Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Durch die Nacht gehen Männer. Sie finden die Freunde, völlig verweht, zwei Eisklumpen. Notschlitten tragen sie zurück. Es sind bange Stunden in der Hütte, bis sie erwachen.
Christa hat uns gerettet.
Wir saßen auf der Terrasse. Das winterliche Gebirge lag in unübersehbarer Weite vor uns. Gipfel an Gipfel, Gletscher, Sonne und tiefblaue Schatten.
Wohl eine Woche trugen uns die Hölzer durch die einsame Schönheit der Berge, bis wir, braungebrannt und angefüllt mit Kraft und Zuversicht, hinunterstiegen in die Täler, in die Niederungen zu Menschen, denen versagt war. Berge zu ersteigen, zu erschauen und zu erleben.
Die anderen waren nach Hause gegangen. Aber ich machte noch einen Umweg: zu Christas Haus ging ich, ihr in Gedanken Dank zu sagen für unsere Rettung.
Im Dunkel der Straße stand ich, sah hinauf, wo ein Fenster erleuchtet war, schickte ihr meine Grüße, denn ich wußte, dort oben saß sie, über Büchern vielleicht, vielleicht auch den Blick erhebend und hinausschauend in jene Weiten, die nur sie zu kennen schien.
Warm, glücklich, ging ich durch die frostharten Straßen nach Hause.
Wie nun sollte ich Christa danken?
Würde sie mich verstehen, wenn ich ihr dankte für unsere Rettung? War es nicht Unsinn, ihr zu danken für etwas, das sie nicht einmal wußte?
Aber es war ja nicht wichtig, daß sie wußte, wofür ihr der Dank galt, wichtig nur, daß ich ihn brachte.
Also trat ich auf dem Weg zur Klinik in einen Blumenladen, und glücklich barg ich die hellroten Nelken in meiner Mappe. Sie kosteten mein halbes Vermögen, aber nichts war schön genug, ihr zu danken, ihre Augen zu erfreuen.
Zitternd vor innerer Spannung wartete ich zu Beginn unserer gemeinsamen Stunde. Fast schon war es Viertel nach, und immer noch kam sie nicht. Als schließlich ein anderer ihren Platz einnahm, schwankte ich zwischen Haß auf jenen und Trauer darüber, daß sie nicht kam, heute, gerade heute, da ich ihr die Blumen gebracht, da ich zu ihr sprechen, ihr danken wollte.
Unter unbewußtem Zwang hob ich den Blick und traf gerade in ihren, der auf mir ruhte und sich unter ihrem Erröten senkte. Sie saß über mir, hatte mich gesehen; hatte sie mich vielleicht vermißt? Die ganze letzte Woche, die wir in den Bergen gewesen?
Was der große Lehrer auch heute Bedeutendes zu zeigen wußte, es vermochte mich nicht zu berühren, ich brannte vor Ungeduld auf das Ende der Stunde, und kaum schlug die Uhr, da erhob ich mich, drängte hinaus und hinunter. Der Schwarm der Studenten verlief sich zur nächsten Klinik. Allein stand ich mit meiner Mappe im Gang und wartete. War sie oben auf der Station? Sie kam nicht. Hatte ich sie verfehlt?
Die Minuten vergingen, Christa kam nicht.
Traurig wollte ich weiter. Was sollte mit meinen schönen Nelken werden? War es noch zu früh, auf sie zu warten? War noch anderes vorbestimmt?
Da stand sie vor mir, mein Blick hielt sie fest. Zögernd nahm ich den Strauß aus der Tiefe der Mappe, hielt ihn ihr hin, verwirrte Worte des Dankes stammelnd, starrte sie an. So schön war sie also, so schön?
Und wie komme ich zu dieser Freude, womit verdiene ich diese herrlichen Blumen? klang wie von weither ihre Stimme an mein Ohr.
Ja, das war Christa, so mußte ihre Stimme sein. Schön und voll. War denn alles so vollendet an dieser Frau, so unwirklich schön?
Kommen Sie, sagte sie, fast leise. Wir dürfen hier nicht stehenbleiben. Begleiten Sie mich lieber ein Stück.
Und nun ging ich neben ihr her und wußte auf ihr wartendes Schweigen nichts zu sagen.
Dann stolperte sie, glitt, wäre fast gestürzt. Ich hielt sie, fing sie auf.
Sie wurde rot, verwirrt. Um ihren Mund lag eine Falte der Bitternis und der Trauer.
Was war? Was war geschehen?
Sind Sie böse? Hab ich Sie gekränkt?
Sie schüttelt den Kopf. Schweigend gehe ich neben ihr her. Als ich an ihrer Tür warte und nicht gehen möchte ohne ein freundliches Wort von ihr, da lächelt sie wieder, öffnet die Tür und fordert mich auf, mitzukommen.
So, sagt sie dann oben, nun muß ich Sie mir doch einmal ansehen, nachdem Sie das ja in den letzten Wochen bei mir sehr ausführlich und gründlich getan, und zeigt ein gütiges Lächeln, das alles weiß. Ich habe viel an Sie gedacht – Sie waren oben in den Bergen – war es nicht gefährlich – hatten Sie nicht Sturm und Schnee?
Ja, diese Frau wußte von mir und uns mehr, als ich geahnt, sie wußte von unserem gemeinsamen Schicksal.
Sie stellte die Blumen in eine Vase, so, als wäre jede ihr besonders anvertraut, so, als wüßte sie besonders umzugehen mit den schönen und zarteren Dingen des Daseins. Unverhohlen bewundere ich sie.
So schön, so schön – denke ich, sage es unbewußt vor mich hin.
Da sieht sie mich voll an. Antwortet sehr ruhig.
Glauben Sie mir, es ist schwer, schön zu sein, und dann – Ich warte. Mit einer müden Handbewegung scheucht sie die Gedanken weg, lächelt. In diesem Lächeln liegt wieder der ganze Verzicht, Einsamkeit, Wissen um die dunkle Zukunft, Wissen um den Tod.
Und ich darf nicht bei Ihnen sein – manchmal – nach Ihnen sehen?
Es ist so gut, daß Sie sich um mich kümmern wollen, aber Sie dürfen es nicht. Nein, gehen Sie lieber wieder. Ja, gehen Sie.
Ich bleibe, wie gebannt.
Sie legt das Antlitz in die Hände, verharrt so.
Kein Schluchzen, keine Tränen.
Ich lege ihr ganz leicht die Hand auf den Scheitel, streiche leise über ihr Haar mit weicher, kosender Bewegung. Sie duldet es, empfindet es als das, was es ist: Kameradschaft, Helfen, Da-sein-wollen.
Dann schüttelt sie leise den Kopf, hebt ihr Gesicht dem meinen entgegen. Ihre Züge sind in fortwährender Bewegung. Dann sagt sie ganz leise:
Lassen Sie es! Ich danke Ihnen – aber ich habe keinen Anspruch auf Ihr Gutsein – ich muß allein bleiben. Fragen Sie nicht – gehen Sie jetzt – Bitte, kommen Sie nicht mehr – bitte!
Ich habe diese vielen Wochen auf Sie gewartet – immer wieder – Tag um Tag habe ich auf Ihren Blick gehofft und nun heißen Sie mich gehen – jetzt – wo ich glauben muß – Ihnen helfen zu können. – Morgen fahre ich heim – geben Sie mir nicht ein gutes Wort mit, ein kleines Wort, an das ich denken kann? – Solange hab ich auf Sie gewartet!
Ich weiß es, wußte es lange. Ich durfte Sie nicht rufen. Glauben Sie mir, es ist mein Schicksal. Wir müssen uns abfinden mit unserem Los, es tragen, auch wenn wir seine Härte nicht verschuldet haben.
Gehen Sie jetzt, gehen Sie, – bitte – lassen Sie mich jetzt. Nein, nicht mehr helfen wollen – ach, wenn ich Sie doch bitte, hören Sie, ich verlange von Ihnen, daß Sie jetzt gehen, Sie brauchen nicht dabei zu sein, wenn mir alles weh tut, wenn ich allein sein muß.
Sie drängt mich hinaus.
Erschüttert von dem Schmerz dieser Frau steige ich wie im Traum die Treppe hinunter.
Der Frühlingstag liegt breit und satt auf dem weiten Platz. Wohin nun? wohin?
Ist nicht alles aufgerührt in mir durch dieses Rätsel, waren nicht alle Worte, dies Hinausweisen, dieses »Gehen Sie« von tiefer Wärme erfüllt, war diese Zurückweisung nicht wie ein Flehen gewesen, waren diese blauen Augen nicht von einem Glanz, als wollten die Tränen in ihnen hochsteigen?
Wieder hinauf? Noch einmal wagen, sie und ihren Schmerz zu stören, helfen wollen, helfen können?
Da steht ihre Freundin vor mir. Ihre Züge sind von seinem Ernst.
Kommen Sie, sagt sie einfach. Ich will es Ihnen erklären. Und dann gehen wir zusammen durch den Park, in dem die Amseln und Drosseln schon schlagen, in dem die ersten Blütenkelche sich der Sonne öffnen, in dem überall Erwachen und Werden und Wachsen ist, voll von Lebensdrang und Daseinslust.
Ruhig, bescheiden setzt sie die Worte, die das Schicksal ihrer Freundin berichten.
Ja, sie ist krank, sehr krank. Sie wird früh sterben müssen, wie auch ihre Mutter – sie weiß es. Auch ihr Vater ist tot. Sie will keinen an sich ketten, der sie verlieren müßte. Sie kennt ihr Schicksal. Sie trägt ihre willentliche Einsamkeit und das Wissen vom frühen Tod.
Verwandte? Wohl, aber die einen wollen sie beerben, sie ist vermögend, und die andern kann sie nur selten besuchen. Die Fahrt ist zu weit. Außer mir – und ich verdanke ihr alles, auch mein Studium – hat sie niemanden. Ich halte Sie für einen aufrechten Mann, deshalb sage ich Ihnen all das. Prüfen Sie, ob Ihre Freundschaft stark genug ist, der Frau zu helfen. Sonst, ich bitte Sie von Herzen, gehen Sie Ihres Wegs, niemand wird Sie darum schelten, und ersparen Sie Christa auch noch die große Enttäuschung eines Mannes.
Ich kann ihr vielleicht helfen, denn ich habe Christa sehr lieb.
Schweigend gingen wir zurück durch den Park.
Das Gras war grün und frisch, die Blumen öffneten ihre Blüten der Märzsonne, an den Sträuchern sprangen die Knospen, in der Luft war der Atem des Frühlings. Christa aber war krank, zu frühem Sterben bestimmt.
Andern Tags, ehe ich nach Hause fuhr, ging ich zu ihr, sie zu bitten, die Zeit, die vor ihr lag, als Freund mit ihr teilen zu dürfen.
Sie war schon am frühen Morgen abgereist, aber sie hatte mir einen Brief hinterlassen. Sie wisse, daß ich käme. Sie sei noch voll Unruhe und sei zu ihren Freunden gefahren. Im Sommer erst sei sie wieder in München, und wenn uns unser Weg nicht mehr zusammenführen sollte, so wolle sie mir danken, daß ich mich um sie gekümmert habe, denn die Zuneigung eines andern, seine Liebe und Teilnahme an ihrem Leben dürfe sie nicht beanspruchen. Ihr Los habe sie außerhalb des Kreises jener Glücklicheren gestellt. Sie sei bereit, ihr Schicksal zu tragen, aber sie danke mir für all meine guten Gedanken, die sie spüre und mitnehme in die dunklere Zeit ihrer Zukunft.
Die Freundin hatte sie wie stets begleitet, ihr hartes Los zu erleichtern, und so fuhr ich denn heim in die Ferien, beglückt von den Worten der geliebten Frau, ungewiß, ob ich sie jemals wiedersehen würde.
Der Mai kam, die Welt tat sich auf, und wieder fuhr ich nach München. Die Wirtin hatte alles verwahrt, ich wohnte mich ein. Aus dem Englischen Garten klang das Geschmetter der Vögel, die Bäume standen in weißer Pracht, der Frühsommerwind trieb Wolken von Blütenblättern über den Rasen.
Christa war wiedergekommen. Christa war in der Stadt. Ich spürte, ich wußte es.
Ich suchte sie auf, fand sie, und über meinem Jubel, sie wiederzusehen, stiegen ihr Tränen in die Augen.
Täglich brachte ich ihr nun Blumen, denn der alte Hofgärtner war mein Freund geworden, täglich fast fuhren wir hinaus an die Seen, ehe das Semester begann.
Wir glitten weit hinaus in die Bläue des Wassers. Ich zog die Ruder ein. Christa lag still im Boot, die Augen, weit offen, nach oben gerichtet. Die Wellen schlugen an die Planken des Kahns, der, dem Wind und der Strömung folgend, dahintrieb. Fern glänzten die Ufer. Sonne lag über dem Leib, saugte sich ein in die Haut. Weit, dort drüben, schwamm ein Segelboot vorüber. Von den Dörfern am Ufer klangen die Mittagsglocken.
Abends, mit Blütenzweigen im Arm, voll der Schönheit des Tages, kamen wir heim.
So wurde es Sommer, der glückliche Sommer mit Christa.
Komm zurück! sagte Christa, als ich wieder einmal hinauf wollte mit Freunden, hinauf in die Berge.
Hab keine Sorge, was sollte schon sein?
Komm zurück. Es droht dir Gefahr –
Durch die Klamm ging es noch gut, aber als wir durch die Schlucht waren und den Nachtanstieg machten, hinauf zur Hütte ins Kar, da zogen sich die Wolken und die Gewitter zu drohenden Ballen zusammen.
Aus dem pechschwarzen Himmel fielen die großen Tropfen, die Blätter und Gräser zuckten unter ihrer Schwere. Dann kam der erste, prasselnde Regen. Unterkunft gab es nicht, also stiegen wir weiter. Die blauen Blitze schossen ins Dunkel. Unheimlich grollte der Widerhall des Donners von den Wänden. Gewitter fingen sich über uns im Kar, kamen nicht mehr hinaus und entluden ihre Wucht. Wir standen kurz unter, aber einer der unzähligen Blitze, die alle Augenblicke niederzuckten, zerschlug eine der riesigen Bergtannen dicht neben uns. Der Stamm brach herab, das Geäst rauschte durch die Zweige der anderen Bäume, dumpf schlug der Wipfel zu Boden. Das eintönige Strömen des Regens sang über ihm her. Und wieder Blitze, Grollen des Donners an den steinernen Wänden. Die Luft war geladen mit Spannung. Blaue Funken flimmerten knisternd an den Spitzen der eisernen Pickel. Wir bargen sie erst unter den Jacken, dann schleppten wir sie am Seil nach.
Berggewitter? War das die Gefahr? Christa – im Rauschen des Regens, im Fallen der Tropfen, überall bist du bei mir, es ist kein Grund, sich zu fürchten. Und was wäre das Leben ohne Gefahr?
Wir durchstiegen das felsige Tor, im Süden dehnte sich die Ebene grenzenlos, in ferner Bläue verschimmerte die Sicht. Über uns hoben sich die massiven Mauern der Südwand. Wir stiegen zu dritt, das Mädel, Rolfs Freundin, in der Mitte am Seil.
Die Wand war glatt, griffarm, aber von festem Stein. Stunden stiegen wir. Unter uns versank das Land.
Dann saßen wir zusammengekauert auf dem obersten Wipfel der Nadel, benommen von der Schönheit der Sicht und der Weite.
Da aber kam Sturm auf. Wolkenschatten jagten über die Ebene, die tief, tief unter uns lag, Hagel peitschte auf den Stein, in die Gesichter, auf die klammgewordenen Hände. Wir mußten zurück, hinunter, und wählten den Weg überm Kar, das sich vierhundert Meter unter der glatten Wand breit und behäbig lagerte. Kaum war die Hütte zu sehen.
Noch überlegten wir, ob wir das Seil anlassen sollten, entschlossen uns aber, des nassen Steins wegen, doch dazu.
Vielleicht auch dachte ich an Christas Warnung: komm zurück!
Der Sturm erfaßte das Seil, trieb es in weitem Bogen waagrecht über das Kar hinaus. Rolf stieg als erster ab, dann das Mädchen, während ich sicherte, hinunter über die freie Wand zur schützenden Scharte.
Ich kletterte nach und warf, nur auf Rolfs Zuruf hin, zur Sicherung eine Schlinge über eine Felszacke. Ich preßte mich glatt und gut an die Wand, mein Blick, der tief unter sich das Kar sah, wurde nicht unruhig. Aber, als ich tiefer stieg und eben meine rechte Hand einen der wenigen Griffe fand und faßte, da brach der Stein aus, und schon schlug ich nach rechts, kopfüber in die Leere hinaus. Braun und gesteckt sah ich noch die Wand vor meinen Blicken hochschießen, dachte noch einmal an Christa – – Gräßlicher Schmerz schlug mir gegen Kopf und Rippen. Einer schrie Worte in mein Ohr, die ich erst allmählich erfaßte: Im Seil hängengeblieben – Seil hält!
Unter mir war die Leere, unter mir, vierhundert Meter, das Kar.
Meter um Meter zogen sie mich hoch, über den Rand der Scharte herein.
Abends saßen wir müde und schweigend beim Tee in der Hütte.
Andern Tags, als ich in mein Zimmer trat, löste sich aus dem Dunkel, vom Fenster her, eine Frau, kam auf mich zu und legte ihre Arme um meinen Hals.
Du!