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Geheimnis

Als der »Pinguin« die Laguneninsel Narurotu mit dem geheimnisvollen Grab des unbekannten Namenlosen verlassen und, sein vorerst unentzifferbares Erbe mit sich führend, südostwärts dampfte, hatte die Expedition nur noch zwei eigentliche Aufgaben vor sich. Sie erforderten, daß das Forschungsschiff die Insel Rapa-iti und schließlich noch die Osterinsel anlaufe, da in beider Nähe gewisse Lotungen und Messungen auszuführen waren.

Rapa-iti, ebenfalls zur Tubuai-Gruppe gehörend, lag nicht sehr weit entfernt. So kam es, daß auf dem Weg dorthin nicht viel Zeit blieb, sich gründlich an die Entzifferung der entdeckten Handschrift zu machen. Aber Worte und Gedanken kreisten sehr wohl, namentlich bei Friedel und Horst, ausgiebig um dies Geheimnis. Bei der Mannschaft des »Pinguin« aber hatten die Vorgänge auf der Insel geradezu die Schleusen geöffnet für die Wiedergabe aller erlebten und erfundenen Abenteuergeschichten, die je in der Südsee gespielt. Zumal Pidder Karsten war dabei im richtigen Fahrwasser und spann des Abends vor dem Mast sein Garn, daß zartbesaitete Nerven hätte ein Gruseln ankommen können. Solche hatten aber weder Friedel noch Horst in dieser Beziehung; im Gegenteil, sie lauschten dem Alten gern, und wenn es noch so toll mit ihm durchging. Auch konnten eigentlich nur unverbesserlich eingepökelte Landratten auf den Verdacht kommen, Pidder gehe leichtsinnig mit der Wahrheit um. Männer, die einmal die Nase auf See gesteckt haben, wissen, daß solch alte Geschichten von Schiffbrüchigen, die in den Qualen und Delirien von Hunger und Durst einen ihrer Gefährten töteten und verzehrten, nicht ohne weiteres ins Reich der Fabel zu verweisen sind. Keiner so gut wie der Seemann von einst weiß, daß der Satz wahr ist, daß das Leben oft bunter sei als alle Phantasie. Bunter, grausamer und schöner als alle Phantasie. Warum sollte es also nicht wahr sein, was Pidder Karsten wußte: so manches Südseeschicksal – von Freibeutern zwischen den Inseln gekaperten Seglern – von strafweise oder mutwillig an Land zurückgelassenen Matrosen – von Schiffbrüchigen zwischen den Atollen und Riffen, die erst Opfer des Sturmes und zuletzt Opfer der Kanaken geworden, die sich an jedem Wrack und seiner Ladung mehr und müheloser zu bereichern vermochten, als durch jahrelanges Handeltreiben mit Kokosnüssen und Früchten. »Einst … freilich, einst! Denn heute ist sowas alles natürlich nicht mehr möglich. Auf diesen ollen Dampfers gibt's ja gar nichts mehr zu erleben!«

»Na, Pidder, nu stopp aber man fix!« segelte ihm ein junger Matrose dwars in die Rede hinein, »ich könnte dich vertellen, von mein eignen Swager, der wo Zweiter war auf'n ganz nagen Tramp …« – »Jung, du büst woll unklauk,« blieb ihm der Alte nichts schuldig, »det vertell du dien Swiegermutter; ich kann doch nich hier anwachsen, bis du mit dein Garn tau Ende kommst. Din Swiegermutter werd dortau eher dat Sitzfleisch hebben.« Damit lavierte er so sachte an dem Sprecher vorbei, um sich zu drücken. Denn wenn er nicht allein das Wort haben konnte, machte ihm die ganze Sache keinen Spaß. Aber von der Luke her rief er doch noch einmal rückwärts: »Abberst dat, Maaten, segg ich ju: freut ju man, dat wi die twei smarten Bengels in Apia an Bord hievten; sonst wär' dat alles nu grad wieder so flautig worden, wie vorher den ganzen Törn. Wo die Bengels sün, da brist es auf. Dat segg ich, Pidder Karsten. Nu slöpt ju gut!«

Dieser Trumpf, den er seit Tagen öfter ausgespielt, bewies zur Genüge, daß der Alte an Horst und Friedel einen Narren gefressen hatte. Er hat auch noch mehr als einmal die gewagtesten Versuche gemacht, die beiden ein bißchen »aufzutakeln und ihnen allerhand zu klarieren«, daß da »man Menschen« draus würden und nicht so »olle neumodische Klugsnakers«. Bei Horst hatte er schon Verdacht in der Richtung gehabt von wegen dessen Tauchbootplänen für Tiefseeforschung.

Am andern Morgen kam Rapa-iti in Sicht. Die beiden Lieblinge Pidder Karstens fühlten sich neu auf eine Frage hingestoßen, die sie schon in Haus Neuland an den Abenden bei Vater Stein berührt. Kannten sie damals auch erst einen Teil von Upolu, nun hatten sie doch Mangaia durchstreift, Narurotu umwandert. Welche Verschiedenheit schon bei diesen dreien in Bau und Charakter! Die hohen Bergketten Upolus und der flache Strand Narurotus, mit seinen auf dem fast kreisrunden Atoll angeschwemmten Inselchen grade noch die Flut überragend. Dort in Samoa die Urwälder voller Formenfülle. Hier die spärlichen Inselgestrüppe um die Lagune herum. Und dazwischen die nackten, Vulkanisch hochgetürmten Korallenfelsen von Mangaia.

Und nun am Horizont im Süden ein ragender Pik neben dem andern! Hochgetürmt stiegen sie aus dem Meer, als wär's ein Zauberschloß, Von weitem anzusehen. Wie ein erhobener Arm stemmt der Kaikura seine schroffen Zacken ins Blaue. Hinter seltsamsten Formen wahrlich Verbarg sich das Geheimnis der Inselentstehung der Südsee, ihre Urgeschichte.

Als »Pinguin« um die schroffen Vorgebirge herum die Ostseite der Insel gewann, standen die Freunde dicht vor einem weiteren, ebenso rätselreichen Geheimnis: der Frage nach der Besiedelung der Südsee und ihrer Geschichte. Noch wußten sie es nicht.

Erst ganz nah am Ufer kränzte ein schmales Riff den Inselsaum, bildete aber zahlreiche Durchlässe zu den tiefeingeschnittenen Buchten. In der Ahurai-Bai fiel der Anker. Es war ein schlankes braunes Völkchen, das die Insel bewohnte. Horst und Friedel fanden der Sprachverwandtschaften mit Muro'oas Idiom so viele, daß die Verständigung kaum mehr Schwierigkeiten machte als in Mangaia, zumal auch hier die Eingeborenen allerhand gebräuchliche Ausdrücke des Pidschin-Englisch aufgeschnappt hatten, was nicht wundernimmt, wenn man bedenkt, wie mancher Walfischfänger die Insel, um die herum gute Spermgründe liegen, anlaufen mag. Fand sich doch sogar eine Bootswerft in Ahurai, so eingehend hatten die Eingeborenen den Bau der Walboote bereits den Walfischfängern abgelernt.

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Nichts lockte natürlich die beiden Vettern so sehr, als die eigenartigen Berge. Vater Körner hatte ihnen die Erlaubnis gegeben, allein gehen zu dürfen, wenn sie einen eingeborenen Führer bekämen. Denn er sowohl wie Dr. Hell waren über Tag an Bord des Forschungsschiffes nötig. Als sie, zu einer der Hütten gewiesen, nach einem Führer fragten, erbot sich ein sehniger, geschmeidiger junger Insulaner, kaum viel älter als sie, ganz bereitwillig zum Dienst, bat nur, zu warten, bis er auf der Werst Bescheid gesagt habe, wohin er gehe. Sie wunderten sich dieser erzieherischen Selbstverpflichtung und ließen sich in der Nähe des Hauses nieder. Da konnten sie einem Mann zusehen, der dem so kunstvollen als anstrengenden Beruf eines Tätowierers oblag. Wohl waren ihnen schon in Samoa oftmals die über und über mit Linien und Mustern verzierten Oberschenkel- und Rückenmuskeln mancher vornehmen Häuptlinge aufgefallen. Sie hatten auch von Vater Stein gehört, wie man diese Figuren ins Fleisch hineinbeize. Hier aber konnten sie zum erstenmal zusehen. Ein gespitztes Stäbchen Hartholz trieb der Tätowierer dem vor ihm Liegenden unter die Haut und, wie sie wohl merkten, oft zugleich tief ins Fleisch, mit einem Hämmerchen meißelnd wie ein Bildhauer, Punkt neben Punkt, Punkte zu Strichen dehnend, Striche zu Bändern und Figuren. Dann rieb er die Farbe in die entstandenen kleinen Wunden, wo sie mit der sich neu schließenden Haut unzerstörbar verwachsen soll.

Inzwischen wartete der junge Führer nun beinahe auf sie. »Denn mal los!« kommandierte Horst, »hinauf, so hoch es geht.« – Rüstig stiegen sie durch dunkle Schluchten bergan. Wasserfälle rauschten über Grate und sanken in Gründe. Hei, wie solch Bad in sprudelndem Bergwasser stärkte! Und welche Lust, auf der durch jahrhundertelange Arbeit des Wassers glattgescheuerten Rinne zwischen den Felsen zu Tal zu gleiten! Sich mittragen zu lassen vom Bogen des Falls, bis die Wasser des Tümpels darunter hochspritzend über einem zusammenschlugen! Aber Hunger gab's. Freilich auch Gegenmittel. Smutje hatte für derlei Fälle vorgesorgt.

Und weiter ging-s hinauf. Längst blieb das fruchtbare Tal Tubuai hinter ihnen. Die Höhen grüßten. Bewundernd schauten die Wanderer die harte Schönheit, die wilden Bergformen, und labten sich am Reichtum aller Mannigfaltigkeit von Felsen, Schatten und Fernblicken, erst gar, als von den Höhen die Sicht frei ward auf den gewundenen und versteckten Lauf der Ahuraibucht, die von der Ostseite der Insel bis über die Mitte tief eingeschnitten wie ein Fjord vorspringt, mit dem »Pinguin«, der von hier oben mit seinen schmucken weißen Planken wie ein winziges Spielzeug ausschaute und am Eingang der Bucht seine Messungen bereits begonnen hatte. Er dampfte langsam nach See zu.

Der Weg ward immer steiler, immer ragender die Felsenwildnis ringsum. Wie Türme und Zinnen, wie ganze Schlösser sahen die Kuppen und Grate von weitem aus, bis die Nähe ihre Form auflöste in die zerrissene und gezackte Gestalt des harten Eruptivgesteins, aus dem die ganze Insel zu bestehen schien. Der Gipfel, selten gesehen und betreten vom Fuß eines Abendländers, barg ein steinernes Rätsel. Große, scharfkantige Blöcke waren im Geviert aufeinandergetürmt zur wuchtigen Mauer, glatt aber, so daß sie fast glänzten, die Flächen der Quader gearbeitet. Einige wenige zeigten Spuren von Bildhauerei, die Menschenantlitz nachzuahmen schienen. Innerhalb der Umwallung lagen in Nischen gebleichte Knochen. Knochen längst vermoderter Menschen.

Horst und Friedel dachten des Königsgrabes nahe dem Strand von Mua'ava und der Gräbernischen auf Nulopa. Aber konnten wirklich diese Bauten von dem Volk herrühren, das da unten dünn gesät den schmalen Küstenstreifen bebaute, den höchstens zweihundert Menschen, die die ganze Insel trug? Irgend ein Geheimnis vergangener Jahrhunderte oder Jahrtausende witterte um die Höhe. Und Horst ahnte Bedeutung in ihm für die ganze Inselwelt. Bedeutung von einst. Ja, welche Geschichte mochten wohl die Inseln der Südsee einst durchlebt haben unter ihrer Völker Kommen und Gehen?! … Da war es auf einmal: das Geheimnis der Menschensiedelung der Südsee, das groß vor ihnen aufstand, so drängend und fesselnd, daß darüber die Frage nach der Insel- Urgeschichte ganz zurücktrat.

Als er mit Friedels Vater auf der Weiterreise von diesen Fragen sprach, die ihn nicht loslassen wollten, erzählte ihm dieser von andern unerklärlichen Resten alter Südsee-Kultur, dem Tonga-Bogen von gigantischen Basaltblöcken, den Basaltsäulenburgen auf den Fidschi-Inseln, der versunkenen Wasserstadt Nanmatal auf den Karolinen, von den Höhenburgen auf Raiwawai und andern Inseln Ostpolynesiens bis zu den Rätseln der noch vor ihnen liegenden Osterinsel. »Alles Mosaiksteinchen, verstreut über die ganze Südsee, ohne daß es bisher gelungen wäre, sie zum eindeutigen Bild zusammenzufassen und erzählen zu lassen Von der Geschichte der braunen Völker.«

Wo aber noch unenthüllte Geheimnisse der Geschichte schlummern, da ist eine Aufgabe. Unter solchen Gedanken fühlte Horst in sich ein neues Arbeitsziel entstehen.


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