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Sie werden heute wieder nicht kommen, sagt einer. Jeder weiß, er meint die Essenträger. Wieder vierundzwanzig Stunden werden wir warten müssen, Hunger und Durst übertäuben. Und ob sie morgen nacht dann durch das Feuer kommen? Und ob wir morgen nacht noch leben? Der Lärm des Feuers schwillt kurz auf, das Tuch am Stollengang wird beiseitegerissen: zwei stehen aufrecht vor den Kerzen, große Wegstöcke in der Hand statt der Waffen, über den Schultern statt der Tornister große Kannen, statt der Handgranaten Brot und Büchsen in den Säcken. Die Essenträger. Wir starren uns an. Ist es möglich, daß ein Mensch lebend durch diese Hölle kommt? Sie denken: Ist es möglich, daß Menschen dies Feuer, hier untätig im Stollen hockend, Stunden um Stunden aushalten, ohne daß ihnen die Nerven zerreißen, ohne daß sie hinausstürzen und durch das Feuer zurücklaufen?
Sie haben Verluste gehabt. Denn Sperrfeuer liegt über dem rückwärtigen Anmarschfeld. Sie bringen Neuigkeiten. Dort haben sie angegriffen, der ist verwundet, der gefallen. Aber durchgebrochen sind sie nirgends. Ihre Gegenstöße sind bis jetzt zusammengebrochen. Wir bleiben noch hier in Stellung, dürfen noch nicht heraus.
Ein großer Suppenkessel rinnt, ein Splitter hat ihn durchschlagen. Ein brauner Strahl schießt an der Seite heraus. Auffangen, was zu retten ist. Und dann, Brot, ein Stückchen Fett, ein Löffel Rübenmarmelade. Auf einem alten Packpapier wird verteilt.
Die Suppe ist saures Wasser. Schweigend wird sie gelöffelt, eine Scheibe Brot hineingetaucht. Und dann wird der Brotsack ausgeschüttet: Post – Post! die Heimat! Namen werden aufgerufen – ich höre nur ihren Klang, ich verstehe keine Worte – dort, fast zuunterst, habe ich den länglichen, graublauen Umschlag erspäht – kann es sein – ist es ein Brief von ihr? Wie langsam leert sich das Häufchen Post in der Hand des Zugführers, jetzt – noch drei, zwei Briefe, und jetzt – es ist ihre Schrift, es ist Evelyns Brief – Ich reiße den Umschlag mit zitternden Händen auf und schlinge die Worte in mich hinein.
Du schreibst mir, Evelyn, Worte, die ich kenne, die sind wie du und eine Bewegung deiner Hände – – –
Das unaufhörliche, nervenzermürbende Trommeln des Feuers oben reißt plötzlich ab. Wie ein Schlag bricht die Stille herein. Von der ersten Linie tacken die Gewehre. Sie kommen. Hinauf!
Nachtangriff. Auf dem Hang gegenüber der Feind, unter uns in der Senke, unser erster Graben. Ein Flackern, ein Leuchten, ein Lärm die ganze Linie entlang.
Aus dem Schatten der Trichter stürzen die Angreifer heran, hier, dort, nur für Sekunden auf- und vorspringend. Schwarze geduckte Gestalten hetzen durch die weißen Kreise der Lichtschirme, alles ist Tumult, Knallen der MG, Krachen der Handgranaten. Da steigt ruhig eine rote Rakete hoch in den Himmel hinauf: Sperrfeuer!
Und ehe ihr glühender Stern wieder den Boden erreicht, krachen auch schon die ersten Granaten der Unseren ins Vorfeld und werfen den eisernen Wall vor die stürmenden Feinde.
Korn und Kimme rücken als Schatten vor den Lichtkreisen der Leuchtkugeln ineinander. Ich erfasse die vordersten Ketten. Der Lärm des eigenen Gewehrs schlägt mir ins Ohr. Ich halte die ganze Garbe auf einen vorspringenden Trupp. Sie torkeln durcheinander, bleiben liegen, da, dort, ich lasse das Visier aufsitzen, etwas tiefer noch – sie laufen in meinen Geschoßstrahl hinein, sie fallen. Mit dem Rad der Tiefenstreuung nehme ich den Lauf tiefer, das Feuer kürzer. Keiner entkommt. Da stockt das Feuer. Der Patronengurt läuft nicht durch. Hemmung! Und dort unten laufen sie an gegen unsere Linie! Ich reiße das Gewehr herüber, will den Gurt hereinziehen. Ein Gewicht hängt dran, der Schütze. Er ist getroffen. Mit beiden Händen hält er, zusammenbrechend, den Gurt, will ihn weiter zuführen, hält ihn aber fest mit seinem hinsinkenden Leib. Ich fasse ihn, der laut aufstöhnt, unter den Armen, lege ihn auf die zerschossene Grabensohle, winke, schreie in den Lärm hinein. Plötzlich ist einer neben mir. Ich kenne ihn nicht, er scheint von einem anderen Gewehr, faßt mit ruhigen Händen den Gurt, führt zu. Wir schießen wieder. Wir schießen, und drunten werden die Ketten zerfetzt und fluten zurück.
Ganz rasch wird es Tag. Grau und verwüstet sind unsere Gesichter. Vor mir steht der Freund, er hat mir zugeführt. Sein Gewehr hatte ein Treffer zerschlagen, da kam er zu mir. Wir wundern uns nicht, es ist kein Zufall. Wir gehören zusammen.
Regen und Sumpf, Feuer und Krankheit. Wie viele Wochen sind es nun schon, daß wir hier liegen, wie viele sind es schon, die hier verblutet? Wir zählen sie nicht. Wir sind zu müde. Als nach vielen Fehlmeldungen endlich der wirkliche Befehl kommt, der uns, den kärglichen Rest, hier herausruft, da glauben wir ihn nicht.
Aber es ist so. Wir, die wenigen, die noch leben, die zu müde sind, sich zu freuen, wir kommen hier heraus. Auf der Fahrt aus der Stellung – die gleichen Lastwagen fahren uns, aber es genügt ein Drittel – sehe ich auf einer halbzerschossenen Parkmauer Blumen blühen, und in der Tasche habe ich einen Brief meiner Liebsten.
Ein Zug, ein richtiger Eisenbahnzug!
Ich kann es nicht lassen; ehe ich einsteige, muß ich einmal vor zur Maschine laufen: sie hat einen Dampfkessel, Antriebstangen, und ich muß erst einmal die Bretter des offenen Güterwagens betasten – es ist so schön, eine richtige Eisenbahn.
Und dann fahren wir zurück, außer Schußweite. Immer ruhiger wird die Nacht und immer schöner. Über mir ist der Himmel mit Wolken verhangen, aber ab und zu blinkt ein Stern unter den wehenden Wolkenfahnen durch. Ich denke an die, die zurückbleiben, und daß ich noch lebe. Ich denke an Evelyn.
Durch einen Wald fahren wir. Unzerschossene Bäume mit Laub auf den Zweigen. Das gibt es also noch? Weiße Stämme, Birken! Warum bin ich darüber, gerade darüber so glücklich, daß wir durch einen Birkenwald fahren? In den dämmernden Morgen geht es hinein. Und auf einmal, ganz rasch, wächst aus blaugrauen Hängen die Sonne herauf, uns alle übergießend mit roter Glut. Auf dem eisernen Haken, der die Wagenseiten zusammenhält, blinkt ihr Widerschein auf, tanzt darauf hin und her wie ein kleines, funkelndes Spielzeug.
Schlafen – sehr lange schlafen. Das war das erste. Und dann: waschen, mit heißem Wasser waschen, neue Wäsche auf den zerkratzten Leib, die ausgestaubte Feldbluse, die Schnürschuhe.
Und jetzt ist Sonntagmorgen. Ich verstehe, daß das nur ein Sonntagmorgen sein kann, Sonnenschein über Riedgras, ein Wiesenrain mit Birken bestanden, ein richtiges Birkenwäldchen.
Wir schlendern durch das stiefelhohe Gras, lassen die Blumen über unsern Schuhen zusammenschlagen, haben ein Blatt im Mund und die Hände tief in den Hosentaschen, Ernst und ich. Ja, es muß Sonntag sein heute.
Dann sitzen wir am Wiesenrain und sehen drüben am Bahndamm die Sonne flimmern. Wir sitzen lang und reden kein Wort. Jeder hat so viel zu bedenken, jeder hat so viel Schönes aus sich herausgekramt, daß man es gar nicht erst sagen kann.
Auf einmal steht Ernst auf. Hoch aufgerichtet geht er über die Wiese durch den Sonnenschein, kommt zurück und setzt sich zufrieden wieder neben mich. Ich verstehe ihn: einmal über diese Wiese gehen, nicht laufen, nicht gehetzt werden, aufrecht gehen, unbekümmert, keiner schießt, keiner will etwas von einem. Einmal über die Wiese gehen –
Die ersten Urlauber sind heute weg, sagte der Freund, bald sind wir auch dran.
Und dann sind wir ganz ausgelassen. Wir machen Bockspringen, schütteln an den Birkenstämmchen, jagen, nur weil wir es bestimmt nicht fangen werden, ein Eichhörnchen über ein paar Tannen weg, aber der versuchte Handstand mißlingt uns, und wir liegen wieder wie vorher im Gras, und über uns ist ein Frühsommerhimmel, vor dem sich sonnenbeschienene Birkenästchen bewegen.
Abends, nach dem Essen, ist vor dem Dienstzimmer im Dörschen Postausgabe.
Ich melde mich als Postempfänger. Ich will der erste sein, der Evelyns Brief in der Hand hält. Und wenn der Brief viele Tage unterwegs war, keine Minute will ich nun mehr verlieren, ihn zu besitzen, keine noch so kleine Minute.
Post ist da, reichlich Post! Zwei ganze Packen voll, und da ist auch ein graublauer Umschlag dabei, natürlich ganz zuunterst wieder – aber schließlich ist auch er an der Reihe, leuchtet auf in der Hand des Feldwebels, und schon recke ich den Arm aus, ihn in Empfang zu nehmen – nicht einmal so lang will ich noch warten, bis er meinen Namen liest – aber er liest doch, und – er liest einen anderen Namen.
Es ist kein Brief an mich. Es ist überhaupt keine Post an mich gekommen. Es war kein Brief von Evelyn dabei.
Vier Wochen, sagen sie, sollen wir Ruhe haben. Der Regimentsschreiber selbst hat es gesagt, und wenn er es sagt, er habe den Befehl selbst gelesen! Aber wir schütteln den Kopf. Für so leichtgläubig brauchen sie uns trotz des Glücks, das solche Parolen bei allen haben, denn doch nicht zu halten. Vier Wochen, das wären ja achtundzwanzig Tage, achtundzwanzig Nächte, zwei Reisetage abgerechnet, sechsundzwanzig Tage und Nächte! Nein, nicht so übertreiben sollten sie.
Aber man spricht auch von einer neuen, ganz großen Offensive. Und der Dienst, den wir üben, eine neue Art von Vorgehen zum Angriff, bestätigt es uns. Und das glauben wir. Denn solche Prophezeiungen, sagen sie, sind immer wahr.
Aber nun sind über zwei Wochen schon vergangen, und kein Abmarschbefehl ist gekommen, und die große Besichtigung soll erst in acht bis zehn Tagen sein. Ist das denn möglich? Bier wird ausgeschenkt, ein Sportfest wird abgehalten, ein Wettlauf mit Maschinengewehren wird gemacht, über hundert Meter Lauf, dann Stellung; und wer den ersten Schuß aus dem Gewehr bringt, siegt. Und wir gewinnen ihn, weil unsere Leute schon vorher eine Patrone in den Lauf gesteckt haben, so daß sie die Zeit des Ladens sparen. Die Freude ist groß. Spiele werden gemacht, ein Theaterstück wird aufgeführt. Große Fröhlichkeit ist über und in allem.
All das aber täuscht mich nicht über den einen großen Schmerz hinweg: sechzehn Tage, sechzehn Nächte habe ich auf einen Brief gewartet. Und er ist nicht gekommen.
Die Nächte sind so lang.
Evelyn schreibt mir nicht mehr.
Wir waren ausgeruht, gut auf den neuen Angriff, auf die neue Taktik des Vorgehens mit Infanterie, Begleitbatterien, Minen- und Flammenwerfern und unseren schweren Gewehren eingespielt.
Und wenn auch die Ruhe herrlich war, schon hatten wir die Gleichförmigkeit des Dienstes satt. Schon drängte alles wieder der Veränderung, dem Neuen, dem Ungewissen ungeduldig entgegen. Die Spannung war schon unerträglich geworden. Wir wußten, daß wir zu der großen Offensive als Sturmdivision bestimmt waren, wir übten täglich den Angriff, und nun lag das Neue vor uns und wollte erlebt, genommen, überwunden sein. Wir konnten nicht mehr warten, wir wollten hindurch durch das, was das Schicksal für uns bestimmt hatte. Wie wir ja oft lieber ein hartes Geschick anzunehmen bereit sind und uns lieber mit Entfaltung all unserer Erhaltungskräfte in seine Fluten stürzen, als in zermürbender Ungewißheit uns zu verzehren, als auf einen trügerischen Schein von Erleichterung zu hoffen. Wie ja überhaupt das harte Angehen des bevorstehenden Schicksals, bringe es Glück und Jubel oder Verderben und Tod, den Mann auszeichnet, der ein Ausweichen nicht kennt, ein zagendes Hoffen verachtet, und Glück oder Unglück gleichermaßen in gelassener Ruhe annimmt, die ihn, selbst im Untergang, erhebt über alle Geister der Vernichtung und des Chaos.
Wir waren in einem weiten Schulhof angetreten. Die Hitze der verglühten Mittagsstunden hing noch in dem roten Backsteingemäuer der Umrandung und der Gebäude.
Der Kompanieführer trat vor die Front und mit seiner frischen Stimme, aus der die Freude am Neuen, Kommenden auf uns übersprang wie ein elektrischer Funke, rief er uns das Endlich! zu. Der Abmarschbefehl war da, morgen würden wir zum Verladeplatz marschieren, wohin, unbestimmt. Sicher war nur: vor an die Front. Alles andere galt als geheim.
Es war nicht der kommende Sturm, in den mich meine Begeisterung hineinreißen würde wie jeden anderen. Etwas Ungekanntes, Unheilvolles schien mir zu drohen. Es war mehr wie das Gefühl dunkler Gefahr, das einen oft draußen überkam, wenn man plötzlich wußte, hier droht Vernichtung, böser Ort! So daß man rasch die Stellung wechselte und, kaum wo anders geborgen liegend, einen Treffer die erste Deckung vernichten sah im Aufsprühen der Erde, im Krachen der Granate.
War es die Vorahnung kommenden Todes, die ich bei so manchem andern erlebt? War es so nicht bei dem gewesen, der vor dem letzten Sturm seine Tasche, seine Barschaft, seine letzten Briefe aufs Dienstzimmer getragen in der ruhigen Sicherheit seines Todes, und den die erste Kugel am andern Morgen niedergeworfen?
War es einem so zumute? Ließ das Schicksal so die dunkle Erfüllung letzter Pflicht vorausahnen, spüren und wissen? Es wäre schwer, zu fallen. Vieles, das ich zurückließ, die Heimat, die Eltern, und Evelyn. Aber ich zögerte nicht, in mein Schicksal einzuwilligen. Nur der Feige entzieht sich einer Erfüllung, die in seinen Pflichten inbegriffen ist. Ich war Soldat. Sterben gehörte dazu; der Grund, für den ich kämpfte, war meine Überzeugung, mein Glauben. Ich war bereit. Und lohnte ein Leben gelebt zu werden, das nicht mehr die Bereitschaft zum Tode in sich trug? Freilich, um das Hindurchschreiten durch den Tod selbst ist es anders. Es kann schwer sein, so qualvoll, daß ein Mensch der Wucht dieses Augenblicks nicht gewachsen ist. Wir wußten, wie das Heranrauschen einer schweren Granate jede Bindung zu zerreißen vermag, und jeder wird sich dieser Gefahr zu entziehen versuchen im Augenblick des Todes. Aber vorher, noch Herr über Denken und Entschluß, sollen wir groß sein in unserer Bereitschaft zu Leben und Tod. So oft hatte uns der Tod berührt, oft gehetzt und verfolgt, manchmal uns gestreift. Wir waren schon manchen Tod gestorben. Und daß wir lebten, war verwunderlicher, als wären wir gefallen. Es war uns nichts Neues.
War es die Ungewißheit, die mich folterte, war es die Pein, nichts zu hören von Evelyn, war es die Ahnung kommenden Unheils, das vor mir lag, das mein Schicksal schon bestimmt hatte, das seinen Weg schon ging, jetzt, ehe es mir ins Bewußtsein trat?
Gegen Abend war noch einmal Postverteilung. Ich bekam einen Brief von der Mutter. Sie sei in Sorge um mich. Man spreche in der Heimat von einer neuen Offensive. Sie bete zu Gott, daß wir nicht dabei sein müßten. Und was auch Schweres an mich komme, ich solle bleiben, der ich sei, ihr Bub, auf den sie vertraue.
Was sollte an mich kommen außer der immer gleichen Gefahr des Krieges? Was wußte die Mutter von Evelyn? Morgen würden wir marschieren. Von ihr war kein Zeichen gekommen, auch heute nicht. Und nun kam keine Post mehr vor der Offensive.
Zweie kamen vom Urlaub zurück. Einer aus meiner Heimat. Lange würgte er an den Worten herum, aber als er meine Angst sah, da stieß er es heraus:
Deine Ev, du, die geht mit einem andern. Und ich soll dich auch von deiner Mutter schön grüßen und hier schickt sie dir ein Päckchen. Nimm dir das mit der Frau nicht zu sehr zu Herzen, du, soll ich dir sagen –
Lieber Gott, es ist unfaßbar, es ist nicht wahr, es kann nicht wahr sein: Evelyn hat mich verlassen.
So schwer ist das alles, so schwer! Da ist es draußen Mai, die Birken grünen, der Himmel blaut über diesem gesegneten Land, alles um mich her glänzt, die ganze Natur ist feiertäglich angetan, alles sprüht vor Leben und Kraft. Die Kameraden sind voll Lebensgefühl, Mut und Glauben blühen überall auf, es ist wie ein köstliches Jubilieren über allen Dingen, alles ist von einem Reichtum ohnegleichen, einer vollen und großen Schönheit, und dir ist, als könntest du die Tränen nicht zurückhalten vor so viel Schmerz, so viel Weh und Verzweiflung. Dir ist, als könntest du nicht mehr in den Kreis der Kameraden zurück, weil dich ihre Lustigkeit, ihre klingende und schallende Lebensfreude zu erschüttern droht, weil du glaubst, sie sähen dir deine Enttäuschung, deine Verzweiflung und Pein, deine Bitternis und Schande der getäuschten Liebe an, weil du fürchtest, man belächle dich in deiner Verliebtheit, und sie, stark vor Lebensgefühl und Besitzlust, spüren nicht, wie viel du verloren.
So gehst du durch die Reihen der Kameraden, bist allein mit deinem Kummer, kannst nicht begreifen, wie aus dem blauen Sommerhimmel die Dunkelheit brach, die dein in Sonne liegendes Land verschattete mit unfaßlicher Nacht.
Du kannst nicht begreifen, daß du es warst, der die Zeit gemeistert, der überlegen war über das kärgliche Äußerliche gequälter Tage.
Und noch hat die Trauer nicht über dich Herr werden können, die Schmerz und Trost zugleich ist. Verwindung und Überwindung. Noch lehnst du dich auf gegen die Härte des Schicksals, noch glaubst du, mit harten Fäusten an die Tore des Geschicks pochen, Einlaß fordern, erzwingen zu können in das Schloß und Reich eines Glücks, das nicht mehr dein ist. Zu jung bist du, zu kräftig, um begreifen zu können, daß du hilflos bist, daß du vor einem Unglück stehst, das, gestaltlos dich quälend, sich nicht umfassen läßt wie ein körperlicher Feind, und all deine Verzweiflung wirft sich auf, will sich nicht demütigen, will deinen Besitz nicht rauben lassen.
Und auf einmal siehst du den Mann vor dir, dort in der Heimat, während du hier draußen dein Leben in die Schanze schlägst.
Als dir endlich alles Gefühl und alle Verzweiflung zusammenschmilzt in den Haß auf jenen, da faßt du hart und sofort den Entschluß, ihn von Angesicht zu Angesicht zu stellen, plötzlich vor ihn hinzutreten und ihn zum Kampf zu fordern, wie zu allen Zeiten Männer um ein Weib gekämpft. Mann gegen Mann, mit jedem nur möglichen Mittel der Vernichtung, wie es die Starken in allen Jahrhunderten, auf allen Plätzen der Erde getan. Du schnallst, fast unbewußt, deine Koppel um mit Pistole und Patronentaschen, und schon fühlst du dich hart wie Granit, unzermahlbar, im Schutz dieser besten Freunde, die du hast, die hier draußen dein Leben, deine Beschützer sind. Wie viele, deren Namen du nicht kanntest, deren Schicksal dir fremd war, die Weib und Kind in Liebe zu Hause wußten, wie Unzählige hast du hingeschossen, wahllos, roh, gefühllos. Und sie hatten dir selbst nie etwas getan. Sie waren Krieger wie du. Und du solltest zögern, einen Mann, der hinter deinem Rücken, solang du hier am Feind standest, sich deiner Geliebten bemächtigt, niederzuwerfen, hinzuschießen wie einen Hund? Dies eine Mal, da es ganz und gar nur um dein eigenes Glück und Geschick geht, da sollte dir der Mut zum Töten fehlen, dir, der du gewohnt bist, über Kimme und Korn deines schweren Gewehrs Reihen von stürmenden Männern in deinem Feuer zusammenbrechen zu sehen?
Man wird dir, nach den Wochen der Stellung vorne, die paar Reisetage, die du brauchst, nicht abschlagen. Und wie du dann, mit vor Verzweiflung verzerrtem Gesicht, vor deinem Kompanieführer stehst, der dich kennt, der um dich weiß und besorgt ist, da schüttelt der ernst den Kopf. Nein, Urlaub, jetzt? nein, das geht nicht. Wir müssen doch wieder vor.
Und dann, nachher, als du dich noch immer über die Wärme seines Tones wunderst, mit der er dein Ansinnen ablehnte, da steht er plötzlich bei dir in der Dämmerung des Maiabends und sagt: Wir wollen ein Stück gehen. Und da ist auf einmal auch der Erne, und dann sitzen die zwei mit dir an einem Wiesenrain und sehen die Sterne aufziehen und reden kein Wort und rauchen nur still vor sich hin.
Und auf einmal, sehr viel später, sagt einer: Das dort oben ist der Wagen und dort die Kassiopeia. Wie groß ist das alles, wie schön.
Und wie klein unsere eigene Sache dagegen, sagt der Kompanieführer, wie unbedeutend, und wie sind wir immer in Gefahr, an dem da oben gemessen, uns und unsere Dinge zu überschätzen, zu überdeuten, statt voll Andacht nach diesem Großen zu schauen, das mit der Ruhe seines immer gleichen Werdens und Wanderns so hoch über uns steht. Anstatt uns dessen würdig zu erweisen, anstatt diesem Großen uns nachzubilden, das da als ein göttliches Gesetz sich vollzieht, und dem auch wir uns einordnen sollten mit unserem Willen und Leben.
Und auf einmal, da du die große Kameradschaft von Männern spürst, die dir niemals ihre Freundschaft bisher so gezeigt, die sich plötzlich in aller Wärme dir öffnet, da begreifst du, wo du gestanden, und nun wunderst du dich, daß du es warst, der das wollte, vor einer Stunde noch: Mord.
Und als du in zögernden Worten gestehst, daß es dir jetzt doch lieber sei, daß du habest bleiben müssen, weil du nämlich, da sei in der Heimat ein Mann, der – – – – da legt dir der Erne den Arm um die Schulter und der Offizier ist auf einmal nicht mehr der über dir stehende Führer, sondern der Student, der er ja eigentlich ist, ein Mann, der dein Schicksal als seine eigene Sorge in sich trägt und der, als du stockend in deiner Rede irrst, und schweigen mußt vor der Ungeheuerlichkeit des vorher gefaßten Planes, dir zu wissen gibt, daß er wohl um dich wußte, daß Erne mit ihm gesprochen, und daß er ein Freund ist, den du nicht kanntest.
Und nun spürst du wie eine Befreiung die ernstere Beglückung einer ungesprochenen Männerfreundschaft, die größer ist als alles Sinnen zu einer Geliebten.
Schweigend gingen wir zu unseren Quartieren, schweigend gaben wir uns die Hand. Noch einmal in der schlaflosen Einsamkeit dieser endlosen Nacht stand der Schmerz mit aller Wucht der Verzweiflung in mir auf, aber, als ich mich erheben wollte, legte sich die Hand des Freundes behutsam auf meinen Arm. Er hatte, wie ich, kein Auge geschlossen, und mir seine wachsame Wachheit geschenkt als Zeichen seiner Freundschaft.
Bleib, versuch zu schlafen, sagte Ernes ruhige Stimme aus dem Dunkel heraus.