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In ewiger Nacht

»Pinguin« ging auf Südkurs, nach der Ostseite der Tonga-Inseln. Für Horst und Friedel begann ein ganz neues Leben. Schon die wissenschaftliche Ausrüstung des Forschungsschiffes dünkte, neben die einfachen Formen von Haus Neuland gehalten, wie von einer andern Welt. Staunend durchwanderten die Jungen unter Vater Körners Führung die Räume des Schiffes, die Laboratorien, die Konservierungsräume mit ihren unzähligen Flaschen mit Alkohol und Formol, zum größten Teil bereits angefüllt mit den seltsamsten Tiergestalten der Tiefe, die »Pinguin« schon erbeutet. Mikroskopierraum, photographische Abteilung – »Pinguin« wies bis in alle Einzelheiten der ungezählten wissenschaftlichen Apparate hinein eine Ausrüstung auf, die ein hervorragendes Zeugnis deutscher Feinwerkkunst darstellte.

Aber staunend schritt auch Vater Körner an der Seite Friedels und Horsts. Immer wieder mußte er die beiden anschauen. Wohl war ihm schon beim Wiedersehen das gesunde Braun ihrer Gesichter aufgefallen. Jetzt aber erst wurde er allmählich gewahr, wie die beiden auch innerlich gewachsen; gereift schienen sie. Bei Horst kein Wunder, dachte Vater Körner, aber mein zartes Friedelchen? Bestimmter und bewußter geworden in allem! Dankbar gedachte er in sicherer Ahnung der Menschen, deren Geist er selbst in Haus Neuland so stark empfunden.

Jedoch selbst der Fachmann und Professor in ihm durfte beim Staunen bleiben, als die Jungen ihre Sammlungen, Zeichnungen und die Ergebnisse ihrer Beobachtungen vor ihm ausbreiteten mit der stummen Frage: Nun, waren wir's wert? die er einst selbst gestellt. Freilich bot sich ihm unter allem auch nichts Neues, bis auf den Palolo allerdings, so erkannte er doch klar und deutlich, welche Willenskraft, Liebe und Beobachtungskunst aus dem Material Friedels wie Horsts sprachen, zumal wenn er in Betracht zog, mit welchen Behelfsmitteln sie hatten arbeiten müssen. Ehrlich durfte er ihnen drum sagen: »Ob ihr, Jungens? … Ja, ihr habt eure Reise verdient!«

Dies Lob wirkte sich aus in doppelt fesselnder Teilnahme an allen Arbeiten, mit denen nun das Kollegium der Wissenschaftler auf »Pinguin« die Forschungen auf der neuen Route begann. Horst namentlich interessierten Lotmaschine, Bodenprobennehmer, Kippthermometer aufs höchste, und sorgsam wachte er mit über den Wickelungen des zehntausend Meter langen Klaviersaitendrahtes auf der Trommel der Sigsbeyschen Lotmaschine, an dem Lot und Wärmemesser im Bereich des Tongagrabens mehrmals zu Grund gelassen wurden.

9400 Meter Tiefe! Und drunten 0,5 Grad Wärme! ergab sich.

Während Wasserprobe und Bodenprobe noch in Untersuchung sich befanden, war auch das Vertikalnetz ausgebracht und ein Zug in größter bisher versuchter Tiefe getan. Zwei Stunden spulte bereits die Dampfwinde die Trosse wieder auf. Gespannt warteten alle auf das Hochkommen des Netzes. Langsam nur ging es, mußte es gehen; der Dynamometer gab ziemliche Gewichte an, die das Netz mitbringen mußte. Friedel stand mit Horst in der Nähe des Davits, das die Trosse führte, um ja den Augenblick nicht zu versäumen, wo das Netz hochkam.

Als er aber hörte, es könne noch zwei Stunden dauern, suchte er mit Horst den Vater auf. Unversehens kam ihnen der Gedanke, auch ihm einmal die Fragen vorzutragen, die sie seit ihren Riffstreifen so oft bewegt, die Frage zumal nach der Entstehung der Inselwelt der Südsee. Vater Körner führte sie ins Steuerhaus vor die Karten, zeigte ihnen, wie sich von Neuguinea über Fidschi-, Tonga-, Kermandec-Inseln nach Neuseeland in riesigem Rund scheinbar Randgebirge zögen, die früher wohl einmal ein großaustralisches Festland begrenzt haben könnten, was zumal durch die Erlotung von Höchsttiefen am Ostrand dieser hochgebirgigen Inselgruppen bestätigt werde.

»Aber ganz im Gegensatz dazu«, fuhr er fort, »sind alle Inseln weiter ostwärts sozusagen wie Perlen aufgefädelt auf Schnüren, die mehrfach hintereinander von Südost nach Nordwest laufen. Das ist so auffällig – bitte, vergleicht nur mal da auf der Karte die Lage der einzelnen Archipele –, ist so auffällig, daß der Gedanke naheliegt, alle diese Inselschnüre seien die noch aufragenden Reste von selbständigen Kettengebirgen, deren Verlauf die Linie ihrer Lage andeutet. Aber schon das ist natürlich Vermutung, wenn auch eine der notwendigen Vermutungen, die wir brauchen, um forschen zu können. Bis mal wieder eine andere kommt und die erste umstößt. Das kann jeden Tag geschehen. Denn da sind Weiten in Südsee und Pazifik, die, außer in nächster Nähe der Inseln, so wenig durchlotet find, daß wir über die Bodenerhebungen unter dem Meeresspiegel nur oberflächlich Bescheid wissen. Hier längs der Tonga-Inseln freilich läuft mit ziemlicher Sicherheit einer der tiefsten sogenannten »Gräben«, in die, wie vorhin angedeutet, einst vielleicht letzte östliche Gebirge Australiens jäh abstürzten. Ihr habt ja unsere Lotungen verfolgt.

Was ihr mir erzählt von Herrn Steins Bemerkungen zur Frage Korallenriffe und Laguneninseln, dem stimme ich zu. Die Artverbreitung der Pflanzen- und Tierwelt, die nach Osten immer mehr abnimmt, spricht für mich deutlich gegen die Annahme, daß sich hier östlich der »Gräben« ein Kontinent gesenkt haben soll. Immerhin: Rätsel steht trotzdem vorerst neben Rätsel. Und zum Rätsel der Bodengestaltung der Tiefe, der Bildung dieser Inselwelten, kommt nun noch das, an dessen Aufhellung gerade wir mitarbeiten: das Rätsel der Tierwelt der Tiefe

Was hatten sie da nun nicht alles zu fragen! Vater Körner gab ihnen einen Überblick über die Wunderwelt der Meeresforschung, grenzte Hochsee und Tiefste gegeneinander ab, schied von dieser das Abyssal, das Reich der Grundbewohner, festsitzender oder nur dicht über dem Grund sich bewegender Lebewesen aus, da es sich bei der in Aussicht stehenden Beute des Vertikal-Plankton-Netzes nur um Tiere handeln konnte, die dem Pelagial angehörten, wie manche Forscher die Gesamtregion des eigentlichen Meeres bis jeweils über den Grund nennen, während andere den Namen nur der ersten 300-Meter-Tiefe vorbehalten und dann alles übrige als Abyssal bezeichnen. »Ihr seht: selbst in den Reihen der Wissenschaft gibt's fließende Grenzen, in unserem Falle sind sie sogar wortwörtlich »fließende«.

Jedenfalls«, dozierte der Professor in ihm, »ist insofern um die 300-Meter-Tiefe eine Grenze, als hier die letzten Reste pflanzlichen Lebens aufhören. Wir können das nur so erklären, daß nur bis zu diesen Liefen noch ein Schein vom Licht der Sonne dringt, das ja doch allein pflanzlichen Wesen das Leben gestattet. Was tiefer als diese Lichtgrenze der Höchste gefunden wird von pflanzlichen Stoffen, sind absinkende oder gesunkene tote Reste; sie finden sich oft massenweis, sogar in großen Tiefen, zusammen mit Schalen und Krusten erstorbener Tiere von Tiefsee und Hochsee. Nie aber, wie ich bereits erwähnte, reicht pflanzliches Leben tiefer als höchstens vierhundert Meter unter den Meeresspiegel.

Tierisches Leben aber, Fauna, wurzelt selbst noch im Grund, auch wo er, wie hier, tiefer liegt, als der Himalaja hoch ist. Die ersten dies beweisenden Forschungen durch vertikale Zonenfänge mit Schließnetzen, die von der ›Veldivia‹-Expedition gemacht wurden, sind durch unsere neuen Fänge vollauf bestätigt. Ewige Nacht allerdings umschließt das Reich der Tiefste, und wir kennen nur durch Dredsch-Züge und Schließnetz- und Planktonnetz-Fänge die kleinsten und kleinen ihrer Bewohner. Ob sie größere Lebewesen birgt, zu groß, als daß unsere Netze sie erbeuten könnten, wissen wir nicht, dürfen also noch nicht sagen: nein.

Abgesehen nun von zoologischen Einzelfragen der Bestimmung, Beschreibung, Einordnung der Funde usw., mit denen wir Wissenschaftler, jeder von seinem Gebiet aus, begierig und gespannt jedes neu aufkommende Netz erwarten, die aber euch in ihrer Fülle und Differenzierung nur verwirren und bedrücken würden, steigen jedesmal wieder dieselben ganz allgemein interessierenden Rätselfragen der Tiefe vor uns auf, deren Lösung wir nur durch vorsichtige Vermutungen stückweis näherzukommen vermögen. Noch wissen wir nicht, was die Körper dieser Lebewesen der Tiefe befähigt, den Riesendruck auszuhalten, der auf ihnen liegt. Noch wissen wir nicht, wie bei dem absoluten Dunkel der Tiefe die Nahrung entdeckt und gefunden wird. Und die Nahrung bedeutet da unten alles; wie schon die geradezu groteske Vergrößerung des Maules bei den meisten der spezifischen Tiefenfische zeigt. Ihr erinnert euch des ›Großmauls‹ – megalopharinx –, den ich euch gestern vorführte; eigentlich bestand er doch nur aus Maul und Schwanz. In diesem Zusammenhang, der Spannung zwischen Lichtlosigkeit und Selbsterhaltungstrieb, bedeutet nun die Entwicklung teleskopartiger Augen bei vielen Tiefseeflossern, auch bei einigen Tintenfischen, eine eigenartig reizvolle Erscheinung. Es kommt vor, daß diese nach allen Seiten hin drehbaren Augen auf weit vorfühlenden Tastorganen sitzen, auch bei den Fischen; kommt aber auch bei andern Spezies vor, daß das Auge gänzlich zurückgebildet und durch eine hornartige, mattglänzende, hohlspiegelgeformte Knorpelplatte ersetzt ist.

Mir aber erscheint als das größte Wunder der Liefe die Fähigkeit ihrer Wesen, eigenes Licht zu erzeugen. Und zugleich ihre eigenen Lichtträger zu sein.«

Vater Körner verbreitete sich, nicht ohne Vermeidung ihm sehr geläufiger Fremdwörter, über die Phosphoreszenz- und Fluoreszenzerscheinungen der Tiefseefauna, die er, nach Schilderung aller möglichen Besonderheiten, meinte verstehen und erklären zu sollen nicht nur als den Zwecken der Nahrungssuche dienend, zumal ganz unmittelbar der Wahrnehmung der Nahrung, wie so manches auf langem Taster vorausgetragene Untersee-Lämpchen beweise, sondern auch als ganz besonders dem gegenseitigen Erkennen dienstbar; die Verschiedenheit der Anordnung der einzelnen Leuchtpunkte, -flächen und -farben dränge förmlich zu der Annahme, es handle sich dabei um Erkennungszeichen der verschiedenen Gattungen, Familien und Geschlechter, die ohne Eigenlicht in einem Dunkel gedacht werden müßten, dessen Dichte über menschliche Vorstellung gehe … Ewige Nacht! »Aber die da drunten verstehen es meisterhaft, im wahrsten Sinne des Wortes ihr Licht leuchten zu lassen«, schloß er seine etwas nüchternen und gelehrten Ausführungen.

Die Jungen, die von Reinhard Stein eine andere Redeweise gewohnt waren, empfanden jedoch unter dem Reiz all dieses sachlich ganz Neuen weder diese Nüchternheit, noch die Spracharmut, sondern hörten gespannt zu im Bewußtsein, daß das wissenschaftliche Durchforschen solcher Abgründe und Absonderlichkeiten dieser Welt und ihrer Wesen eben das Ziel des Schiffes und seiner Menschen sei, und zugleich gewärtig der ersten Offenbarung solcher Tiefenwirklichkeit, die die Trosse mit dem Vertikalnetz eben dem Meeresspiegel immer näher hob mit jeder Umdrehung, die die Trommel machte.

Inzwischen waren Dämmerung und Nacht eingefallen. Leise atmend hob und senkte sich das Meer.

Von der Brücke her wurden Rufe laut. Schon eilten Professor Körners Kollegen zum Hebebaum, über den die Trosse lief. Der Matrose am Zähler kündete das Aufkommen des Netzes.

Schnell erreichten auch sie und der Vater die Reeling und beobachteten gespannt die dunkle Fläche der See. Eine leise Helle schwamm plötzlich da seitab im Meer, einzelne Pünktlein darin leuchteten … immer deutlicher, immer zahlreicher … rückten zusammen.

Und der dunkle Bügel des Netzes hob sich und zog eine Feenwelt leuchtend milden Strahlens mit herauf. Aber kaum war das Netz über Wasser gehievt, da verblaßte der holde Schein. Nur durch die Wände des gläsernen Eimers, der am Ende des Netzes hing und voll Wasser blieb, strahlte Punkt an Punkt noch das leise Leuchten unterseeischen Lichtes.

Kaum war das Netz hochgeheißt und an Bord gefiert, als man seinen Inhalt in ein großes Becken gekühlten Wassers gab und zur geräumigen Dunkelkammer nahm, um jeden andern, auch den kleinsten fremden Lichtschein, abblenden zu können. – Stumm und staunend standen Friedel und Horst vor den im Dunkel unsichtbaren Glaswänden des Behälters, hinter denen im Wasser nun ein Leben noch einmal erwachte, wenn auch nur für kurze Zeit, das sonst Menschenaugen verborgen bleibt … Zuerst nur hier und dort ein schwaches Schimmern, ein Schein bloß. Die Formen aus der größten Tiefe mußten naturgemäß schon beim Aufholen durch Wärme- und Druckveränderung des Wassers gelitten haben und fast alle tot sein. Was aber ins Netz geraten in weniger tiefen Regionen, erholte sich schnell noch einmal … Fahl lief ein Funke durchs Dunkel, als ob jedes der Wesen bei der Berührung mit anderen sein Lichtlein einen Wimperschlag lang aufzucken ließe. Krebse, Tintenfische, Seewalzen und Tiefenflosser der abenteuerlichsten Form begannen ein Spiel von Licht und Farben … Jedes Aufblitzen ein noch in seiner Bedeutung für die hinter den Glaswänden lauernden Menschenaugen undeutbares Zeichen von Wesen zu Wesen. Auf haarfeinen Tastern vorn am Kopf, in ganzen Bändern die Seiten entlang, in den Flossenstacheln, um die Augen herum, hinter Kiemen und Schuppen ein leuchtendes Sichbewegen, ein farbiges Strahlen; verhalten freilich im Glanz, abgedämpft und abgestuft in seiner Leuchtkraft, nach Farben verschieden und Stellung der Kraftquellen, aber das ganze hundertstrahlige Leuchten in der Finsternis da vor Augen – ein märchenhaftes Stück Leben, aus Meerestiefen heraufgeholt, in die für atmende Menschen kein Weg hinunterführt.


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