteten Betrachten der klaren Züge dieses Mannes: hoch die Stirn und frei über den buschigen Brauen und der scharfkantigen Nase; hager die Wangen, gespannt über den Knochen liegend; klein der feingeschnittene Mund, unverdeckt vom blonden Bart, den er um das Willensstärke Kinn kurzgestutzt trug. Und im satten Braun der Gesichtsfarbe die Hellen grauen Sterne der Augen mit einem deutlichen Zug von Güte und Zartheit in den Lidwinkeln.
Dieser beiden Menschen Kameradschaft und Liebe in der rücksichtsvollen Zartheit ihres gegenseitigen Verstehens und freudigen Anteilschenkens den Jungen gegenüber muteten nicht nur den mutterlosen Friedel, sondern auch den im raschlebenden, von vielem Betrieb oberflächlichen Geschäftshaus ausgewachsenen Horst wie seelisches Neuland an. Geistigstes. Neuland um so mehr, je mehr sich ihnen von Reinhard Steins Wesen und Wert enthüllte.
Er war keineswegs nur der Mann der rücksichtslosen Tat, des harten Dreinfahrens, wie ihn Baumann und Krüger geschildert, sondern zugleich ein Mensch tiefer Innerlichkeit, der nach den Wurzeln der Kraft suchte für den Aufstieg seines Vaterlandes, den inneren Adel seines Volkes und das glücktiefe Gleichgewicht seines eigenen heißen Herzens. Jahrelang hatte er nach seinem Abschied daheim noch im Kampf gestanden gegen die oberflächliche Kultur, die materialistische Lebenswertung der gebildeten Kreise, gegen die faden Sitten der Gesellschaft, gegen den Mangel an Gemeinsamkeitsgefühl mit den ringenden Schichten des Volkes bei jenen »Gebildeten«. Bis er diesen damals aussichtslosen Kampf eingetauscht gegen das Neuland Samoas.
Und doch spürte Horst, wie Reinhard Stein trotz aller Mühe und Sorge um die Pflanzung doch immer noch das Leben der deutschen Ferne wie von einer Warte verfolgte in allen seinen aufwärts und abwärts weisenden Entwicklungslinien. Solch ein Mann war für Horst allerdings selbst Neuland; für ihn, in dessen Umgebung die Fragen und Hochziele, die Reinhard Stein bewegten und beherrschten, kaum je gestreift worden waren. Und doch kam es oft vor, daß Horst dasaß und sich dabei ertappte, gar nicht mehr zuzuhören, weil er mit träumenden Gedanken einem fernen Klang nachlief, der ihn aus irgendwelchen Gedanken angeweht hatte wie ein Lied, nach dem er eigentlich selbst schon lange gesucht. Horst fühlte seines Herzens Tiefstes wach werden unter dem Geist von Haus Neuland.
Auch Herr Stein andererseits freute sich von Tag zu Tag mehr der beiden blankäugigen Gäste, die ins Stübchen seiner Söhne eingezogen waren, denn er durste nun diesen Fremden gegenüber das sein, was sein Herz seinem Hartmut seit dessen dreijährigem Fernsein vergebens zu sein ersehnte: ein Führer!
Unter Reinhard Steins Führung reisten die Gedanken in die Weiten und schürften in Tiefen, wenn die vier des Abends im Schein der Lampe traulich beieinander saßen und draußen – wie oft! – der Regen in Strömen goß oder durch stille Nacht die Brandung sang, indes Leuchtkäfer wie Sternschnuppen vor der Moskitogaze des Fensters vorüberzogen auf ihrem Flug. Und wie oft nicht klang zwischendurch, von Vater Stein auf dem Klavier begleitet, ein Lied hinaus in die Tropennacht, in dem deutscher Seele Sehnen lag, dessen Töne aus Herzenstiefen kamen und Menschen grüßten in deutscher Ferne oder auf dem »Pinguin«, der bald den Kurs südwärts auf Samoa lenken mußte.
Zumeist steckten die Jungen selbst voller Fragen, die des Tages Erlebnisse auftauchen ließen in den Köpfen, Fragen, auf die auch Vater Stein manchmal antworten mußte: »Man weiß es noch nicht!« – Birgt doch die Südsee eine Inselwelt, über deren Entstehen Dunkel liegt, deren Völker und Kulturen oft Rätsel an Rätsel stehen lassen, auch für den mit ihnen Vertrauten. Auch hier noch Neuland, unbekanntes, unerforschtes, oft noch unerforschbares. Ob die Korallenriffe wirklich erst durch Senkung des Landes ermöglicht werden? Man weiß es nicht. Die Saumriffe Upolus sprechen dagegen. Müßte doch merkwürdig sein, wenn alle die tausend Inseln weiter östlich im Pazifik, die jetzt aus Korallenfelsen bestehen, genau in demselben Zeitmaß uranfänglich gesunken wären, in dem die Korallen emporzuwachsen vermögen. Sicherer als alle Hypothesen ist auch da das: Man weiß es noch nicht. Nicht wenige Inseln sind trotz ihrer Einzeichnung in unsere Atlanten so gut wie unerforschtes Land, ganz sicher in ihrem Innern; ebenso sind doch auch schon geringere Tiefen der See vorerst noch ungeschaute Reiche. Wer weiß, ob wirklich keine Korallen in mehr als achtzig Meter Tiefe leben können? Die Funde der »Valdivia«-Expedition bei den Kerguelen sind nach dieser Seite hin längst nicht genug beachtet worden. Jede neue Arbeit kann Rätsellösungen bringen, die gestern noch verlacht würden, weil die Scheuklappen der bisher herrschenden Theorie noch zu fest saßen. Nur wer unvoreingenommen beobachtet, ehe er urteilt, nur der forscht in Wahrheit. Aber gewöhnlich steht bei den Menschen das Urteil fest, ehe zu Ende beobachtet ist; wie oft wird in den Tag hinein geredet und gelehrt und geschrieben, ohne daß die Sache geschaut, beobachtet ist von allen zugänglichen Seiten her. Das erste ist immer das Sehen.
Wer da zum Beispiel immer wieder in der Welt erzählt, unsere »Samoaner« seien die liebenswürdigsten, ja liebenswertesten Menschen der Südsee, der hat auch beobachtet, sich gefreut an ihren Tänzen, Verkehrsformen, Gastsitten, ihrer Behendigkeit, ihrem Körperbau, ihrer Mattenkunst; der hat vieles richtig beobachtet, aber er hat nicht alles beobachtet! Vielleicht sogar vieles nicht. Dies aber jedenfalls nicht: daß die Samoaner verurteilt sind, als Volk nie mehr aufwärts zu steigen, also: ohne Zukunft zu sein, weil sie – nicht zu arbeiten verstehen. Chinesen und Melanesier bearbeiten die Plantagen Samoas. Die Samoaner in den Dörfern daneben tanzen und – essen. Ganze Dorfschaften geben sich Gastgelage und essen sich gegenseitig kahl wie Heuschrecken. Und die Aufgabe ist noch kaum überhaupt erkannt: dieses hochstehende Völklein der Südsee, das sie sicher darstellen, zu erziehen zur Arbeit
Nur das Volk bleibt gesund, das innerlich frei bleibt.
Ein Weg dazu ist Arbeit und Kampf; ein Weg.
Aber die innere Unabhängigkeit ist die Vorbedingung des Aufstiegs.
Auch für unser fernes Vaterland. Arbeiten hat es gelernt, ist Meister darin. Auch im Kampf würde es Meister sein. Aber ob wir Deutschen als Einzelne nicht nur, sondern als Volk innerlich frei sind? … Man kann zweifeln, wenn man die Ketten sieht, mit denen der deutsche Mensch sich bindet; sich schnell fesselt, zumal wenn er die Nase in die Welt steckt. Die Tropen sind's nicht, die die Seele zerfressen, sie offenbaren nur die Unfreiheit der Charaktere.
Innere Freiheit wächst nicht auf dem Boden des Dünkels, auch nicht des wissenschaftlichen.
Freiheit und Seele leben nur im gleichen Rhythmus mit dem Atem des Weltalls, lieben das Leben, fürchten die Schuld, dienen dem Licht, ringen um die Beherrschung des Unerforschten und ehren vertrauend den Unerforschbaren.
Und ihr beide, die ihr wie Hartmut noch ringende, werdende Jugend seid – wachst! werdet!
Aber steckt euch die Ziele hoch!
Werdet Männer der Freiheit!
Liebt das Land, das euch gebar, liebt das Volk, mit dem ihr schicksalhaft verkettet seid!
Liebt wirklich, ganz, daß euch der Tag nicht schwach finde, der vielleicht von euch fordert: Treue bis in den Tod!
Wer liebt, der liebe ganz! Ich sage es euch noch einmal. Denn es könnte auch ein Tag komme«, der verlangt, daß man die Not teilt mit seinem Volk, sein reiches Leben opfert, um die Armut des Lebens mit seinem Volk zu durchleben.
Wenn wir längst dahin find, werdet ihr noch atmen. Durch euch erfüllt sich Deutschlands Sendung oder es zerbricht in selbstgewirkter Fessel.
Ihr drum: lernt frei sein, damit ihr befreien könnt! Befreien – die deutsche Seele! Stürzt die Götzen! Zuerst einst in euch! Denn die Götzen, an die ihr euch verlöret, würden die deutsche Seele entmannen. Stürzt die Götzen: Geld und Gier! Jungens, werdet mir frei!«
Wie ein Strom war es plötzlich aus dem ernsten Mann hervorgebrochen, fortreißend … aufzuckend wie eine Flamme …
Lange lagen Friedel und Horst an jenem Abend, lauschten stumm dem Raunen der Nacht, und konnten den Schlaf nicht greifen. Friedel ward der Bilder nicht Herr, die immer von neuem vor seinen Augen aufstiegen und im Dunkel lebendig wurden. Die ungezählten Beobachtungen Lebens, die sein fein empfindendes Jungengemüt schon so oft gemacht, unbewußt, daheim … drängten, wachgerufen jetzt aus dem Unterbewußtsein zurück und offenbarten ihm Menschen ohne Seele, Menschen in Fesseln, Menschen ohne Selbstachtung, Menschen, junge Menschen deutsche Menschen, die ihrer Unfreiheit lachten, sich ihrer Ketten rühmen und Friedel schaute, schaute andere, die an ihren Ketten rissen, aufwärts wollten und doch wieder sanken, die aus Tiefen herauf schrien, die sie sonst vor jedermann verbargen und sah sich selbst unter diesen Kämpfern um die Freiheit der Seele, die Reinheit des Herzens. Und schauerte im Dunkeln, so brannte sein Herz in geheiligter Glut trotzigen Wollens.
Horst aber lag mit großen Augen, empfand nichts davon, daß es Nacht um ihn war, sah nur des einen Mannes scharfgeschnittene Züge, sah aus den grauen Sternen seiner Augen die eine große Liebe sprühen: Deutschland! Und fühlte heiße Wellen des Glücks über sich hingehen im plötzlichen Wissen: Wie du doch reich bist, Vaterland, wenn fern in Weltenweiten dir die Herze« solcher Männer schlagen!
Immer und immer wieder gedachte er der Worte Reinhard Steins, die von alltäglichen Fragen so unbemerkt und ungezwungen ins Tiefste der Seele hinüberglitten, und fühlte, wie etwas in ihm erwachte, das neu war und größer als seine Jugend … Ein Zukünftiges, keimhaft noch … gebunden an das Bild des Mannes Reinhard Stein. Mit der Seele erfühlt, wurde ihm tief innen offenbar, wie hinter den Worten, die Reinhard Stein herausgehoben aus der Tiefe seines glühenden Herzens, sich Kampf und Ringen, geballter Wille und männlichste Beherrschung eines ganzen Lebens aufreckten, Neuland persönlicher Zukunft für ihn, den Jungen.
Und Horst spürte mit dem ganzen jähen Fühlen seiner Jugend, wie sehr er diesen Mann liebte.