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In jener Zeit des äußeren Abschlusses einer Epoche der Arbeit und des Vorwärtswollens lernte ich die Freunde kennen, deren Schicksal sich mit dem meinen durch die kommenden Jahre hindurch verbinden sollte.
Es war spät am Abend. Wir waren im Klub zusammengesessen, als einer der Kameraden, ein blonder Hüne, über leichte Schmerzen im Rücken klagte. Da er vor innerem Frost zitterte, und er trotzdem einen Arzt in der Nacht nicht stören wollte, schlug ich ihm vor, doch noch mit mir nach Hause zu kommen, wo ich alles hätte, ihm Erleichterung zu schaffen. Ich war ja inzwischen in die selbstbewußte Stellung eines Jüngers der Chirurgie aufgerückt.
Ich erstaunte über die Größe der eitrigen Geschwulst, die ihm »leichte Schmerzen« verursachte, und, da eine Blutvergiftung bereits begonnen hatte, befreite ich ihn mit einigen Schnitten, die er ohne Zeichen von Schmerz ertrug, von der ersten Gefahr.
Es war kein Können dazu nötig und es war keine Tat, aber der Kamerad wurde zum Freund in den Stunden dieser Nacht, die wir noch redend und schweigend beim Licht der Kerzen in meinem blauen Zimmer verbrachten. Wir, die wir in den Operationssälen der Klinik mit ihren matten Scheiben die Tage verbrachten, Chloroform und Äther der Narkose einatmeten statt der frischen Luft des Morgens, wir wußten ja nur nach dem Kalender, welche Jahreszeit war.
Einmal, der Dienst des Tages war zu Ende, ging ich in die Stadt. Vor den Lichtern der Laternen tanzten die ersten Flocken. Dächer und Bäume und Straßen wurden weiß, und mit Freude klopfte ich zu Hause den frischen Schnee vom Hut: wir würden fahren können. Die Bretter, längst schon gerichtet, kamen zu ihrem Recht.
Samstag Nachmittag. Durch das Haus der Schmerzen, durch die endlosen Gänge und Säle zog, weißen Mönchen gleich, die Prozession der Ärzte hinter dem Chef her. Der aber, an dem die Blicke der Kranken gläubig hingen, da er für viele Leben oder Tod in den Händen wog, der aber ging still und mit ernstem Gesicht seinen Weg, von Bett zu Bett, von Saal zu Saal. Keinen vergaß, keinen überging er, jeden Verband, jede Wunde prüfte er, hier billigend, hier ratend und Worte des Trostes spendend, aus deren Wärme Quellen aufgingen, die man zuvor nicht gekannt.
Längst war unsere Station besichtigt und alles in Ordnung befunden, aber die anderen Räume nahmen kein Ende. Die Zeiger der weißen Uhren rückten vorwärts, unaufhaltsam, und wenn es so weiterging, so besonders eindringlich, so besonders langsam, so konnte ich den Abendzug zum Schwarzwald nicht mehr erreichen. Schon sank mir alle Hoffnung, noch rechtzeitig fortzukommen, da kam die Lösung in Gestalt eines Unfalls für die Privatstation. Der Rest der Runde wurde auf Montag verschoben.
Wir waren frei!
Jeder Station ihre eigenen Sorgen, wir hatten in dieser Woche das Unsrige getan, es war kein Raum mehr für neue innere Belastung, und die Fahrt hinauf in den Schnee war verdient.
Rasch nach Hause denn, die Hölzer geholt und zur Bahn. Uta Weiler, die schöne Uta, und Hans Benninghoff, die seit Semestern zusammen wohnten und lebten, waren schon da. Ingrid Hartwig kam blond und froh die Kastanienallee herauf, deren Bäume schwarz aus dem Weißgrau des Schnees stiegen.
Was macht Peter? rief ich ihr zu.
Es geht ihm nicht gut, der Abszeß macht ihm Schmerzen, er hat Fieber und hütet das Bett.
Morgen früh besucht ihn unser Ambulanzarzt, tröstete ich, oder möchtest du, daß ich bleibe?
Er läßt dich grüßen, wir sollten fahren und morgen das Springen ja nicht versäumen.
Und wir fuhren hinüber zu den Bergen.
In der Nacht noch stiegen wir auf zur Hütte. Über die verschneiten Hochstraßen zogen wir dahin. Über uns sang der Wind in den Wipfeln der turmhohen Tannen, in deren dunklem Geäst die Sterne hingen wie flackernde Lichter. Uns entgegen unter der Eisdecke rauschte der Bach, geheimnisvoll, als wüßte er um die Dinge der Urzeit, und draußen, tief in den Tälern, glommen die winzigen Lichter der Dörfer.
Wir schwiegen, und nur das Singen der Hölzer im Neuschnee umklang unsern Schritt.
Zwischen den Tannen hindurch: Lichter. Der Paß, der Gasthof. Uta und Hans blieben hier, wir zwei aber gingen hinüber zur Hütte, hüllten uns in die wolligen Decken und versanken im guten Schlaf der Erschöpfung.
Einer stieß die Fensterläden auf. Im überhellen Licht des Morgens, das sich tausendfach brach über den schneeweißen Hängen, stand – war das denn möglich? – wahrhaftig, stand Peter. Er war in der Nacht noch gekommen. Ein wenig trotzig und ein bißchen verlegen fragte er nach Ingrid, und ob sie schon auf sei.
Als ich es verneinte, ihre Stiefel stünden ja noch vor der Mädelkammer, legte er behutsam einen harzduftenden Föhrenzweig über ihre Schuhe, damit Ingrid sich gleich morgens schon freuen müsse und wisse, daß er da sei.
Sie hatte ihn aber gehört und durch den Türspalt schaute ihr frisch und naßgebürsteter Blondkopf heraus, und aus ihrem Schelten ward alsbald ein: Herzlich Grüßgott, kranker Peter!
Nach dem Frühstück ging Ingrid hinüber zum Gasthof, nach den beiden zu sehen, während ich mir den Freund näher besah. Er hatte auf die faustgroße Geschwulst noch ein handtellergroßes Zugpflaster geklebt, alles war gerötet und entzündet. Es war Leichtsinn, so zu fahren, aber es war auch eine Tat. Denn er hatte Fieber und Frost, und zur Blutvergiftung war es nicht weit.
Da wir natürlich, außer einem Taschenmesser, keine Instrumente hatten, wollte ich etwas Passendes aus dem Gasthof holen, aber er ließ sich, gleich einem starrköpfigen Jungen, nicht abhalten, mit hinüberzufahren.
Fahre ich deshalb durch die Nacht auf den Paß, um hier allein zu sitzen, und du fährst zu Ingrid?
Wäre sie nicht solch ein Prachtmädel, ich müßte dir Vorwürfe machen, sagte ich ihm.
Statt einer Rechtfertigung fragte er nur: Hast du sie schon einmal singen hören? Weißt du, daß sie eine wundervolle Stimme hat?
Ob die beiden schon auf sind drüben? meinte ich, sie wollten auf die Kuppe des Berges und wissen den Weg nicht.
Da dürfen wir nicht zu spät fahren, sonst wird der Schnee zu weich.
Ja – ob die schon auf sind, sagte Peter, die haben's eigentlich doch gut miteinander, wie die so zusammen leben.
Aber ich könnte es eben nicht, und Ingrid wollte es auch nicht. Vielleicht verzichtet man auf viele Freude dieser Jahre und verzichtet auf ein Glück, das nie im Leben wieder so jung und frisch ist, man verschiebt die Erfüllung einer Lebensstufe auf eine spätere Zeit, ohne zu wissen, ob sie dann überhaupt noch auf uns warten wird. Andere tun's doch auch: sieh dir die zwei an, jeder achtet sie, und jeder von uns weiß doch, daß sie beisammenwohnen. Vielleicht ist es wirklich nur eine Dummheit von uns. Meinst du denn nicht auch?
Vielleicht! – vielleicht bei manchen, bei dir jedenfalls nicht, bei dir nicht und – ich schließe mich bewußt ein – bei mir auch nicht.
Aber es ist doch erstens wirklich besser und richtiger, sie leben bewußt in guter Kameradschaft gleich wie in einer Ehe zusammen, haben sich, aber doch nur sich, sind sich treu und halten zusammen, als daß sie überall herumziehen, heute da, morgen bei anderen? Und zweitens: was soll das auch heißen, daß nur eben noch die Form, das Siegel der Ehe durch die bürgerliche und kirchliche Trauung dazukommt. Ist das an Tatsächlichem unter vernünftigen Menschen ein Unterschied? sagt Peter.
Ich gebe dir recht, es ist besser, wenn sie sich haben und nur sich haben, aber in der Regel auch nur für diejenigen, die sonst »überall herumziehen würden, heute da und morgen da«. Nur für die. Und tun wir das vielleicht? halten wir das vielleicht für nötig? wollen, müssen wir so sein? Ich sage in der Regel. Es gibt Ausnahmen, und für die ist es vielleicht die einzige Lösung. Uta und Hans gehören wohl dazu. Ich glaube es wenigstens. Aber glaub mir, die wirklich Starken im reiferen Leben haben sich niemals in der Jugend vergeudet, sondern haben ihre Kräfte behalten, die körperlichen und die sittlichen! Wir kennen doch jeden aus unserem Kreis, wir wissen doch so etwas von jedem, ob er heute da und morgen dort ist, ob er eine Kameradschaft nötig hat, oder ob er, in unserem Sinn, etwas auf sich hält, bewußt, und warten kann, bis Zeit und Beruf, Reife und Grundlagen ihm das Eingehen einer wirklichen Ehe ermöglichen. Denn schließlich haben wir den Begriff der echten Ehe nicht als Zwang erfunden, sondern er hat sich herausentwickelt als die für uns einzig mögliche, und die gesündeste Art der Symbiose zwischen Mann und Weib. – Keinem von uns fällt es ein, einen Freund zu verurteilen, der bei einem Mädchen, das er lieb hat, bleibt. Aber es müssen Ausnahmen sein, seltene Feste, Feste der Stille und der Verinnerlichung, und nie darf man den Begriff der Hohen Zeit, des Außergewöhnlichen, dabei verlieren.
Gewiß, es ist auch meine Ansicht, sonst hielten wir uns ja nicht so, sagt Peter und verhält den Schritt.
Sonst wärest du eben nicht dieser gesunde Kerl, dem der Erfolg auf die Stirn geschrieben ist, mit seiner unverbrauchten Kraft, die du zum Aufbau einzusetzen vermagst, zum Aufbau deines Lebens, bis es unter Dach ist – und rechte Zeit, die Frau dahin heimzuholen.
Wir fahren weiter, die Sonne funkelt über dem Feld, da beginnt Peter wieder.
Das Wartenkönnen, es ist etwas dran. Auch hier gilt es, wie in allem, das reifen soll, es ist schon wahr.
Und noch eins sag ich dir: Zwei, die so jung und jahrelang schon in Kameradschaftsehe gelebt haben, die haben sich des Begriffs für die wirkliche Ehe beraubt. Die haben sich ausgeschöpft, die haben eine Erfüllung vorausgenommen, die Erfüllung einer Zeit, die, wenn sie sie selber einmal erreicht haben, dafür nur noch eine Leere bietet. Dann, wenn sie auch äußerlich soweit sind, daß sie heiraten könnten, wäre es meist besser, sie gingen auseinander, da sie sich ja nichts Neues mehr zu geben vermögen an innerem Wert, oft einander schal geworden sind, weil in ihrer Form der Ehe eben doch nicht jene Grundlage der Weiterentwicklung einer echten Ehe gegeben war, mit Form und Zweck und Erfüllung, nämlich zum Beispiel dem Kind. Daß sie zu einer Zeit schon satt geworden sind, in der andern die Köstlichkeiten des Lebens erst aufgehen – andern, und zu einer Zeit, da sie ihnen gewachsen sind.
Du hast schon recht. Nur manchmal glaubt man, die andern beneiden zu müssen, klingt Peters Stimme.
Es wird die Zeit kommen, da uns die anderen um die Erfüllung beneiden werden, deren Reife sie nicht abwarten konnten, und die ihnen nunmehr versagt bleibt.
Immerhin, sie könnten ja auseinandergehen!
Können sie vielleicht, aber ob sie dann zu einer anderen, echten Ehe taugen, ist erstens fraglich, und zweitens wird ein gesunder Kerl ein Mädchen, das so lange und so nah zu einem andern gehörte, nicht in jedem Fall heiraten wollen. Oft fällt es schwer, andere schon nehmen zu sehen, was uns als spätes Ziel vorschwebt. Aber schließlich sind wir ja auch keine Wilden, meint Peter.
Denke ich auch. Wir rechnen uns immerhin einem Kulturkreis zu, der aus der Gemeinschaft der Geschlechter etwas Ernsteres und Höheres gemacht hat als den frühzeitigen Genuß oder eine Freundschaft, die zu ihrer Zeit auf eine Gewohnheit nicht verzichten kann. Und wenn große Religionen die Ehe geheiligt haben, so nicht ohne Grund und nicht ohne Erfahrung. Und das ist eben das Entscheidende, daß die Kameradschaftsehe in manchen Fällen vielleicht eine berechtigte Kameradschaft, niemals aber eine Ehe ist, weil ihr die Voraussetzungen dazu fehlen. Für Hans und Uta paßt sie, ist sie richtig und vielleicht nötig. Für uns zwei, glaube ich, nicht.
Wir schwiegen wieder. Die Skier knirschten leise. Wir kamen aus dem Hochwald heraus. Weite Flächen pulverigen Schnees dehnten sich vor uns. Die Sonne brannte über ihnen hin, daß die Augen die Frische und den Glanz kaum zu fassen vermochten. Drüben am Hang lag der Gasthof. Sie kamen uns nicht entgegen und wir fuhren dahin, sie zu holen.
Wir trafen sie noch am Frühstückstisch. Wir haben verschlafen, sagte Uta. Ihre Hand lag auf der von Hans.
Wir begrüßten sie und sie verwunderten sich über Peter. Er und ich gingen dann hinunter zur Wirtin.
Ob' sie ein Trennmesserchen in ihrer Nähschatulle hätte. Nein, aber hier, ginge das nicht?
Doch nicht gut, meinte ich, und Peter bekam es fast mit der Angst. Ein großes altes rostiges Brotmesser bot sie uns an. Peter machte den Nacken frei, setzte sich rittlings auf einen Stuhl und legte die Stirn auf die Lehne, während ich auf ein Stück Leinwand Brennspiritus goß und – in Gottes Namen – mein Taschenmesser ausglühte, denn die roten Striche, das Kopfweh, das Frösteln ließen weiteres Zuwarten nicht ratsam erscheinen.
Ich ließ das Messer abkühlen, dann drückte ich seine wenig scharfe Schneide durch die spiegelglatt gespannte Haut der Geschwulst und riß einen fingerlangen Schnitt hinein. Gelber Eiter schoß heraus, dann Blut – ich ließ es bluten, verband mit frisch gebügeltem Leinenzeug und riet Peter, sich hinzulegen und heute ja nicht zu laufen ... Da kamen die andern die Treppe herunter und sahen den blutigen Erfolg unserer Tat. Peter ward, als Held seines Leidens, auf einen Liegestuhl in die Sonne gelegt und Ingrid blieb bei ihm. Wir andern machten uns auf, zu den Höhen hinüber, durch den Hochwald. Ich wollte die beiden, Uta und Hans, führen und ein Stück begleiten. Gegen Mittag wollte ich wieder zurück sein, damit wir zum Springen an der neuen Schanze fahren könnten, Peter mit dem Schlitten. Vor uns hob sich die silberne Kuppe des Berges, man sah den Anstiegsweg vor sich. Ich wollte zurück, die beiden sich selbst überlassen. Aber sie schienen das Zusammen- und das Alleinsein nicht in der Art junger Leute zu genießen, die sich gern haben; sie bedauerten, daß ich zurückführe, es sei doch schöner zu dritt. Sie hatten schöne Bewegungen und Ausdruck, innige Formen der Gegenseitigkeit. Sie waren wie ein junges Ehepaar. Ich dachte an Peters Worte. Könnte man das wirklich nicht auch haben? Dann fuhr ich allein durch den glitzernden Morgen zurück, vorbei an den getarnten Gnomen und Zaubergestalten der verschneiten Büsche unter den blauschwarzen Tannen hin, über die gleißenden Hänge.
Ich sah Hans und Uta wieder, wie gestern abend, in Gedanken am Gasthof halten, voll Erwartung der Nacht ihrer Gemeinsamkeit, ich konnte mich nicht dagegen wehren, ich sah Uta in gliederschlanker Schönheit in seinen Armen ruhen, eingeschmiegt in seine Wärme, hingegeben in stiller Auflösung ihres eigenen Seins, empfangend und schenkend.
Eine Tanne lag mir im Weg, ich überstieg sie mit klappernden Skiern, setzte Weg und Gedanken fort. Ja, es wäre vielleicht die Erfüllung, die man schon jetzt hätte – aber dies waren eigentlich Gedanken der Nacht, und der Morgen war klar und von hartem Licht, das über den Schnee ein Netz von Funken warf und sich in den Eiszapfen der Zweige sprühend brach. Für Uta, die ruhige Uta, die über ihre Jahre reif schien, möchte es möglich sein. Ob ich es könnte, nicht nur die Lust, sondern auch die Last der Gewohnheit und Gemeinsamkeit, ihre Sorge und den Verlust, den ihr Gewinn bedeutete, schon auf mich zu nehmen, der ich zwar ein paar Semester weiter und fertig war, aber noch ein Nichts auf der Ebene des Lebens, und eine Ehe einzugehen noch nicht imstand war? Aber mir schien richtig: nichts Halbes, keinen Behelf. Wenn schon einmal, dann eine gute, eine wahrhaftige Ehe. Und bis dorthin die paar Jahre gaben der Freuden und Aufgaben genug für mich, um nicht abhängig zu werden von Dingen, die der Zukunft gehörten.
So kam ich zum Gasthaus. Aber die beiden waren fort. Peter sei auf den Skiern davon, und später auch Ingrid, jeder für sich.
Was war los? und Peter sollte doch nicht fahren! wer konnte wissen, wie das ausging! War uns nicht letzte Woche in der Klinik ein Mädchen an einem Furunkel gestorben, das, spät eingeliefert, der lumpigen kleinen Infektion erlegen war, trotz aller Eingießungen von Gegengift in die Adern? Kannte Peter denn nicht die Macht dieser winzigen Feinde, die einen Riesen wie ihn in Tagen zu töten vermögen, bricht ihre Saat nur ein in die Bahnen des Blutes?
Es blieb mir nichts, als allein zum Springen zu fahren, aber ich mußte noch zur Hütte hinüber, meinen Rucksack zu holen.
Die Hütte war offen. Gottseidank, da würde ich Peter finden, hoffentlich lag er im Bett.
Ich öffnete die Türe und fand Ingrid, allein, am Fenster. Sie hatte den Kopf in die Hände gestützt und schaute hinaus.
Schweigend setzte ich mich zu ihr, sah mit ihr hinaus. Nach einer Weile erst fragte ich, so nebenher, als wüßte ich all ihren Kummer: So schlimm, Ingrid?
Nach einem Schweigen erst antwortete sie, leise, mit müder Stimme: 's ist aus. Wir passen eben nicht zusammen, der Peter und ich, 's ist eben aus.
Ich antwortete nicht. Nach einem langen Schweigen, in das die Tropfen der Eiszapfen klopften, die am Gesims in der Sonne zerschmolzen, und das Plätschern des Schmelzwassers in der Dachrinne klang, fragte ich nur: Fährst du mit, Ingrid, darf ich dich hinunterbringen zum Springen, oder bleibst du lieber allein?
Komm, sagte sie, wir fahren. Weißt, ich mag den Peter viel zu sehr. Schade, daß es aus ist.
Ich fragte nicht nach dem Grund ihrer plötzlichen Trennung, aber ich wußte, daß ihre Härte, ihre Spannungen, der Ernst ihres Zusammenseins sie einmal fester verbinden würden als die stets bereite Gemeinschaft der andern. Unter den hohen Tannen hin, die Paßstraße, trugen uns in ruhiger Fahrt die Hölzer den Weg wieder hinunter, den Ingrid gestern nacht in Gedanken an Peter heraufgefahren war, unter den Sternen hin, die das Glück ihrer Gegenwart und das Geheimnis ihrer Zukunft kannten.
Einer um den andern schwebten die Springer über die neue Schanze hinaus. Wir standen ein Stück unterhalb, dicht an der Aufsprungbahn, um das Aufsetzen nach dem Sprung besser zu sehen, Ingrid und ich. Peter sahen wir nicht, wenn auch unsere Blicke immer wieder suchend über die Reihen der Zuschauer glitten.
Die Schanze war hoch, gab zu viel Auftrieb, und so wurden die Springer in scharfer Kurve hoch in die Luft geworfen, um dann in steilem Abfall der Flugbahn fast senkrecht auf die harte Aufsprungstrecke herunterzuprallen. Jedesmal gab es einen Krach, daß man meinte, die schweren Sprunghölzer müßten zersplittern. Viele stürzten, die Bahn war nicht gut. Aber nun wurde der letztjährige Meister gemeldet, das Fähnlein auf der Schanze senkte sich, und über die Kante jagte der weit vorgebeugte Leib heraus, ward übermäßig gehoben, sauste durch die Luft und krachte auf die Bahn herunter. Der Sprung war schön, aber die Wucht des Aufsprungs zerriß eine Bindung. Der Mann überschlug sich und der eine der Sprungskier fuhr wie ein Geschoß in die Luft, über die Zuschauer hin, gerade auf uns zu. Ich wollte Ingrid noch wegreißen, die mit ihren Blicken wieder drüben die Mauer der Zuschauer absuchte, da fegte, einem Torpedo gleich, der schwere Ski heran und prallte auf ihren Kopf auf, flog ihr über den Scheitel hin und schnitt ihr die Kopfhaut von der Stirn bis zum Hinterhaupt auf. Ohne Laut brach sie zusammen, plötzlich weiß wie der Schnee. Ich raffte sie auf die Arme, trug sie durch die schreiende Menge hinunter über den Hang. Das Blut schoß ihr über das totenfahle Gesicht, über die Wangen, die Schultern. Ingrid, lieber Kerl, wenn bloß Peter wüßte, wenn er nur käme.
Hier, der Verbandplatz. Ich legte sie auf die Bahre, ließ mir vom Sanitäter Verbandzeug geben, legte rasch einen Notverband an, ging neben der Trage her, hinunter zum Auto und fuhr sofort mit ihr ins Krankenhaus.
Sie war noch immer bewußtlos. Da lag sie mit blassem Gesicht auf dem Schragen, die Hände kraftlos am Leib. Ingrid, das tapfere Mädchen, das den Peter so lieb hatte und das wußte, daß alles aus war.
Die Hohlnadel stieß in die Kopfhaut vor, der Stempel der Glasspritze preßte die Flüssigkeit ins Gewebe, damit es gefühllos sei, falls sie erwache. Schräg über den schönen Kopf lief die Wunde, tief bis zum Schädelknochen, der weißlich zwischen den klaffenden Wundrändern hervorsah. Mit ruhigen Händen unterband der Arzt vom Dienst die Gefäße, wir vernähten die durchrissene Knochenhaut und die Wunde. Nadel neben Nadel drang ins Fleisch, zog die Seide durch, die wir verknüpften. Die Wundränder lagen gut, die Blutung stand, aber der Puls war matt und das horchende Ohr vernahm nur mit Mühe das Pochen des Herzens. Der schneeweiße Verband stach hart ab gegen das graue Braun ihrer Haut. Er lag schon gut und fest, als sie die Augenlider ein wenig hob. Noch war sie benommen vom Hieb des Ski. Sie faßte, ohne mich zu erkennen, meine Hand, bewegte mühsam die Lippen. Ich beugte mich über ihren Mund, sie zu verstehen.
Peterlein – klang es ganz matt und sehr zart an mein Ohr. Ich hielt ihre Hand. Sie sank zurück ins Dunkel der Ohnmacht. Ein glückliches Lächeln lag jetzt um ihren Mund. Sie mußte bleiben, da man nicht wußte, ob nicht auch unter der Schädeldecke ein Gefäß zersprungen war, das vielleicht die erneute Ohnmacht hervorrief. Dann müßte man den Schädelknochen durchbohren und dem Blut Abfluß nach außen geben, um so das Gehirn vom gefährlichen Druck zu entlasten.
Voll Sorge saß ich an ihrem Bett. Draußen verglomm über den Schwarzwaldhöhen der Tag. Ingrids Atem ging mühsam und schwer, doch manchmal, einen Augenblick nur, huschte wie ein draußen vorbeifahrendes Licht ein Lächeln über ihr Antlitz.
Peter, der immer furchtlose Peter stand in der Tür, groß und dunkel in der sinkenden Dämmerung, die Augen weit offen vor Angst. Sie sagten, draußen an der Schanze sie wäre verunglückt – sei tot – du habest sie weggetragen – ist es wahr – ist es wahr – ist sie tot – sag's – sag's mir! preßte er heiser hervor.
Ich schüttelte nur den Kopf, erhob mich ruhig und räumte ihm meinen Platz ein, der ihm zustand.
Da sah er ihr fahles Gesicht, sah von ihr zu mir, nahm ihre Hand, die kühl war und feucht, strich mit einer ganz zarten Bewegung unbeholfen darüber hin, hob ihre kleine Hand an seine Schläfe, verharrte so.
Das Zimmer ward dunkler. Die Abendwolken verloren ihr Rot, wurden grau und hatten nur noch glühende Ränder, bis auch die verloschen.
Ich ging.
Draußen traf ich Uta und Hans, die sofort hergekommen waren, als sie von dem Unglück hörten. Auch ihnen war gesagt, Ingrid sei tot. Sie beruhigten sich, als ich ihnen alles erklärte und sagte, daß mir Ingrid wohlgeborgen schiene. Peter bliebe bei ihr, ich selbst müßte ja fahren, da ich morgen wieder Dienst in der Klinik hätte. Ob sie mitführen?
Dunkel und groß stand Uta vor mir, legte ihre Hand auf meinen Arm. Nein, sie blieben noch eine Nacht. Sie wollten wieder hinauffahren, sie hätten ihre Sachen noch oben. Ich spürte die Wärme ihrer Hand auf meinem Arm, die dunkle Schwingung des Blutes. Sie blieben noch eine Nacht. In mir klang der warme Ton ihrer Stimme nach, dieser frauliche dunkle Klang, in dem Erwartung und Wissen schwang, um die heimlichen Brunnen des Lebens: Noch eine Nacht. Und wie sie so vor mir stand, groß und ruhig, schon eingehüllt in den Mantel der kommenden Nacht, und ihr Blick in dem meinen lag, da schloß ich die Augen, damit mein suchender Blick sie nicht kränke, denn nun sah ich, wie schön Uta war, und nun fielen vor meinen Sinnen ihre Hüllen nieder, der Samt der Nacht tat sich vor mir auf, sie selbst schlug ihn zurück, und ich wußte den matten Glanz ihrer Schultern, die Wölbung der Brust und der Hüften. Uta war schön.
Sie gingen, die Nacht nahm sie auf. Allein stand ich noch, unbeweglich.
Dann holte ich meine Skier von der Schanze und fuhr zum Bahnhof. Die Nacht ward dunkler, die Sterne kamen herauf.
Es war nach einem arbeitsreichen Tag schon fast acht Uhr geworden und ich schloß die Krankengeschichten der heutigen Operationen unserer Station ab: zwei Kröpfe, ein Leistenbruch, ein Oberschenkelbruch mit schweren Verbrennungen, ein Magengeschwür; ich wechselte die Verbände, machte die üblichen Sondierungen, Spülungen, Laboratoriumsarbeiten, kleine Chirurgie, und bereitete noch eine Cystoskopie vor.
Dann ging ich noch einmal über die Station. Alle Verbände lagen gut, der »Magen« hatte seine Spritze, die »Kröpfe« bluteten nicht nach, der Extensionsverband des siebzehnjährigen Lehrlings, der die Oberschenkel gebrochen, lag richtig, die Klammer griff außen und innen gut durch das Fleisch in den Knochen am Knie, die Gewichte begannen, ihn in seine richtige Lage zu ziehen, die Verbände über den Brandwunden saßen gut.
Blaß lag der Junge in seinem Bett. Die Schmerzen waren arg, und er fühlte sich krank und verlassen unter den vielen älteren Männern des Saals. Ich strich ihm über die Stirn, die feucht war von Schweiß. Da fragte er mich mit ganz leiser Stimme, in der viel Angst war, indem er mit dem Blick auf sein Bein wies: Wird es wieder, Herr Doktor, kann ich bald wieder arbeiten? Nun, tröstete ich ihn, der Knochen steht jetzt gut, es wird in ein paar Wochen besser sein, und arbeiten wirst du auch wieder können. Daß die Beweglichkeit des Kniegelenks wegen des langen Liegens und der Brandnarben sehr gefährdet war, verschwieg ich ihm lieber. – Sind die Schmerzen noch sehr schlimm, sollen wir noch was geben für die Nacht?
Es ist nicht wegen der Schmerzen, Herr Doktor, es ist bloß wegen meiner Mutter, sie hat keinen außer mir, Vater ist vor einem Jahr verunglückt, ein Transmissionsriemen hat ihm die Beine aufgeschlagen und es kam Luft und Gas in die Adern, daran ist er gestorben, und jetzt sitzt die Mutter zu Haus und hat nichts zu essen.
Hast denn schon ausgelernt, Junger? fragte ich, und setzte mich nun doch vorsichtig neben ihn auf den Bettrand. Das nicht, sagte er, aber ich kann kochen und für was sorgen, und – zu zweit hungern ist leichter als allein, und sie kann doch kein Holz, kein Feuer machen, sie ist doch auch krank, sie geht an Krücken, und wir haben doch niemand.
Keine Verwandten, keine Nachbarn?
Ein geringschätziges Zucken um den Leidensmund ist die Antwort und seine leise Gegenfrage: Der Herr Doktor haben wohl noch niemals von Verwandten oder Nachbarn leben müssen? Und dann – ich kann doch ein bißchen Harmonika spielen, die Lieder, wo die Mutter so mag, von früher her – wird's arg lang dauern, bis ich wieder gehen kann?
Ich tröstete ihn über diesen ersten Schmerz hinweg. Die Wahrheit wäre zu schwer gewesen. Der Knochen zersprungen, in schlechter Lage, in viele Splitter zerrissen – ob und wie das werden wird? Ich versuchte ein tröstliches Lächeln, sprach ihm zuversichtlich zu.
Seine Hände lagen matt und fahl auf der Decke, ruhig schaute er mich an. Er, der Siebzehnjährige, kannte den Wert der gesunden Arbeitskraft, er wußte, was er und die Mutter verloren hatten, wenn er nicht mehr gehen konnte, wenn er dann im Frühjahr die Gesellenprüfung nicht machen, nichts verdienen konnte, aber er klagte nicht, am wenigsten um seiner selbst Willen, obwohl ihm der Bruch und die Brandwunden furchtbare Schmerzen machten. Nur an die Mutter dachte er, die daheim fror und hungerte und wartete, bis ihr tapferer Bub wiederkäme. Ich gab ihm nun doch eine Spritze.
Das wohltätige Gift, das ihm die Schmerzen nahm, gewann Macht über ihn, über ihn und seinen Kummer, seine Sorgen, die so berechtigt waren, und schenkte ihm ein sanftes Einschlafen und eine ruhige Nacht. Ohne Seufzer, ohne Klage schlummerte er ein. Er war seinem Schicksal gewachsen, er war einer der Großen des Duldens, einer der namenlosen Helden der Arbeit, der Gefahr, des Lebens.