Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Aufgeregt kam der Funker des »Pinguin« zum Kapitän auf die Brücke gerannt mit drahtlosem Hilferuf vom amerikanischen Tankdampfer »Präsident«: »Feuer an Bord. Schiff verloren. Wir gehen in die Boote. Rettet uns.« Und dann der Schiffsort.
Unverzüglich ließ Kapitän Winkler den »Pinguin« mit äußerster Fahrt Kurs nach der Unglücksstelle nehmen. Ein Hundsfott jeder Kapitän, der einen Kameraden im Stich läßt, sei es, wer es sei. Diesmal aber kam es nicht zum Eingreifen. Nach Stunden, die »Pinguin« nordostwärts jagte, meldete sich ein neuer Sender im Apparat. Den Hörer umgeschnallt, vernahm der Funker, daß bereits ein der Unglücksstelle näherstehender Dampfer die Boote sämtlich gefunden und die Mannschaft vollzählig gerettet habe. Dem Klang im Hörer nach konnte der Dampfer nicht sehr tief unter der Kimme stehen. Kapitän Winkler ließ jedoch vorerst den Kurs beibehalten. Als die Nacht einfiel, tauchten die Wolken über der Kimmung voraus in immer helleren Feuerschein. Weithin züngelten bald hohe Flammen empor. Offenbar hatte das Öl des Tankdampfers die Behälter gesprengt und bedeckte in großem Umkreis die See, lichterloh brennend, der Tankdampfer selbst wie eine weiße Fackel mitteninne. Jetzt setzte »Pinguin« den Kurs ab, um nicht in die Gefahrzone zu kommen, und glitt an dem grausigen Schauspiel vorüber, dessen Widerschein in den Wolken noch anhielt, als die Morgenwache auf der Brücke wechselte.
Kapitän Winkler gab dem Ersten die Wache ab und teilte ihm seine Absicht mit, zu kurzem Aufenthalt die nun im Kurs liegende Insel »Juan Fernandez« anzusteuern. »Eine kleine Überraschung zum Abschluß für unsre Herren. Ich glaube, es ist doch noch keiner von ihnen dagewesen.« – Als diese des Morgens nicht allzufrüh an Deck erschienen, nichts ahnend von dem Plan des Kapitäns, stand im Süden eine hohe, wolkenumwobene Bergspitze über dem Horizont. Kapitän Winkler weidete sich geraume Zeit an der Überraschung seiner Fahrgäste, bis er endlich schmunzelnd verriet, das sei der Junque. Der höchste Berg der Insel Robinsons.
Mit steigender Sonne klarte das Wetter auf, und ihre Strahlen offenbarten die wilde Schönheit der ragenden Steilküste der immer höher steigenden Insel, an deren Fuß sich schon der weiße Brandungsgürtel ausmachen ließ. Vorüber am hart vorspringenden Huck, dessen Felsen mit ihren bunten, querlaufenden Gesteinsschichtungen sofort den vulkanischen Ursprung der Insel verrieten, vorüber an einzelnen vorgelagerten seichten Barren, wo sich seidige Seehunde sonnten, während auf den Klippen Pinguine träge hockten im Schwarz-Weiß ihrer Federmäntel, lief das Forschungsschiff in die Kumberland-Bucht ein und ging vor Anker. Schnell waren die Mitglieder der Expedition, von denen diesmal keiner daheim bleiben wollte, wo es einen Ausflug auf solch historischen Boden galt, ausgebootet. Der erste Anblick an Land ermunterte freilich wenig. Eine Konservenfabrik machte sich nahe dem Strande breit; um sie herum ärmliche Hütten eingebürgerter Chilenen oder Halbblutvölker, deren Kinder bettelnd und zerlumpt die Ankommenden umstanden. Doch schon hatte Horst über dem nahen Eukalyptuswäldchen die dunklen Höhleneingänge erspäht, die mit einem Schlag die Phantasie losrissen von der Wirklichkeit vor den Füßen und sie mitzunehmen versprachen in das Wunderland noch nicht lange entschwundener Jugendträume von Taten und Entbehrungen an der Seite Robinsons und Freitags.
Wunderland! Wenn auch Dr. Hell Wasser in den ersten Wein schüttete um der Wirklichkeit willen, und erzählte, daß diese Höhlen mit Robinson nichts zu tun hätten, trotz allem Glauben der Eingesessenen, sondern höchstens Unterschlupfe der verschiedensten hier hausenden Freibeuterscharen oder der spanischen Besatzung von ehedem oder der Verbrecherkolonie gewesen seien, die Juan Fernandez auch einmal beherbergt hat.
Dennoch Wunderland! … Nicht nur, wenn die Gedanken die Geschicke der Insel durchmaßen, von denen Dr. Hell eine ungemeine Kenntnis zu besitzen schien, von der Entdeckung durch Juan Fernandez an bis zur Kolonie, die die Jesuiten als erste hier errichteten, lange vor dem Einsiedlerdasein Robinsons, sondern Wunderland zu allererst greifbar nahe, links und rechts vom wildüberwachsenen Pfad, dem sie zur Höhe der Berge folgten.
Das Tal, das in der Kumberland-Bucht mündet, blieb zurück. Das Rauschen des Baches zu seiten verschäumte. Durch helle Triften wanderte der Fuß. Und nun begann der Wildnis Wunderland. Waren sie bisher gewohnt, je weiter sie auf ihrer Südseefahrt in den Osten kamen, desto weniger Arten von Pflanzen und Getier zu erwarten, bis zu den kargen und waldlosen Steppen der Osterinsel – hier schwelgte die Natur in zauberischer Üppigkeit eines unerwarteten Formenreichtums, der bewies, daß hier ein neuer großer Lebenskreis den der Südsee schnitt. Hier atmete bereits die Welt des südlichen Amerika. Vom Festland herüber mit der ewigen Trift an Chiles Küste entlang getragen, mochten die meisten Vertreter der Pflanzenwelt einst den jungen vulkanischen Boden besiedelt haben, dessen Lagerung und Herkunft die bunten Schichtungen der Felsen an der Stellküste noch deutlicher verrieten, als die Form der hohen dunklen Basaltkuppen, die bis nah an tausend Meter sich auftürmen.
Ein zweites Tal blieb zu durchqueren. Kaskaden sprühten unter dem Dickicht breiter Riesenschleierkräuter mit ihren pestwurzähnlichen großen Blättern, die sich bis zu Mannshöhe aufreckten. Bergeslehnen stiegen an zu seiten. Fast war kein Erdreich mehr zu sehen, wo der Fuß hintrat, so dicht blieb der Bewuchs des Bodens. Farne der verschiedensten Gestalt ließen ihre zarten Wedel unterm Seewind erzittern, heimische Arten sogar dazwischen, die sowohl auf den Höhen des Westerwaldes als in Robinsons Reich gedeihen. Steinbrech! Von einer Blutfarbe, die den Alpenrosen gestohlen schien. Tiefgoldene Glockenblumen mit flacher Glockenschale und Purpurgeäder läuteten am Hang. Friedel kannte auch sie aus dem väterlichen Steingarten am Hang über der Saale; »Wahlenbergia« nannte sie der Vater. Aber neben solch vertrauten Formen herrschte doch das Fremdartige, Tropische vor. Baumfarne in filziger, tausendgliedriger Herrlichkeit breiteten ihre Fächer über den Pfad. Ins Dunkel dichter Gebüsche myrthenähnlichen Wuchses verlor er sich bald, bald führte er wieder durch lichte Haine riesiger Magnolien. Und dort stand sie, schlank und rank, die Chonta, die Palme, die von Westen ihren Einzug gehalten.
Und ein huschendes Lebendigsein durchpulst diese sattgrüne Wirklichkeit; Disterfalter schaukeln, bunte Kolibris schwirren von Blüte zu Blüte, Käfer tragen ihre glänzenden Flügeldecken in surrendem Flug durch die Sonne.
Nun ein Waldstück reckenhafter Riesen; sparrige Naranjillos herrschen hier und lassen kein Kleinzeug unter sich aufkommen. Nur die Moose trotzen und haben sich in langen Flechten und Bärten an die Stämme geklammert. Schatten dunkeln. Unter ihnen mag wohl auch Robinson gerastet haben, ehe er sich an der steilen Felswand hocharbeitete, die hinan zum Paßsattel die Brücke schlägt. Dem schmalen Saumpfad durch die Felsen folgend, vorüber am zaubergestickten Teppich der tausend Hochgebirgskinder, die sich lebenstrotzig in alle Rinnen betten und aus allen Ritzen drängen, wo nur ein Krümchen Erde Vertrauen erweckt zum Siedeln, erreichen endlich die schon lange schweigenden Wanderer die Höhe.
Frei schweift das Auge. Nur ein stumpfer Kegel liegt noch im Weg. Hinauf!
Ist das ein Herrensitz!
Königlich weitet sich der Blick.
Zackige Berghäupter grenzen ihn nur gegen Osten ab.
Westwärts schweift er über frische, niedrige Grassteppe und wellige Hügel, aus denen nur hier und dort sich ein stumpfer Basaltkegel hebt. Schlanke Iris halten diesseits Wache. Lobelien und Tausendgüldenkraut wuchern zu Füßen. Gelber Sauerklee pinselt leuchtende Flecke ins satte Grün der Wiesenränder.
Nach Norden durchmißt der Blick das große Tal in ganzer Länge bis zur Bucht, wo der »Pinguin« ankert.
Südwärts aber bricht ein Leuchten auf· und eine Ferne, die das Auge selig trinkt. Dunkle Felsenwände stürzen ins gischtende Meer. Lichtgrün die Brandung um die Hucks und Klippen. Aus silbrigem Dunst heben sich weiter draußen die schemenhaften Schatten des Felseneilands Clara aus der Unendlichkeit der ultramarinblauen See. Leis redet aus dieser blauen Tiefe und Weite die Brandung herauf, das einzige Lied in der Stille der Höhe, Norden und Süden singen Wogenlieder. Ewigkeit träumt in den Fernen.
Ja – königlich der Blick von dieser Höhe.
»Hier ist Robinsons Lugaus gewesen!«
Selkirk hieß er und seine Geschichte ist kein Märchen! –
Der etwas kurzsichtige Professor Allwiß, der wie die andern älteren Herren erst jetzt schnaufend anlangte, entzifferte laut die in den Felsen gelassene Tafel:
Dem Andenken an
Gebürtig aus Largo in der Grafschaft Fife, Schottland. ———— Welcher auf der Insel in völliger Einsamkeit vier Jahre und vier Monate lebte. ———— Er wurde gelandet von der Galeere »Fünfhafen« 96 Tonnen, 16 Geschütze. A. D. 1704 und wieder mitgenommen durch den Kaper »Herzog« am 12. Februar 1709. ———— Er starb als Leutnant S. M. S. »Weymouth« A. D. 1723
Diese Tafel wurde errichtet nahe Selkirks Lugaus durch den Kommandanten Powell und die Offiziere S. M. S. »Topaze«. A. D. 1868.
|
Dann aber versanken die Herren Professores nach kurzer Rast sehr bald wieder fröhlich plätschernd im Meere ihrer Spezialitäten, bestimmten Flora und Fauna und tummelten sich in Wissenschaft und Wiesen.
Dr. Hell war bei den Freunden sitzen geblieben. Die Jungen sprachen kein Wort. Robinson redete und zeigte sein Reich. Aber aus dem Helden, nach dessen Vorbild man einst auch einmal zu leben sich gesehnt, war ein Mensch geworden. Und diese Stille rings und die Tafel mit der nüchternen Schrift raunte von nichts so sehr, als bitterem Einsamsein! Und Dr. Hell, der die beiden mit Jungenträumen von Robinson-Sehnsucht zu necken versuchte, fand kein Echo. Nur Horst gab ihm überhaupt Antwort, ablehnend genug. »Die Zeiten sind gewesen, Herr Doktor! Vier Wochen allein hier, ich glaube, dann hätte ich die Sache schon dicke. Alles hat seine Zeit, auch die Robinsonträume. Aber dann kommt auch die Erkenntnis, daß Robinsonspielen Flucht vor dem Leben wäre.« Dr. Hell zog die Brauen hoch. »Ja,« fuhr Horst fort, der die Bewegung falsch deutete, »die Aufgaben, die die Gemeinschaft stellt, sind doch ungleich schwerer und ungleich wichtiger, als die Einsamkeit. Der Mensch ohne Gemeinschaft ist irgendwie ein Krüppel, und jeder Einspänner in Gefahr, einer zu werden.«
Friedel hatte scheinbar gar nicht auf die Worte der andern geachtet und schaute träumend hinaus in die Weite. Aber zwischen seinen Brauen stand eine schmerzhafte Falte. Und plötzlich redete auch er: »Ja, des einen Geschick kennt alle Welt, liest alle Welt. Weil er eben zurückkam in die Gemeinschaft der Menschen und Zeit hatte, ein Buch zu füllen. Aber wie viele sind, die noch ganz anderes erlebten, als der berühmte Robinson, und sind verschollen und vergessen.« – »Jetzt denkst du an Enno Hart«, war Horst gleich bei der Sache. »Aber dessen Geschick und Abenteuer wollen wir schon noch reden lassen. Der soll nicht vergessen sein!«
»Er ist es auch wert«, pflichtete Dr. Hell bei. »Allein sein Untergang in Einsamkeit und Verzweiflung packt einen im Innersten. Wenn wir nur auch des letzten Rätsels Lösung hätten und die Schleier heben könnten von seinem ›Geheimnis der Südsee‹! Denn darin scheint doch eine Bedeutung zu liegen, die weit über sein persönliches Schicksal hinausgreift. Schade, schade!«
Dr. Hell hatte aus seiner Brieftasche ein Blatt hervorgeholt, auf das er das Punktsystem einer Seite der rätselvollen Urkunde übertragen und das er stets bei sich trug, um immer die Möglichkeit zu haben, unter neuen Gesichtspunkten die Entzifferung zu versuchen.
Auch Friedel nahm es zur Hand, während Dr. Hell weitersprach von seinen letzten vergeblichen Lösungsversuchen.
Und – wie es so manche überraschenden Geschenke des Lebens gibt in Stunden seelischer Feinempfindung, unter dem Eindruck irgendeines tiefen Erlebens, wie es die Weitenschau von Robinsons Lugaus brachte: Friedel sprang plötzlich erregt auf. Seine Augen glänzten. Er suchte augenblickslang nach den richtigen Worten für die fackelhelle Erkenntnis, die plötzlich durch seine Sinne hindurchgeleuchtet …
Indes seine Finger absichtslos der Rückseite des Blattes mit den durchgestochenen Löchern, die unmerklich erhaben fühlbar waren, entlang getastet und seine Augen zum wer weiß wievielten Male den oben am Kopf stehenden Satz aus Enno Harts Handschrift gelesen, daß »das Geheimnis so offen liege, daß ein Blinder es enthüllen könne« – war plötzlich das Bild eines Blinden vor seiner Seele aufgestiegen, eines Blinden, den er früher als Kind manchmal besucht, im oberen Stock seines Elternhauses. Deutlich sah er's wieder vor sich, wie dessen Finger tastend über die erhabenen Punktbuchstaben seiner Blindenbibel hinfuhren … Da war es, daß sie jäh in ihm aufgezuckt, die helle Erkenntnis, mit der er den Schlüssel zum Rätsel der Urkunde in Händen hielt.
»Das sind Buchstaben der Blindenschrift!« brach es über seine Lippen.
Dr. Hell öffnete die Augen weit. »Friedel – Friedel?!« Staunend schaute er auf den Junge«, der von seiner plötzlichen Erkenntnis ganz bewegt schien. Horst ging es nicht anders. »Kennen Sie Blindenschrift?« war seine erste Frage an Dr. Hell. – »Nein, um so obenhin.« – »Dann können wir auch gar nicht nachprüfen, ob Friedel wirklich recht hat«, zog Horst den nüchternen Schluß. Dr. Hell legte Friedel die Hand auf die Schulter, als er, ganz erfüllt von seinen Gedanken, zu seinem Vater eilen wollte, der im Kreis seiner Kollegen dozierend über die Wiese herüberschritt.
»Bleib, Friedel. Noch ist deine Lösung nicht erprobt. So lange mag sie auch unter uns bleiben. Man soll Dinge erst sagen, wenn sie reif sind. Morgen wissen wir, ob du den Schlüssel wirklich gefunden hast, und dann können wir nicht nur behaupten, sondern beweisen!«
Friedel fügte sich. Aber er lachte der nüchternen Bedächtigkeit der beiden andern: »Ich habe den Schlüssel. Es ist Blindenschrift!« – »Ja, kennst du sie denn?« fragte nun Horst ihn.
» Nein. Aber ich weiß es doch!« antwortete Friedels Sicherheit.
Voll fieberhafter Erwartung kam er den andern weit voraus auf dem Abstieg zur Cumberlandbucht.