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Ein altes Mütterchen nahm ihr die Klinke aus der Hand und suchte Hilfe für ihre mannigfaltigen Leiden, und noch andere kamen mit wirklichen und ersonnenen Nöten, meist mit beredten Worten über die Last ihrer Krankheit zu klagen. Denn manche vermeinten, das besondere Vorrecht vor allen Menschen auf den Besitz ihres eigensten Leidens zu haben, gleichsam als hätten sie endlich diese Erkrankung zum Segen der Menschheit entdeckt, könnten sie aber noch nicht mit anderen teilen, und waren gekränkt durch meinen Hinweis, seit Zeiten seien solche Erscheinungen den Kranken und Ärzten bekannt.
Die Schwester wollte schon den Letzten herüberführen vom Wartezimmer, als ein sechsjähriger Junge ankam, mit breiter Stirnwunde, aus der das Blut quoll und über das eine Auge floß, das er mit einem blaugetupften Sacktuch vergeblich auszuwischen suchte.
Der Kleine blutet ja, der soll zuerst hinein, sagte der Alte, dem ein grauer Bart über die Brust wallte. Aus seinen Augen sah viel Güte, das Gesicht, von vielen Runzeln bedeckt, war von stiller Würde. Leicht gebückt stützte er sich auf seinen Knotenstock und wartete bereitwillig auf seinen Aufruf.
Der kleine Robert stellte sich breitbeinig vor mich hin. Ich tupfte die Wunde aus und sah, wir würden nähen müssen. Als ich die Spritze brachte, um die Nerven unempfindlich zu machen, sagte der Junge: Man brauchts bei mir nicht einzuspritzen, ich bin schon einmal geflickt worden. Den Einstich der Nadeln ertrug er ohne Wimperzucken. Ob es nicht schmerze? – 's ist bloß, bis es vorbei ist! war seine Antwort. Während ich die Fäden durch die Wundränder zog, erzählte er so beiläufig, sie hätten gespielt, einer hab ihm den Fuß gestellt, und da sei er gegen die Mauerecke geschlagen –
– und hab gottsjämmerlich geschrieen – setzte ich lächelnd hinzu.
Das nicht grad, sagte mein kleiner Freund, aber gegeben hab ichs ihm, den Ranzen hab ich ihm verschlagen. Aber dann bin ich gleich hierher. Denn so kann ich doch nicht heimkommen, da tät ja sonst die Mutter verschrecken. Der Verband saß. Wir drückten uns männlich die Hand, beide der Feierlichkeit der Stunde bewußt. Schon an der Tür, drehte er sich noch einmal um: Also ich dank auch schön, und das nächstemal wieder bei Ihnen, Herr Doktor!
Während man seine Nagelstiefel noch die Treppe hinunterpoltern hörte, kam der Alte mühsamen Schritts herein. Er setzte sich bescheiden, aber voll Würde seiner Jahre hin und wartete, bis ich ihn fragte, wo's fehle. Wenns dem Herrn Doktor jetzt ungeschickt ist, weil es schon spät geworden und so viel Leute da waren, kann ich auch ein andermal wiederkommen, sagte er einfach.
Das also gibts noch, dachte ich bei mir, daß einer nach langem Warten Rücksicht auf den Arzt nehmen will, während doch alle sonst sich daran gewöhnt haben, den Arzt als ihren Angestellten zu betrachten, oder als eine staatliche Einrichtung, die auszunützen man nach Kräften bestrebt sein müsse.
Und dabei sah ich, wie sauer ihm der Weg geworden sein mußte. Immer überlegte ich, woher ich den Mann kannte, aber es fiel mir nicht ein. Auf seinen Stock deutend, sagte ich, er hätte leichter mich gerufen, ich, der Jüngere, hätte ihm schon den Weg abgenommen.
Wenn man so viel zu tun habe wie der Herr Doktor und sicher auch richtig Kranke, da habe er mit seinem leidigen Sach nicht rufen mögen. Er habe bloß ein bißle Schnaufen und das Gehen sei schlechter geworden und das Kreuz und der Magen täten manchmal ein wenig weh, aber das, wisse er wohl, das komme halt von den Jahren, darüber wolle er gewiß nicht klagen. Aber da sei noch so ein Schmerz in der Nierengegend, da, ja, unter den Rippen, das fahre oft in ihn hinein wie mit glühenden Messern. In ungeschlachten Worten malte er plastisch die Nierensteinkolik. Aber er wolle beileibe nicht klagen, er wisse, jung machen könne man keinen. Er sei halt wie ein alter Baum, verwittert und verbogen, aber man müsse eben ausharren, bis es Zeit sei zu gehen, bis der Herrgott einen rufe, und solang sein Sach tragen. Und sonst sei er übrigens noch rüstig und ginge in sein Gärtle, denn da habe er immer den ersten Salat und Gemüse und Blumen. Er danke es dem Herrgott, denn die könne er doch alleweil noch versorgen.
Da stand er vor mir, hager und gebeugt vom Alter, ledern lag die spröde Haut über den Knochen. An die gotischen Steinfiguren des Nürnberger Meisters Krafft erinnerten Antlitz und Haltung, wie ich ihn sah.
Ich röntgte ihn und fand den kinderfaustgroßen Stein. Was mußte er für Qualen haben und wie ertrug er sie! Dann, als er mit zitternden Händen sein Beutelchen zog und nicht begreifen konnte, daß das keine Sache sei, die man mit Münzen ausmache, sondern daß das ein gegenseitiges Vertrauen sei, erzählte er, er habe schon immer gedacht, ich müsse doch ein guter Arzt sein. Denn wer so Kornsäcke auf dem Rücken zu tragen vermöge wie ich, und in seine Augen trat der Glanz der Erinnerung, ja damals, vor jetzt bald zwanzig Jahren, als Nothelfer bei der Ernte, als Schüler, weil seine Buben im Krieg waren – da erkannte auch ich ihn wieder und des Erzählens und der Freundschaft war kein Ende.
Hoch, unterm Dach lag unsere Wohnung. Kam da doch andern Tags mein alter Freund die vier Stiegen heraufgeklettert, fast eine halbe Stunde brauchte er dazu, weil der Atem und das Herz nicht mehr wollten, und brachte meiner Frau einen Strauß Blumen aus seinem Gärtle, das weit vor der Stadt lag, und ein Körble Gemüse, gabs ab, »als Dank für die noblichte Behandlung«.
Wie anders doch war er als jene Kranke gestern, deren mehrfachen Anruf um einen Besuch ich heute schon abgelehnt hatte. Da aber erschien ihr Mann selbst bei mir und bat mich zu kommen.
Ich sprach ruhig mit ihm und empfahl ihm, sich mehr um die Frau zu kümmern, und schreckte dabei vor Worten nicht zurück, die für Hysterie und Tollheit nur zarte Umschreibungen waren.
Wie aber überraschte sie mich, als sie mit hohem Fieber zu Bett lag. Auch dies Fieber hätte ich ihrer Kunst noch zugetraut, hätte ich nicht eine schwere doppelseitige Lungenentzündung feststellen müssen.
Des öfteren kam ich nun zu ihr und sie wurde höflich und still, und jetzt, nach vielen Tagen, als sie die Nähe des Todes gefühlt, und ihr Herz die Nacht der Krisis überstanden hatte und sie wieder dem Leben gehörte, als sie die ruhige Arbeit des Arztes gesehen, die höher über den Dingen des Lebens stand, als sie damals vermeinte, jetzt begann sie sich schweigend zu schämen. Ich sah, wie sie still war und gut, nur vernachlässigt und einsam.
Die Versetzung ihres Mannes brachte ihr die empfohlene Veränderung. Manchmal, nach Jahren noch, kamen Briefe voll Feinheit und Wärme und neulich ihr Bild samt dem ihres Mannes und ihrer Kinder, die ihr damals gemangelt.
In jener Zeit waren wir selbst nur zu zweit, und da wir keine Kinder hatten, kannten wir den Begriff der Heimat noch nicht. Wir wußten noch nicht, daß ein Kinderlachen am Abend den ganzen Tag mehr zu erhöhen vermag als viele Stunden der Fahrt über weite Gefilde der Ferne, wir wußten noch nicht, daß es nur einen Besitz gab außer Gesundheit: das Kind.