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Warum mußte es wieder ein Sonntag sein? Ich erwachte gestärkt, durch den Kellereingang fiel die Sonne des Morgens.
Ich bekam einen halben Becher heißen Kaffee, und der Sanitätsgefreite entschuldigte sich bei mir, hier, dicht hinter der Linie, daß er mir keinen ganzen geben könne, da sie eben alles auf alle verteilen müßten.
Noch verwunderte ich mich darob, als mich der eine der Ärzte fragte, ob ich mich kräftig genug fühle, auf dem Bock des Sanitätswagens mit zurückzufahren.
Schon fuhr unser leichtes Gefährt über die holperige Straße in die Morgensonne hinein, gezogen von zwei mageren Braunen. Über meinem Haupte wehte die Rotekreuzflagge.
So geborgen fühlte ich mich, so befreit von allen Sorgen und Spannungen, so gelöst in der Frische dieser Stunde. Zwar schoß sich eine Batterie nach uns ein, aber der Galopp unserer Rösser verbarg uns rasch hinter einer Waldecke, und bald darauf fuhren wir in den Hof eines Landhauses, dessen schönes schmiedeisernes Tor weit offen stand. Dort drängte alles durcheinander, Verwundete, Ärzte, Träger mit Bahren, Sanitäter. Alles schien Auflösung und schleunige Flucht.
Ein großes Auto stand abfahrtbereit. Bahren mit Schwerverwundeten wurden hineingeschoben. Der Arzt, der dabei stand, fragte, ob ich mir eine Fahrt neben dem Fahrer zutraue, und schon saß ich, zu meiner Verwunderung, im Führersitz des Autos, das fast im selben Augenblick in schlanker Kurve aus dem Tor fuhr.
Im gleichmäßigen Tempo fuhr der Wagen in den Tag hinein. Weiter, weiter zurück trug mich die Fahrt durch die brennenden Farben eines Laubwaldes, zurück über gute, unversehrte Straßen. Beseligt schloß ich die Augen, lauschte dem Summen des Motors, das mich wie eine beruhigende Melodie, wie ein altes, vergessenes Lied umklang. Durch die goldenen Bogen des Mittags, die die Baume des Waldes verbanden, fuhren wir dahin.
In ein Städtchen kamen wir, zum Hauptverbandplatz. Ich stieg aus und hatte ein schlechtes Gewissen, als das leere Auto ohne mich wieder zur Front fuhr. Da stand ich, sah dem Wagen nach, der mich hergebracht und mußte mir immer wieder sagen, daß es in Ordnung war und seine Richtigkeit hatte, daß ich hier blieb.
Andern Tags sprach mich ein junger Kamerad an. Ich erkannte ihn, er war als Ersatz vor dem Gegenstoß in mein Gewehr gekommen:
Ich bin noch der einzige, sagte er. Du warst nicht lange aus der Stellung heraus, da schlug ein Volltreffer über das Gewehr herein, wo du gelegen. Alle sind tot.
Ein langer Zug voll von Unglück und Schmerzen trug uns in langsamer Fahrt aus dem Land unseres Krieges zurück. Auf einmal waren die Aufschriften der Bahnhöfe wieder deutsch. Wir durchfuhren die Pfalz, die im Purpur ihrer Herbstwälder aufbrannte. Hänge, von rotem Gold überflossen, dehnten sich zu Seiten der Bahn. Friedliche Täler durchfuhren wir, Leute winkten uns zu. Es war alles unfaßlich, es konnte nicht sein. Es konnte nicht sein, daß ich hier der Heimat zufuhr, ich, der die Liebste verloren, während drüben in Frankreich der Freund lag, auf den in der Heimat eine Frau vergeblich wartete.
Wie anders war diese Heimkehr geworden, als ich sie mir damals gedacht. Wie traurig nun alles. Statt des Sieges die zusammenbrechende Front, die doch unser innerer Halt, unser eigentliches Leben war. Denn was waren wir ohne Deutschland, dem wir zugehörten mit allen Fasern unseres Seins!
Spät abends kamen wir in der großen Stadt an, und alles drängte sich, hier unterzukommen. Nur ein Teil der Kameraden sollte in einem Dorf in der Nähe untergebracht werden. Wenige meldeten sich. Auch ich war darunter, und in später Nacht kamen wir an.
Wir standen vor dem Schulhaus, das als Lazarett eingerichtet war, und klingelten um Einlaß.
Und das kam mir wie eine uralte Einrichtung vor. Daß man an einem Haus, in das man hinein wollte, eine Klingel zog, die drinnen richtig läutete, anstatt eine Handgranate an die Klinke zu hängen. Und daß man wartete, bis einem aufgemacht wurde. Es war wie in einem Märchen von alten, versunkenen Zeiten, in denen es so etwas noch wirklich gegeben.
Über dem dunklen Giebel des Hauses dehnte sich weit die Nacht. Und auch hier wieder, wie draußen so oft in Stunden der Gefahr, glänzten über mir die Sterne, wiesen mich hinauf zu dem Großen und Schönen, das über allem ist.
Ein altes Mütterchen, vor dem mich zu entkleiden keine Scheu kostete, wusch mich wie einen Jungen in einer alten Zinkbadewanne in der Waschküche des Schulhauses.
Die leichten Bewegungen ihrer Hände verrieten, daß sie diesen Dienst nicht erst jetzt unter dem Zeichen des Roten Kreuzes gelernt hatte. Schon seit Jahren wusch sie die Leiber ihrer Mitbewohner: sie war des Dorfes Totenfrau. Wohlig umspülte das heiße Wasser die verdorbene Haut, überirdische Wonne war es, die Glieder zu strecken, das Kreuz durchzubiegen, unterzutauchen bis an den Hals und so bewegungslos zu verharren, während die Wärme des Wassers eindrang in die Poren der Haut und die Nerven entspannte. Knurren sollte man können vor Lust und Wohlbehagen wie ein Tier, denn es gibt keinen Laut der menschlichen Sprache, der so das Wohlgefühl auszudrücken oder gar noch zu steigern imstande wäre.
Mit einem Lächeln, das ihr Großmuttergesicht in Falten legte, die manche Sorge ihres Lebens verrieten, zog sie mir aus dem Heiligtum ihres Wäscheschranks ein neues Linnenhemd und, als besonderen Schatz, zwei schönkarierte Taschentücher. Ich hatte ihr Herz so sehr gewonnen, wie sie das meine.
Und dann kam ich in den Schlafsaal. Zwei Reihen richtiger Betten!
Und hier das meine! Rotkarierte Daunendecke, schneeweißes Leintuch, Kopfkissen, weiche Kissen, die statt des Tornisters oder des einen Armes unter dem Kopfe liegen würden. Alles roch nach frischem Leinen und Seife.
Wie lange hatte ich diesen Geruch entbehrt. Ich kroch unter die Decke – am liebsten hätte ich mit den Beinen gestrampelt, wie ich es als kleiner Junge getan – dehnte die Arme und das Kreuz, hatte das Gefühl völligen Geborgenseins, und ehe ich kurze Worte des Dankes zu Gott stammeln konnte, der mich dies, wieder in einem Bett zu schlafen, erleben ließ, einmal unter einem sauberen Deckbett die Beine ohne Sorge um das Leben auszustrecken, da war ich schon entschlummert. Eineinhalb Tage schlief ich durch.
Als ich dann erwachte, war es Morgen. Durch ein großes Schulfenster fiel die Herbstsonne; die roten Karos des Deckbetts stammten unter ihrem Leuchten auf, fast wie jenes Kinderröckchen damals – wie gegenwärtig war alles – und da war alles weggeschlafen, die Monate in Sumpf und Feuer, die Trauer um alles, was ich verloren; da war nur die Tatsache dieses Morgens, dieses Erwachen, die unumstößliche Tatsache, daß ich lebte, lebte und genoß. Nicht aus alten Kochgeschirren, von denen der verbrannte graugrüne Lack absprang, aus Kaffeetassen, von weißen Tellern wurde gefrühstückt. Gab es auch nur ein wenig Rübenmarmelade und zwei Scheibchen Brot, so war doch der Kaffee heiß und wurde aus weißen Kannen eingegossen, und es gab ein Stückchen Zucker dazu. Es war viel, zuviel, um an die Wirklichkeit zu glauben. Fast meinte ich, daß meine Verwundung doch zu leicht sei, im Vergleich zu dem, was ich an Schönem hier empfing, und fürchtete fast, der Arzt, dem ich nachher vorgestellt werden sollte, könnte mein Hiersein am Ende mißbilligen, da ich mich frei bewegen konnte und nur einen Arm zerschossen hatte.
Es war aber ein freundlicher, älterer Herr, der Dorfarzt, der mit der geübten Hand des Praktikers, der auch außerhalb weißlackierter und desinfizierter Operationssäle hier im Notbehelf dieser Räume und mit kärglichstem Material die Wunden wohl zu werten und zu versorgen wußte, meinen Arm fürsorglich verband und ihn in eine Schlinge legte.
Ausgang, man hatte Ausgang. Das hieß, keiner schoß, keiner fragte nach einem, es gab keinen Befehl, der einen zum Gegenstoß in die zerbrochene Front warf, es gab keine Hetzjagd durch Granat- und Schrapnellfeuer, kein Hindurchpatschen durch knietiefen Sumpf, durch Streufeuer der MGs, kein furchtsames Sichzusammendrücken unter dem Geheul der Geschosse – aufrecht, unbehindert, unbeschmutzt. Schritt für Schritt, den man nach Belieben setzen konnte, wohin man wollte, ging man seines Weges, die Dorfstraße hinunter, hinaus in die Wäldchen der Umgebung.
Ich spürte es wohl: die großen Ferien waren angebrochen, die großen Ferien dieser Kriegsjahre. Wochen ohne Sorgen lagen vor mir, Weite, Ungebundenheit, Stille.
Und wieder standen hier Birken, und wieder jagten hier Jungen – wiederholte sich denn wirklich alles? – ein Eichhörnchen über ein paar Föhren hinweg.
Und wieder war es Sonntag, und alles war wieder still, und alles war wieder fröhlich, von einer Freude, die aus diesem Tag in mich eindrang, wie das Strahlen der Sonne in die lichthungrige Haut des Körpers, die unrein und verbleicht war im Dunkel der Stollen, im Panzer der ewig schmutzigen Kleider der Front.
Ich ging meines Wegs. Rot brannten die sonnenbeschienenen Stämme der Kiefern vor dem Blau des Mittags. Wohl dachte ich des Freundes und seines Todes. Aber es war nichts Graues, Belastendes mehr dabei. Über aller Trauer, über allem Schmerz war dies eine Gefühl: es ist Sonntag – ich lebe.
Daß die Front vorn zusammenbrach, witterten wir alle im Lazarett mit dem Instinkt der alten Krieger. Wir waren auf die kärglichen Tagesberichte und Zeitungsnotizen nicht angewiesen.
Fast allen war es eine Entspannung, eine Erlösung. Wohl glaubten manche wirklich, es sei zu ihrem Guten oder gar Besten; aber auch alle jene, die dem Gerede vom Frieden als Freiheit und Besserung ihres Lebens nicht glauben konnten, auch alle jene empfanden den »Frieden um jeden Preis« als gut, als Hilfe in höchster Not, weil sie dann nicht mehr hinaus, nicht mehr vor brauchten in die Hölle der Front, weil sie nach Hause, weil sie heim durften zu den Ihren. So stark brannte der Wunsch der Heimkehr auf ihren ermüdeten Seelen, daß ihnen der Preis eines verlorenen Krieges, eines ehrlosen Friedens nicht zu hoch erschien, ob er gleich Jahre der Bitternis und der Armut nach sich bringen würde.
In einem Taumel, der die Sinne auch der Ruhigen ergriffen hatte, rissen sie sich die Kokarden von den Mützen, traten mit Füßen, was ihnen Sinnbild gewesen für Würde, Freiheit und Volk.
Weil ich das Zeichen, das ich im Feuer getragen, als einziger und jüngster nicht abtat, sondern nun bewußt und stolz trug, wollten sie mir die Mütze herunterreißen, mich schlagen. Meiner ruhigen und ernsthaften Entschlossenheit, Widerstand zu leisten, zu kämpfen um das, was mir wichtig und heilig war, verdankte ich, daß sie es nicht wagten. Wohl wurde mir, als Ausgeschiedenem aus dem Kreis der neuen Kameradschaft, am selben Abend meine ganze aufgesparte Löhnung von vielen Frontwochen entwendet, und eine geschlossene Mauer stand gegen mich, den allen bekannten Dieb zu decken; aber es ließ sich leichter tragen als der innere Verlust, die Erkenntnis der Auflösung von Zucht und Ordnung, die uns allen bisher heilig gegolten.
Der neunte November kam heran. Schon vorher war Flüstern und Gelächter, und dann, am Nachmittag, wurde die Revolution ausgerufen und gefeiert. Man hatte mir die Vorbereitungen verschwiegen. Ich war ein anderer, einer, der hier nicht mitmachte. Ich gehörte nicht mehr dazu. Es schmerzte mich kaum, denn ich selbst fühlte, daß ich mich, der ich noch vor vierzehn Tagen im Feuer der Front gestanden, ihnen nicht zuzählen durfte. Und fremd war mir der Sinn ihres Umzugs, mit dem sie ihren Frieden und ihren Sieg zu feiern begannen.
Mehr als sie selbst wußten, war dieser Zug äußeres Zeichen dessen, wofür sie marschierten, und sie spürten wohl nicht, wie verneinend ein anderer Geist das beurteilen würde, dessen sie sich brüsteten.
Voraus ritt, auf einem ungesattelten Ackergaul, an dessen Halftern rote Fetzen hingen, ein Offizierstellvertreter. Auch einer, dessen Ehrgeiz durch die erreichte Stellung nicht befriedigt worden war, der mehr scheinen wollte, als er galt. Die kokardenlose Mütze saß schief wie bei einem Betrunkenen auf dem Kopf, der Waffenrock war nicht zugeknöpft, sein Gesicht brannte vor Leidenschaft und Ehrgeiz, seine Stiefel starrten vor Schmutz. Der Geist der Auflösung ritt mit ihm an mir vorüber. Hinter ihm kam die johlende Menge der neuen Kameradschaft. Schreiend, zügellos war ihr Aufmarsch, ohne Ordnung, ohne Reih und Glied. Ein paar trugen rote Binden am Arm, die ihr ganzes Wesen zu verändern schienen, so, als hätte dies auch innerlich etwas anderes, etwas Bedeutendes aus ihnen gemacht, das sie sich nicht etwa nur einbilden zu müssen glaubten, sondern von dessen Wirklichkeit sie überzeugt waren.
Der Zug hielt vor dem Haus des Arztes, des einzigen Mannes im Dorf, dem sie fraglos zu wirklichem Dank verpflichtet waren, der ihre Schmerzen gelindert, der ihre Wunden geheilt hatte. Schreien erfüllte die Straße. Von der Höhe seines Rosses hielt der Führer des Zugs eine Ansprache an jene, die in ihm und der in ihm verkörperten Auflösung und Zuchtlosigkeit das Zeichen der neuen, segenbringenden Zeit sahen. Kaum zu verstehen waren seine plump herausgeschrieenen Worte, alle aber schrieen mit ihm auf, als er seine Rede beendet. Weiter gröhlte der Zug durch die Straßen des Dorfes. Lange sah ich ihm nach. So brach nun alles zusammen, so war dies, das ich hier gesehen, Symbol der neuen Zeit. Daß uns Gott vor dem behüte, was nunmehr unausbleiblich schien: vor der völligen Niederlage im Feld, die unsere Heimat treffen, und in ihr gerade die am härtesten treffen würde, die nun die letzten Bindungen der Ordnung und damit den letzten Widerstand zerrissen.
Dafür hatten wir draußen gestritten, dafür waren wir durch das Feuer der Front gegangen, um so nun niederzubrechen, so nun uns selbst zu verraten.
Frieden und Freiheit und Brot!
Warum hatten wir es so weit kommen lassen!