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Im Hexenkessel

So klar die Nacht geleuchtet, so diesig begann der nächste Tag. Ein für diese Breiten ganz ungewöhnliches Wetter. Pidder Karsten beroch sich den Wind ein über das andre Mal; die Sache gefiel ihm nicht. Er wußte, daß der Kapitän seine Ansicht teilte. Denn eigentlich diesig, was man so nennt, war das Wetter nicht. Bleiern ruhig lag die See, kaum merklich hob und senkte sich die Dünung. Über allem lag es wie ein Abwarten, ein Gespanntsein, In-Bereitschaft-sein. Aber für was?

Die Sonne kam nicht klar durch. Dünste hingen rings um den Horizont. Eigentümlich farbige Dünste; ein fahles Orange, wie man es sonst untertags nicht erlebt.

Auch die Tiere mußten um das Ungewöhnliche wissen. Pidder Karsten war es nicht entgangen, wie häufig sich fliegende Fische zeigten. Überhaupt diese merkwürdige Unruhe in der an sich doch trägen Flut, als dränge alles Getier an die Oberfläche oder suche dort Schutz. Aber wovor nur?! Selbst der Bordhund, ein munterer Fox-Rüde, drückte sich merkbar still und unfroh immer in der Gesellschaft der Menschen herum, stand ab und zu mit schiefem Kopf, als warte er auf etwas. In seine Augen trat dabei ein leises Flimmern.

Pidder Karsten stieg wieder zur Brücke hinauf, begegnete Friedel und Horst, die aus der Funkenbude kamen, und traf mit ihnen bei Kapitän Winkler ein, als gerade der Meteorologe der Expedition, umgeben von den meisten andern ihrer Mitglieder, Kapitän Winkler seine Vermutungen über die merkwürdigen atmosphärischen Erscheinungen aussprach, die zunehmend deutlicher beobachtbar wurden. Pidder Karsten, der sich zurückhielt, vernahm nur abgerissene Worte wie »Kilauea« und »Mauna Loa«, »Krakatau«, »Honolulu bis Frisko und Tsingtau«. Da kam auch ihm plötzlich ein Erinnern und ein Ahnen: Damals war es, wo er auf dem Vollschiff angeheuert hatte, dessen Route Martinique – Weiter kam er nicht mit seinen Gedanken.

Alle Köpfe wandten sich nach Südsüdost. Lauschend. Deutlicher Kanonendonner scholl von dort herüber. Tief unter dem Horizont mußte es sein. Man hörte einzelne Abschüsse aus dem dumpfen Rollen deutlich heraus. Aber Geschützdonner in der Südsee? Der Meteorologe nickte: »Seebeben.«

Noch ehe den meisten zum Bewußtsein kam, daß sie sich darunter eigentlich blutwenig vorzustellen vermochten, schrillte ein Ruf des Ausgucks über Deck. Im Nu hatte auch der Kapitän das Glas vor dem Auge. Pidder Karsten, der den Ruf ebenso verstanden, deutete erregt in den Südosten. Unter der Trübung des Horizonts, über dem es sich dort zusammenballte wie Gewitterwolken, schwoll eine Riesendünung heran. Weithin, so weit das Auge sah, wurden die Wasser von der Bewegung erfaßt. Unmöglich, die Höhe der Flutwelle abzuschätzen, die da aus der Ferne heranraste!

Den Kommandos des Kapitäns spürte jeder ab, daß Gefahr im Verzug war. Während »Pinguin« mit Hartruder drehte, dann auf höchste Fahrtstufe ging und mit »Ruder mittschiffs« seinen Steven der Flutwelle entgegenrichtete, um ihrem Stoß mit der Stirn zu begegnen, blieb nichts ungetan, was zur Sicherung von Schiff und Menschen noch unternommen werden konnte. »Schwimmwesten ausgeben! … Boote auf Proviant und Frischwasser überholen! … Bojenfloß klar machen!« kamen die Befehle hart hintereinander. Die beiden Jungen hatten schnell begriffen, um was es ging. Horst blieb der Ruhigere von beiden, während Friedel unwillkürlich seines Vaters Nähe suchte; nicht aus Furcht, sondern instinktiv – zutiefst darum, weil er der Sohn war.

Kapitän Winkler wies alle an, für den Augenblick des Zusammenstoßes mit der heranstürmenden Woge sich Deckung und Halt zu suchen. Er selbst blieb droben auf der Brücke und gab in vollem Gleichmut seine Befehle. Vor ihm sein sehniger Rudergänger, der mit sicherem Blick die Richtung der Flutwelle maß und ständig den Bug des Dampfers genau auf die Gegenrichtung einspielte.

Näher kam die Woge … in rasender Eile. Näher … Keiner mehr sprach ein Wort.

»Deckung! – Festhalten!« hallte nur zuletzt die Stimme des Kapitäns. Dann brach es herein. Zwischen Gischt und Sprühregen schoß der Dampfer gegen die Woge an … Ja, festhalten! Mit dem Anprall begann der Kampf. Die Turbinen rasten mit höchster Kraft. Die überkommenden Wassermassen drohten den Bug unterzudrücken. Wie ein Renner bäumte sich das Schiff gegen die Wucht des Widerstandes. – Und es gelang. Stiebend hob sich der Bug aus der See. Die Flutwelle ließ ihn tanzen wie einen Spielball, aber sie lief unter ihm durch.

Gerade schien der Gefahrpunkt überwunden, da krängte »Pinguin« schwer nach Steuerbord und drohte aus dem Ruder zu laufen. Der Rudergänger arbeitete, daß ihm die Sehnen wie Stränge aus den Muskeln sprangen und zwang den Dampfer auf den Kurs zurück. Nur nicht querein zur Strömung kommen! … Aber die Schlagseite blieb, wenn auch nicht so stark wie erst. Dennoch mußte die Fahrt vermindert werden. Meldungen aus dem Raum kamen auf die Brücke: Verrutschungen in Bunkern und Proviantlast schienen die Ursache der Schräglage des Schiffes, nicht im Handumdrehen zu beheben. Da mußte umgetrimmt werden. Kapitän Winkler prüfte die Lage: – die Welle war längst im Nordwesten verschwunden. Die See wohl unruhig, aber nicht mehr gefährlich. So gab er vorerst den Befehl, zu stoppen, um sogleich an die Beseitigung der Havarie zu gehen.

Kaum langte er selbst, und hinter ihm Horst und Friedel, die sich freiwillig sofort angeboten, mit Hand anzulegen bei der neuen Verladung, im Raume unter Deck an, als sein weißer Foxhund mit jammervollem Geheul und Gewinsel zwischen ihren Beinen durch wieder hinauf an Deck raste. Der Kapitän stutzte. Und schon brüllte es von oben: »Kapitän! Kapitän!« Karstens Stimme.

Droben fanden sie bleiche Gesichter. Auch Kapitän Winkler biß die Lippen aufeinander.

Voraus, in wenigen Seemeilen Abstand, gerade in der Richtung des bisherigen Kurses, quoll die See in weiten Blasen auf. Voll Unruhe schwabberte ringsum eine quabbelige, kurze Dünung … Immer schneller kamen die riesigen Blasen hoch …

Der Dampfer begann sich zu drehen. Kapitän Winkler hatte sofort die Maschinen wieder angehen lassen, trotz der inneren Gefahr für das Schiff, und legte den Dampfer auf Ostkurs, um, koste es was es wolle, möglichst schnell aus dem Bereich der unheimlichen Stelle wegzukommen.

Gischtend fuhr drüben jetzt ein Geyser hoch, der sprühend zerstäubte, als ob das Wasser koche … Neue Blasen platzten … Rauch dünstete über der Stelle.

Langsam, aber merklich vergrößerte sich der Abstand des »Pinguin« vom Herd der unterseeischen Katastrophe. Schon mußten sie schräg achteraus beobachten.

Feuerschein lohte plötzlich über den Wassern … Eine Flammensäule schoß zum Himmel … Zwei neue folgten … Krachend kam der Klang der Explosionen herüber, daß die Luft nur so zitterte; harte Schläge, denen ein langes Rollen folgte. Wieder und wieder dasselbe Spiel in immer schnellerer Folge.

Erregte Hände wiesen hinaus auf See. Das Meer schien zu brennen … In noch weiterem Umkreis brodelte kochender Gischt … Die Lage des »Pinguin« gestattete nicht, sich auf rein objektive Beobachtungen wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit zu beschränken. Dazu war die Lage zu subjektiv und – – –

»Na, wir stoppen ja schon wieder!« stellte Horst zwischendurch fest. Ein Schreckensruf antwortete ihm, als sie ihre Blicke vom Schauspiel im Rücken weg in die Kursrichtung gehen ließen … Voraus, steuerbord, backbord, rings im Rund kochte die See. Da sollte wohl vorerst gar nichts weiter übrig bleiben, als einmal zu stoppen, denn um den »Pinguin« herum herrschte Ruhe. Vorerst noch! Zwar auch die kleinen unterseeischen Kraterherde, von denen der ganze Horizont redete, mochten an sich weit auseinander und hintereinander liegen, aber auszumachen war es nicht.

Inzwischen brach die Dämmerung ein und die Nacht. Durchglüht vom Flammenschein der hier und dort, wenn auch allmählich seltener, aufbrechenden Explosionen; durchzuckt von Blitzen aus den dichtgeballten niedrigen Wolken über dem ganzen Bebengebiet; durchdonnert vom Rollen der Tiefe, der Ferne und der Höhe, durchrauscht vom feuergeborenen Sturm der erregten Lüfte – – und mitten im stiller gebliebenen Zentrum des Feuerorkans ein Häuflein Menschen in ganzer Ohnmacht und Einsamkeit. Keiner unter ihnen, der nicht darum gewußt hätte. Stunde um Stunde der Nacht rückte vor. Wenn auch die Ausbrüche nachließen, keiner dachte an Schlafen. Schlafen im Hexenkessel?

Friedel und Horst standen still an der Reeling. In stummem, nach innen gekehrtem Staunen ob des Gewaltigen, das sie in seine Kreise gezogen. Und plötzlich kam es, daß Friedel die Arme dem Vetter um die Schulter legte und in aufwallendem Gefühl den Freund an sich drückte.

»Ja, Friedel,« sagte Horst, und seine Stimme zitterte doch, »die Havarie, die uns erst so ärgerlich war, hat uns gerettet und rechtzeitig davor bewahrt, den alten Kurs weiterzufahren. Ich fühle: wir sind geführt. Und fürchte mich nun nicht mehr.«

»Ich auch nicht, Horst.« Friedel hatte ihn verstanden.

*

Gegen Morgen hörte die unterseeische Tätigkeit auf. Die See ging bewegt unter dem Schleier starker Regen, in denen sich dichtgeballtes Gewölk entlud. Aber das Licht offenbarte, was die Nacht verbarg: rings trieben ungezählte tote Hochseefische und Tiefseebewohner, Opfer der kochenden See. Kaum daß die eigene Gefahr abgeschwächt war, regte sich der Forschungstrieb an Bord des »Pinguin« von neuem. Glaubte doch das Auge von Bord aus bereits hier und da ein unbekanntes Wesen zu entdecken, das bisher noch kein Netz herausgebracht. Aber Kapitän Winkler setzte allen Bitten, doch zu erlauben, die Beute zu bergen, ein entschiedenes Nein entgegen.

»Pinguin« hatte mit Hellwerden den Ostkurs wieder aufgenommen, fuhr aber nur langsam und unter öfterem Loten und scharfem Doppelausguck von Mast und Bug. Konnte ja keiner wissen, was alles der Ausbruch der unterseeischen Vulkankette an Bodenveränderungen mit sich gebracht hatte. »Aber hier mich noch länger aufzuhalten, kann ich als Kapitän nicht verantworten. Der Forschungstrieb hat jetzt zurückzutreten. Erst das Schiff und die Menschen. Hinterher noch viel Wissenschaft. Hinterher. Vorerst entscheide ich: Wir bleiben in Fahrt.« Es war nichts zu machen, und man ließ dem Kapitän auch schließlich Ruhe, denn er hatte allerdings-die Verantwortung und obendrein augenscheinlich alle Hände voll zu tun. Das bedeutete angesichts des riesigen Arbeits- und Beutefeldes ringsum ein erhebliches Sichbescheiden. Inzwischen blieb es des Kapitäns erste Sorge, das Schiff wieder in normale Lage zu bringen. Bunker und Proviantlast konnten nicht so schnell umgestaut werden. Darum ließ Kapitän Winkler vorerst mal einen schottsicheren Raum auf der Gegenseite fluten, bis das Schiff einigermaßen wieder aufrecht schwamm. Die Maschine hätte in Schräglage auf die Dauer nicht durchzuhalten vermocht ohne Brüche und noch schlimmere Havarie.

»Brandung voraus!« meldete nach einigen Stunden der Mann im Mast. Der Kapitän war nicht erstaunt, obwohl er wußte, daß hier den Karten nach weit und breit kein Land sein konnte; aber er hatte mit so etwas gerechnet und war nicht ohne Erfahrung. Er ließ die Fahrt vermindern und doppelt sorgfältig loten. Horst hatte mit Pidder Karsten an den Arbeiten im Schiff teilgenommen. Als sie an Deck stiegen, nahm er einen dunklen Gegenstand wahr, der draußen auf den Wellen trieb. »Ein Boot!« rief der Alte, kaum daß auch er es erspäht. Bon der Brücke durchs Glas war mehr zu sehen von dem dunklen Ding. »Eingeborenenboot. Gekentert. Ausleger fortgeschlagen. Boot leer.« rief Friedel von dort herunter.

Fast zu gleicher Zeit schrie der Mann im Mast: »Land steuerbord voraus!« Dunkle, niedrige Felsen wurden hinter der vorher schon ausgemachten Brandung sichtbar: neuer Boden, über Nacht geboren, heraufgestoßen aus den Tiefen von der Faust des Riesen, unter dessen Atem Meer und Land gezittert. Immer deutlicher traten die Klippen hervor.

Als die neuentstandene Insel querab lag, glaubte Horst, etwas darauf sich bewegen zu sehen. Auch Friedel schien es keine Täuschung. Doch der Kapitän lachte sie aus. »Wie sollte denn was Lebendiges auf die junge Insel kommen. So fix geht das denn doch nicht mit der Besiedelung!« scherzte er, schaute aber doch noch einmal genau hinüber in plötzlichem Erinnern an das treibende Boot, stutzte, vergewisserte sich von neuem. Dann schaute er die beiden mit eigentümlichem Blick an »Jungens, der drüben dankt euch sein Leben, wenn's auch bloß ein Kanake ist!«

Wie ein Blitz durchfuhr es die Freunde ein Rausch der Freude! … Einen Menschen gefunden! Einen Menschen in Not! Und den nun retten helfen dürfen!!

Für Kapitän Winkler gab es keine langen Überlegungen. Er ließ auf die Klippe zu drehen, ganz langsam fahren. Unter stetem Loten tastete sich »Pinguin« den Felsen näher. Der Schiffbrüchige mußte, wenn er bei Besinnung war, den Dampfer längst gesehen haben, aber kein Zeichen gab davon Kunde. Kraftlos lag er in einer Mulde der Klippen.

Inzwischen waren die Mitglieder der Expedition alle wieder auf der Brücke versammelt und hatten Gelegenheit, anzuerkennen, daß Kapitän Winkler, der ihnen vorher jeden aus Gründen der Wissenschaft erbetenen Aufenthalt im Gefahrengebiet abgeschlagen, nun ohne Zögern alles daransetzte, ohne der Gefahr für Schiff und Menschen zu achten, um einen Unbekannten da drüben, einen braunen Insulaner, aber eben einen Menschen in Not, zu retten.

Da die Klippe schroff schien, hielt es der Kapitän für ratsamer, den Rettungsversuch nicht zuerst vom Boot aus zu versuchen, das kaum heran gekonnt hätte. Nachdem sich ergeben, daß nahezu keine Strömung gefährlicher Art um die Klippe lief, schob sich »Pinguin« Meter um Meter langsam vor bis in sichere Schußweite des kleinen Raketenapparates an Bord. Das Geheul der Sirenen brachte plötzlich Leben in den Schiffbrüchigen. Schnell wich sein Schrecken des Auffahrens aus der Ermattung einer noch einmal ihn neu belebenden Freude. Zischend fuhr die Rakete hinüber und zog die Leine hinter sich her. Gesten und Gebärden brachten den braunen Kanaken auch schließlich dazu, die Leine bis zum ihr folgenden Tau aufzuholen. Nun aber hieß es den Sprung wagen vom festen Felsen in die Wellen der Brandung. Eine Zumutung zu unerhörtem Vertrauen für den doch wohl erst vor wenigen Stunden – keiner noch ahnte ja, wie! – durch den festen Boden der Insel Geretteten. Es kostete ihn auch starkes Wollen, bis er den Sprung wagte. Erst als er vorsichtig das Wasser geprüft – vielleicht nach jüngster Erfahrung, ob es nicht heiß sei – und gesehen, daß der Dampfer ein kleines Boot zu Wasser ließ, um ihn aufzunehmen, wagte er den Sprung. Den Sprung des Vertrauens, die Tat des Glaubens.

Als die Matrosen des Bootes ihn über die Reeling an Deck hoben, hatte ihn nach der jähen, alles erfassenden Anstrengung schon fast wieder die Besinnung verlassen. So jung er schien, so erschöpft war er auch. Jedes Fragen wäre ohne Sinn gewesen.

So trug man ihn, nachdem der Schiffsarzt festgestellt, daß er, abgesehen von seiner Erschöpfung, heil sei, in eine Kabine, und Karsten nahm sich seiner an. Er konnte mütterlich pflegsam sein, der alte Fahrensmann. Wenn er auch dabei knurrte und brummte. Friedel mußte trotz allem Erlebten doch wieder lachen, als er ihn durch den Mittelgang balanzieren sah und schimpfen hörte:

»Nee, Pidder, dat's 'ne richtige Gemeinheit mit die vertrackten Vulkans. Wenn dat so weitergeht, denn moet nochmal de ganz Südsee versupen. Mit Dreck und Speck!«

Dabei krachte er polternd gegen die Tür der Kombüse, um von Smutje, wie er despektierlich den stolzen Koch des Forschungsschiffs immer wieder nach alter Gewohnheit nannte, das erste Essen für den erwachenden Kanaken zu holen.


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