Paul Schreckenbach
Die von Wintzingerode
Paul Schreckenbach

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XVIII. Kapitel.

Es war wohl die bitterste Stunde in Herrn Bartholds Leben, als er sich von seines Sohnes heimlicher Flucht überzeugen mußte. Als man ihm meldete, der Junker sei verritten, wollte er es zuerst überhaupt nicht glauben, sondern zuckte nur die Achseln und meinte, der Torwärter müsse geschlafen und geträumt haben. Als aber Jacob Holstein bestätigte, der Fuchs sei fort, der das schnellste und stärkste Tier des Stalles war, da fuhr er mit einem grimmigen Scheltwort empor und stürmte nach der kleinen Rüstkammer, wo er den Gefangenen sicher verwahrt wußte. Von dort war er nach Stunden erst zurückgekommen, blaß, stumm, mit erloschenem Blick, war, ohne jemand anzusehen, in sein Gemach geschritten und hatte es hinter sich fest verriegelt. Keinem gewährte er Einlaß, selbst auf die Bitten und Tränen seiner Frau hatte er keine Antwort.

Hätte einer in das Zimmer hineinblicken können, so hätte er gesehen, wie der Ritter lang ausgestreckt auf seinem Bett auf dem Rücken lag, die Hände unter dem Haupt verschränkt haltend und mit heißen, brennenden Augen zur Decke aufwärts starrend. Zumeist lag er ganz steif und regungslos, nur zuweilen hob ein tiefer Seufzer die breite Brust, und es klang durch das Gemach wie ein schauriges Stöhnen.

Herr Barthold betrauerte seinen Sohn wie einen Toten, ja, was Klaus getan, hatte ihn vielleicht noch tiefer getroffen, als sein Tod es vermocht hätte. Denn nichts haßte der Ritter so sehr, nichts erschien ihm so gemein und verächtlich, wie Untreue und Feigheit, und beides glaubte er in der Tat seines Sohnes zu erkennen. Wie konnte sich denn ein Sohn von seinem Vater lösen? War das nicht wider alles göttliche und menschliche Recht? Wäre er hart und lieblos, ungerecht und tyrannisch mit dem Sohne verfahren, so hätte er ja ein trotziges Aufbegehren des Mißhandelten und Unterdrückten verstehen können. Denn er war Blut von seinem Blute. Aber Klaus war sein Liebling gewesen von frühester Kindheit an, und er hatte ihn auch seine väterliche Liebe und Zuneigung allezeit fühlen lassen. Wie konnte ihm sein Sohn das Herzeleid und die Schmach antun, ihn zu verlassen gerade in der Zeit, wo er einen gefährlichen Kampf auf sich genommen hatte, um eben diesem Sohn das alte Erbe seines Geschlechtes zu verschaffen! War das nicht Felonie?

Es sollte kein Kampf geführt werden, kein Blut fließen um seinetwillen, hatte Klaus gesagt. Der Ausdruck tiefster Verachtung trat in Herrn Bartholds Gesicht, als er dieses Wortes gedachte. Sprach so ein Mann, der ein Schwert trug? War das nicht geredet, wie ein altes Weib? Wer den Kampf scheute, der blieb ein Knecht in dieser eisernen Welt und mußte sich ducken. So konnte sein Sohn reden und handeln, sein Sohn, in dem er sein Ebenbild gesehen hatte, dem er niemals auch nur einen Gedanken der Feigheit und der Treulosigkeit zugetraut hätte! Wenn solches geschehen konnte, auf wen mochte man dann überhaupt noch trauen! Gab es noch einen Menschen, auf dessen Treue er sicher bauen konnte? Wenn sein Sohn ihn heimlich im Stich ließ, wer bürgte ihm dafür, daß sein Weib und seine Töchter fester an ihm hingen?

Wie war das nur gekommen? Fremde Leute hatten dem jungen Menschen durch ihre glatten Reden das unerfahrene Hirn verwirrt. Klaus hatte schon seit längerer Zeit ein stilles, gedrücktes Wesen zur Schau getragen, und es kam jetzt Herrn Barthold wohl ins Gedächtnis, daß er hier und da Bedenken geäußert hatte, ob man auch stark genug sein werde, die Fehde mit dem Hohnsteiner zu bestehen, und daß er überhaupt nicht der ganzen Sache den Eifer zugewendet hatte, den man wohl hätte erwarten dürfen. Vielleicht hatte schon der Pfarrer solche Gedanken in seiner Seele angeregt, denn Herr Conrad Schneeganß hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er des Ritters Plan für unrecht und dazu hochgefährlich erachte. Aber erst seit der Unterredung mit Bertram konnte der Entschluß in ihm gereift sein, dem Erbe zu entsagen und damit der Fehde ein Ende zu machen.

So hatte denn der schlaue Hohnsteiner sein Ziel erreicht! Wie konnte er sich nun ins Fäustchen lachen! Sein Werkzeug, Bertram, hatte ja ausgezeichnet gearbeitet. Da er ihn, den alten welt- und menschenkundigen Mann, nicht hatte betören können, so hatte er sich an den arglosen Junker herangemacht. Er hatte ihn so zu beschwatzen gewußt, daß er es noch für ein gutes Werk hielt, wenn er seinen Vater im Stiche ließ. Das war eine perfide Hinterlist von Bertram, mochte er nun Betrüger oder selbst Betrogener sein. Eine furchtbare Wut stieg in Herrn Bartholds Seele empor, wenn er daran gedachte. Er hätte den ränkevollen Grafen und den gleißnerischen Vetter mit seinen Händen erdrosseln können, denn Ärgeres hatte ihm noch nie ein Mensch angetan.

Aber sie sollten sich verrechnet haben. Nun erst recht sollte von Friede und Unterwerfung keine Rede sein. Schon vorher war er stärker gewesen als sein Lehnsherr, jetzt vollends war er ihm durch den unerhofften großen Geldgewinn entschieden überlegen. Für Geld war ja alles feil, Soldknechte und Harnische, Pferde und Geschosse. Nun wollte er Krieg führen mit dem Hohnsteiner, nicht um ihn zur Nachgiebigkeit zu zwingen, sondern um seine Rache zu kühlen an dem stolzen Herrn, der ihm den Sohn hatte verführen lassen. Vielleicht kam eine Stunde, wo der Graf den Tag verfluchte, an dem er ihm, Barthold von Wintzingerode, zuerst entgegengetreten war, wo er demütig kommen mußte, um den Frieden zu erbitten. Dann mußte er ihm den Bodenstein und das ganze Gericht als freies Eigen überlassen, und Bertram hatte trotz seiner Schlauheit das Nachsehen. Denn wenn nun einmal nach Gottes Willen kein Sohn von ihm auf dem Bodenstein Herr sein sollte, so mochte wenigstens seine Tochter, die stolze, schöne Anna von Bünau, hier nach ihm gebieten. –

Als am nächsten Morgen früh die Familie und das Burggesinde in sehr gedrückter Stimmung beim ersten Imbiß saß, öffnete sich plötzlich die Tür, und Herr Barthold trat ein. Ohne ein Wort zu sprechen, ging er mit schnellen Schritten zu seinem gewohnten Sitze, dort blieb er stehen, richtete sich straff zu seiner ganzen Länge empor und ließ seine blitzenden Augen im Kreise umhergehen.

»Meine lieben Hausgenossen«, begann er mit einer Stimme, die wie grollender Donner klang. »Wie ihr wißt, ist mein Sohn Klaus mir untreu geworden und ist gegen meinen Willen und Befehl von der Burg gewichen. Somit sage ich mich los von ihm, wie er sich von mir losgesagt hat. Er ist tot für mich, er sei tot für euch! Bei meinem höchsten Zorn verbiete ich jedem, in meiner Gegenwart hinfort seinen Namen zu nennen!«

Darauf setzte er sich nieder und griff zum Messer. Das Gesinde saß wie erstarrt da und wagte kaum zu atmen. Über Frau Käthes Antlitz rollten zwei große Tränen, die junge Sophie wurde vor Schrecken ganz weiß und blickte mit ihren großen runden Augen scheu und verstört nach dem Vater hinüber. Alle schwiegen. Barbara aber konnte sich nicht beherrschen, sie brach in ein lautes Weinen aus und eilte zur Tür hinaus. Herr Barthold tat, als bemerke er es nicht.

Indessen sollte der Ritter sogleich sehr nachdrücklich daran erinnert werden, daß man einen Menschen sich nicht aus dem Herzen verbannen und aus dem Leben streichen kann, der einem jahrelang einer der Nächsten gewesen ist. Denn noch war das schweigsame Frühmahl nicht beendet, als draußen schnelle Schritte hörbar wurden. Die Tür ward hastig aufgerissen, und der Pfarrer stand erhitzt und atemlos in der Halle.

»Ich bringe Euch Nachricht von Eurem Sohne«, rief er Herrn Barthold zu.

»Ich habe keinen Sohn«, erwiderte dieser eisig.

»Was heißt das?« stammelte der Pfarrer bestürzt.

»Das heißt«, sagte Herr Barthold mit schneidender Stimme, »daß der mein Sohn nicht mehr ist, der mich feige verläßt. Er bedanke sich dafür bei denen, die ihn durch Narrenreden verführt haben, worunter – irre ich nicht – auch Ihr gehört, Herr Conrad Schneeganß!«

Ein haßfunkelnder Blick aus seinen mächtigen Augen traf dabei den Pfarrer. Der aber hielt ihn ruhig aus, trat unerschrocken an den Tisch heran und sagte ernst und feierlich: »Darüber ein andermal, Herr! Jetzt habe ich anderes zu künden. Gott der Herr selbst will Euer Herz weich machen. Euer Sohn Klaus ist vor noch nicht zwei Stunden am Brunnen unter dem Scharfenstein mit einer schweren Wunde in der Brust leblos aufgefunden worden.«

Einen Augenblick war es totenstill nach diesen Worten. Dann aber brach ein unbeschreibliches Getöse aus. Alle fuhren von ihren Sitzen in die Höhe, und Rufe des Entsetzens erschollen von allen Seiten.

Auch Herr Barthold taumelte empor, sank aber sogleich in seinen Stuhl zurück. »Er ist tot?« ächzte er.

»Gott sei Dank, nicht!« versetzte der Pfarrer. »Die Wunde ist furchtbar, und er hat viel Blut verloren, aber noch ist nicht alle Hoffnung vergeblich. Aber eilt, Herr, eilt! Herr Bertram läßt Euch bitten, sofort hinüberzureiten. Wer weiß, ob Ihr ihn noch am Leben findet.«

Herr Barthold saß eine Weile wie gelähmt mit stieren Blicken und fahlem Gesicht da. Auf einmal aber stieß er einen wilden Schrei aus, und ein wahrhaft entsetzlicher Ausdruck von Wut und innerer Qual trat in sein Antlitz. »So? Ich soll hinüberreiten? Wer bürgt mir, daß ich zurückkomme? Erst läßt man den Sohn verführen, dann schlägt man ihn meuchlings im Walde nieder, dann soll der Halbtote den Vater ins Garn locken? Eines Teufels würdig, solch ein Plan! Gott verdamme den Grafen von Hohnstein und alle seine Helfershelfer!«

Der Pfarrer trat erschrocken zurück und rang die Hände. Wie sollte er diesen Verdacht entkräften? Der alte Mann, der im Laufe seines Kriegerlebens so viel List und Verrat, Gemeinheit und Teufelei gesehen hatte, war durch bloße Beteuerung nicht zu überzeugen. Was nützte es, wenn er ihn auf den ehrenhaften Charakter Bertrams hinwies? Bertram war für den Tiefgereizten der schlaue Verführer seines Sohnes, dem er, ebenso wie dem Hohnsteiner, jetzt das Schlimmste zutraute.

Es entstand eine schwüle Stille. Da öffnete sich wieder die Tür, und Barbara trat herein. Sie hatte draußen von dem Knechte des Pfarrers alles erfahren. Mit versteinerten Zügen und unnatürlich weit geöffneten Augen trat sie an den Tisch heran, wo Herr Barthold saß, und ihm starr ins Gesicht blickend, fragte sie: »Ihr reitet hinüber, Herr?«

»Ich kann nicht«, stöhnte der Ritter. »Die Schurken stellen mir eine Falle, sie wollen mich fangen.«

»Dann gehe ich hinüber«, sagte die Jungfrau fest.

Frau Käthe fiel ihr mit einem halberstickten Schrei um den Hals und brach in Tränen aus. Von allen Seiten erklang dumpfes Beifallsgemurmel.

»Du?« rief Herr Barthold. »Wie kommst du dazu?«

»Euer Sohn hat mir Leben und Ehre gerettet!« rief Barbara. »Aber das ist es nicht allein, was mich zu ihm treibt. Ich will die Wahrheit sagen.« Sie stockte, und Purpurglut trat ihr ins Antlitz, als sie mit leiser Stimme fortfuhr: »Ich bin Eures Sohnes verlobte Braut, Junker Klaus hat mir gesagt, daß er mich liebe und mich zu seinem Weibe machen wollte. Mein Vater, das wußte ich, hätte mich ihm nie verweigert, denn er dankte ihm ja auch sein Leben. Und auf Euern Segen hofften wir.«

Herr Barthold sank stöhnend in seinen Stuhl zurück. »Den hättet ihr gehabt«, sagte er mit erstickter Stimme. »Es war mein Wunsch, euch zu vermählen. Ach Gott, wie hätte alles anders kommen können!«

Da stürzte Barbara zu ihm hin, schlang ihre Arme um seinen Hals und rief unter leidenschaftlichem Schluchzen: »Und ich Unselige habe ihn in die Todesgefahr gebracht! Ich billigte seinen Plan, er erschien mir schön und edel! Ich habe die Riegel zurückgeschoben und ihm zur Freiheit verholfen. Ich wollte sein Bestes. Ich konnte nicht anders! O verzeiht mir, verzeiht mir! Ich konnte ja nicht anders!«

Herr Barthold saß ganz still da und rührte sich nicht. Er war noch bleicher als vorher, und seine Brust hob und senkte sich unter schweren Atemzügen. Endlich sprach er müde und langsam: »Wer will die Natur ändern? Das Weib muß dem zu Willen sein, den es liebt. Ich zürne dir nicht, Kind, du tatest, was du mußtest. Nun sage deinem Vater, was du tun willst, und dann reite getrost hinüber. Dir droht im Scharfenstein keine Gefahr. Ihr, Pfarrer, werdet ihr das Geleit geben. Jacob und Lips mögen mit Euch reiten.«

Barbara löste ihre Arme von seinem Halse und sank vor seinem Stuhl nieder. »Und was soll ich ihm von Euch sagen, wenn er zu Leben und Bewußtsein erwacht?« fragte sie flehend.

Der Ritter schwieg eine Weile, und in seinen Zügen arbeitete eine heftige Bewegung. Endlich erwiderte er: »Sage ihm, sein Vater bete stündlich um seine Genesung. Und wenn Gott ihn gesund machen sollte und er als gehorsamer Sohn – verstehe mich wohl – als gehorsamer Sohn zurückkehren wolle, so solle alles vergessen sein.«

Barbara erhob sich von den Knien und erfaßte seine Hand. »So lebt wohl«, sagte sie.

»Halt!« rief Herr Barthold. »Noch eins. Es ist möglich, daß Bertram meinen Sohn nicht zurückkehren läßt, wenn er mir gehorchen will. Denn der Diener eines Schuftes muß handeln wie ein Schuft, wenn ich auch nicht glaube, daß er um den Mordversuch gewußt hat. Das sähe einem Wintzingerode doch zu unähnlich. Das wird der Wolf von Hohnstein getan haben auf eigne Hand. Will er aber Klaus hindern, seine Sohnespflicht zu erfüllen, wenn Gottes Gnade ihn gesund macht, so sage ihm« – hier nahm des Ritters Stimme den alten stählernen Klang wieder an – »sage ihm, es seien schon zwei Geschütze von Erfurt unterwegs nach dem Bodenstein, denen die Mauern des Scharfensteins nicht drei Tage widerstehen könnten. Und nun gehe! Gott mit dir.«


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