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So wie ich dich gestern sah, im Kerzenschein, in dem Seidenkleid, das Antlitz dunkel und schön vor Schmerz und Liebe, so will ich dich in mir tragen – es ist gut, daß du nicht am Fenster bist. Ich vergesse dich nie.
Hörst du unseren Gesang, unseren Marschtritt unter deinem Fenster hin? Das Heulen der Begeisterung und des Abschieds ist mir näher als das Singen und doch höre ich meine laute Stimme. Bin ich es, ist es meine Stimme, die da klingt? Leb wohl, Evelyn!
Da ist der Bahnhof. Endlich. Alle sind da, die Eltern, der Bruder. Die Mutter zwängt ihre Tränen zurück, der Vater ringt sich ein Lächeln und gute Wünsche ab. Ich tröste sie: Wir kommen wieder, habt keine Angst! In einem halben Jahr haben wir's geschafft, dann bin ich zurück, dann habt ihr mich wieder!
Die Eltern von Ernst sind da und seine Braut. Er küßt sie. Viele sind gekommen, unsern Transport zu sehen, diesen Zug der letzten brauchbaren Krieger, die noch einmal mit Blumen an Helm und Waffen, noch einmal unter den Klängen des Deutschlandliedes hinausfahren in großer Gemeinschaft.
Ich rufe ihnen noch zu, sehe ihr Winken, sehe noch, wie die Mutter das Gesicht in ihr Tuch preßt, da ist alles vorüber. Der Zug ist aus der Halle, fährt hinaus ins Freie. Wir sind unterwegs. Das Rad ist im Rollen, alles geht seinen Gang.
Lebwohl – ich komme wieder –
Man weiß eben doch nicht, ob man wiederkommt! sagt da eine Stimme neben mir. Ernst sagt es ruhig vor sich hin, so, als ob er eben eine Gleichung errechnet und abgeschlossen hätte, mit ruhiger Stimme, in der weder Furcht noch Schmerz klingt, in der die Klarheit ist, mit der er allem Geschehen entgegensieht.
Aber ich weiß es, sage ich ihm, ich komme wieder, ich will wiederkommen.
Langsam antwortet Ernst, den Blick aus dem ruhig gespannten Gesicht in eine Weite gerichtet, in der er zu lesen scheint:
Nein, sagt er dann, ich weiß es nicht, ob ich wiederkomme –
Dichter Zigarettendunst füllt unsern Wagen. Graue Schwaden ziehen gemächlich durch die stickige Luft des Abteils. Alles raucht vor sich hin. Bewegung, lebhaftes Sprechen, Hin- und Herräumen des Gepäcks, der Gewehre, der Tornister.
Wir fahren schon ein paar Stunden. Es wird Zeit, etwas zu essen. Einer fängt an, die andern machen es ihm nach. Die Tornister werden vom Gepäcknetz geholt, aufgemacht, ausgepackt.
Dem Qualm im Wagen, der schon übersättigt ist vom Dunst nach frischem Lederzeug und Stiefelöl, mischen sich jetzt die Gerüche der Tornister bei: Wurst- und Käsebrote, Äpfel, Stiefelschmiere, alles neben-, alles durcheinander, Wäsche, Seife, Schokolade, Zigaretten.
Eine Erinnerung, die der Geruch der Tornister weckt, steigt in mir auf: damals, als wir auch nach Italien wollten, damals roch es ebenso nach Rucksack, Schokolade, Öl, Broten – nach Tornister.
Geschrei und Singen. Schwäbisch-traurige Lieder klingen den ganzen Zug entlang, übertäuben den Abschiedsschmerz durch das Zuviel ihrer Wehmut. Das Unwirkliche überdeckt, überlagert das Wirkliche. Ein paar spielen Karten, auf einer Zeltbahn liegen die Stiche, fallen mit lautem Rufe die Trümpfe.
Alles schmatzt, singt, spricht.
Der Zug fährt in gleichmäßigem Tempo durch die Heimat nach Westen.
Wir kommen nicht nach Italien, wie es erst hieß. Wir kennen die Namen der Stationen, die wir durchfahren. Es ist die Strecke nach Straßburg zu. Es geht nach dem Westen.
Draußen fängt es an zu dunkeln. In die große Dämmerung hinein fährt der Zug. Auf einer Station kurzer Halt, ein paar Mädchen winken uns zu. Scherzworte fallen hüben und drüben. Und weiter fährt der Zug.
Draußen ist stockfinstere Nacht, in den Wagen brennen die Lichter. Die anfangs überlaute Fröhlichkeit, belebt mehr von der Sucht nach Neuem und Veränderung als das Zeichen einer tiefen Begeisterung, schlug allmählich in eine müde Stille um, und bald lag unser Transport im Schlummer. Und wenn sich einer, aufgeschreckt aus dem Schlaf, über die Härte des Lagers beklagte, so belehrten ihn die wenigen Alten, die nach einer Verwundung wieder hinauszogen, bald eines andern mit gleichgültig hingesprochenen Worten, aus denen mehr als aus heftigem Verweis die Schwere des Kommenden klang, das uns erwartete.
Müdigkeit liegt über allem. Der Zug wird still, nur Schnarchen der Schläfer klingt hier und da auf. Das gleichmäßige Stampfen der Räder übertönt jetzt jeden Laut.
Als könne er es nicht erwarten, uns unserem Schicksal zuzutragen, als wäre er ein lebendiges Wesen, so eilt der Zug in immer gleichmäßiger Fahrt über die schlagenden Schienen, weiter, weiter in das Dunkel der Nacht hinein, unaufhaltsam, mit unerbittlicher Gleichmäßigkeit.
Ein Raunen ging durch den Zug. Ernst weckte mich. Es war Mitternacht.
Der Rhein, sagte er, sieh ihn dir noch einmal an, wer weiß, ob wir über ihn zurückfahren werden.
Alles lag in den Fenstern. Unter uns strömten die schwarzen Wasser in die Dunkelheit, erhellt nur durch das geisterhafte Aufleuchten der Lichter unseres Zuges.
Erregung erfaßte alle. Nun fühlten wir noch einmal Deutschland, die Heimat, den großen Strom, und fühlten nun mit Macht das Neue, in das unser Leben hinübergetragen wurde. Wir fühlten dunkel und unbestimmt, mit grauenvoller Erwartung: den Krieg.
Langsam schlafen wir wieder ein. Flüstern noch hier und da aus einer Ecke. Dann wird es auch dort still. Das Schlagen der Achsen auf den Schienen, das eintönige Klirren von Eisen, das Stampfen der Maschine sind das einzige, alles andere, alles Lebendige überdeckende Geräusch. Lichter fliegen draußen an den Scheiben vorüber, Stationen, Signale.
Weiter, unaufhaltsam, weiter in die Nacht hinein trägt uns der Zug.
In die sinkende Dämmerung fahren unsere Autos, alte, zerfahrene und zerschossene Lastwagen. Die Zeit des Rekrutendepots liegt hinter uns. Es geht vor in Stellung. Vor ein paar Tagen ist der deutsche Durchbruch, dessen Feuer falsch lag, und bei dem die Feuerwalze den Stürmern davongelaufen war, in Regen und Morast stecken geblieben. Die Verluste waren schwer.
In die Lücken der Ausgefallenen, der Toten, rückten wir ein. Vorne hielten sich die Reste der Stürmer, sehnlich unser Kommen erwartend.
Stellungskrieg also, Sumpf, Regen, Krankheit und Einöde des Trichterfeldes – Feuer.
Die Wagen ratterten ihres Wegs, unbekümmert um uns und unser Geschick, gleichmäßig mit knarrenden und brummenden Motoren.
Keiner von uns sprach ein Wort. Die Gesichter schienen unter der Wölbung der Helme fahl und hager, ausgemergelt, die Lippen schmal; die Blicke glitten über dies Land hinweg, als wäre ihnen alles unfaßbar, als ginge sie das alles nichts an.
Auf dem Wagen vor mir stand Ernst: groß und breitschultrig. Sein Gesicht war hell, belebt, von männlicher Klarheit. Ihn schien weder Gefahr des Augenblicks noch der Zukunft, Tod noch Verwundung zu berühren; hart Und überlegen stand der Freund dort vor mir. Wir sahen uns an, und unser Blick war Trost, war Verbundenheit, war Wissen von vielem Schönen.
Die Wagen holperten über die zerschossene Straße. Über ihrem Stoßen klirrte das Aneinanderschlagen unserer schweren Maschinengewehre.
Vorgehende Munitionskolonnen, vormarschierende Infanterie überholten wir. Keiner winkte. Alle schauten vor sich auf den Weg, oder da hinaus, wo vor uns das Trommeln der Feuerüberfälle klang, da vorn in der Richtung, in die wir fuhren.
Die Dämmerung ward tiefer. Die Gesichter schienen grau, wie bei Toten. Vor uns am Abendhimmel hing ein feindlicher Fesselballon.
Über das Poltern unserer Wagen hob sich das ziehende, von weither kommende Aufheulen der großen Granaten, die der Feind zu unserer Artillerie schickte.
Links von uns, auf der Seite der Straße, schlugen mittlere Kaliber ein. Man hörte in dem Rumpeln und Schüttern des verbrauchten Wagens kaum den Einschlag. Plötzlich spritzte dunkle Erde in bläulichem Licht auseinander, ein Pferd raste über die Wiesen und Gräben, noch ein Treffer, und nochmals jetzt der hohle Knall einer Brisanzgranate. Wir fahren unentwegt, als ginge das alles auf einer fremden Bühne, wie ein Schauspiel, dem wir gar nicht zugehörten, vor sich, in die Dämmerung hinein.
Der Feuerlärm nimmt zu. Die ersten Flachbahngranaten heulen aufzischend über unsere Wagen weg, in der Deckung eines kleinen Abhangs halten die Autos.
Feuerbereich. Aussteigen. Antreten.
Der Freund steht neben mir. Werden wir diesmal beide wieder zurückkommen? Werden wir bei denen sein, denen man ein Holzkreuz auf das Grab steckt, oder unter den Verwundeten, und wenn es uns trifft, wird es eine schwere Verletzung sein? Alles geht durch die Sinne, mit gerader Sachlichkeit aber führen die Hände die Griffe aus, die zum Herrichten des Geräts nötig sind.
Wir laden ab, richten die Gewehre zusammen. Die Wagen wenden, fahren zurück. Wir sind vorn. Es beginnt. Das dauernde Trommeln des Feuers da vor uns überschreit die Stimme des Kompanieführers, eines Leutnants mit seitlichem, schon wieder vernarbtem Kieferschuß. Herhören jetzt! Wir gehen vor. Wenn wir in einen Feuerüberfall geraten, beisammen – aufgeschlossen bleiben! Unter keinen Umständen die Kette abreißen lassen, Spaten des Vordermanns anfassen. Wer sich verirrt, ist verloren. Beisammenbleiben, komme, was will. – Achtung! Gerät aufnehmen! – Reihe zu einem – ohne Tritt – Marsch!
Die Träger und Schützen bücken sich, werfen die Lasten der Gewehre, der Munition, der ungern getragenen schweren Eisenschlitten über die Schulter, drücken noch einmal den Helm in die Stirn und formieren die Reihe zu einem. Heller, widerlicher knallt das Streufeuer ganz in unserer Nähe auf. Über die Böschung, die vor uns liegt, spritzen plötzlich Erdfontänen auf, Pulvergestank verpestet die Luft, Erdbrocken prasseln auf unsere Helme. Die Reihe geht darauf zu, unaufhaltsam, gerade auf die Böschung zu, die die Einschläge zerfetzen. Dann ist der Spuk verschwunden, die Erde, die eben da vor uns noch wie in einem Vulkan zu kochen und zu brodeln schien, hat sich beruhigt, die Kante der Böschung ist wieder hart und dunkel vor dem Abendhimmel gezeichnet.
Aus granitenen Gesichtern schauen sich die Augen der Kameraden an. Dann geht es weiter. Jetzt, fertig!
Wir haben die Böschung erklommen. Vor uns ist Dämmerung und die Öde des Trichterfeldes. Schweigend schiebt sich unsere Kette hinein in die vor uns gebreitete Wüste. Kein Strauch, kein Baum, kein Gras – Trichter, alter Stacheldraht, ein paar Pfähle – tote Pferde, ein paar Kreuze – – Lehm, Wasserlachen, Sumpf.
Auf kaum mehr erkenntlichem Pfad schreiten wir aus, der vor uns flackernden Front zu.
Noch sehe ich die geschweiften Nähte des Waffenrocks meines Vordermanns, seinen zerkratzten Koppelriemen, in dem ein Riß ist, noch erkenne ich den abgegriffenen Stiel seines Spatens, und über dem Horizont im Westen hellt sich noch einmal der Himmel in fahlem Licht auf, dann sinkt über unsere Schritte, über unsere äußere und innere Last die Nacht.
Von Viertelstunde zu Viertelstunde nimmt das Grollen der Einschläge zu. Ich bleibe dicht aufgeschlossen, springe über die Lachen, trage die Last des SMG-Schlittens, über Trichter, Gräben, Pfähle und Drähte. Alles in mir ist wach, ist erregt. Noch hat sich die Spannung des Anmarschs nicht gelöst, noch krallen sich die Hände um die eisernen Griffe der Waffe.
Worte, Befehle, Fragen kommen von vorn durch. Mechanisch gebe ich sie weiter: Draht rechts, Trichter links alles noch da? In mir aber ist Evelyn. Evelyn, das ist Schmerz, ist Jubel, ist Zuversicht und Geborgenheit. Während meine Füße sich vorwärtstasten, während Lehm aufspritzt, Sumpf in die Stiefelrohre läuft, die Schultern zu brechen drohen unter der Last und dem Lauf, bin ich bei ihr. Ich flüstere mit ihr, ich sage ihr Liebkosungen, ich fange in einer Wärme, die mich plötzlich erfüllt, an, mich zu freuen – Evelyn, hast du gehört, daß ich dich rufe? spürst du nun, daß ich dir nahe bin? Es ist die Stunde der sinkenden Nacht, da wir täglich aneinander denken wollen. Ich fühle den leichten Druck ihres Ringes an meiner Hand. Wenn ich die Faust fest um den Griff der Waffe schließe, spüre ich, wie sich der Ring einpreßt in das Fleisch meines Fingers, der Ring, in dessen Stein damals auf der Alb die Sonne gefunkelt hat.
»Rechts vorbei« kommt der Befehl durch, den, ich weitergebe mit einer Stimme, die mir selbst zu hell klingt. Links am Pfad liegt einer. Die Arme über den Kopf geworfen, die Beine verkrümmt. Als ich an ihm vorbeigehe, starrt er mich mit seinen weit offenen Augen an: der erste Tote.
Da knallt, weit vor uns, jenseits der Front, ein dumpfer Abschuß auf. Die schwere Granate kommt heulend heran. Ein markerschütterndes Ziehen fällt in unsere Ohren, reißt uns wach, läßt das Herz stocken. Das Geräusch senkt sich, der Ton fällt ab. Dicht über unsere Köpfe scheint sie hinwegzufliegen. Dreißig Meter hinter uns schlägt sie ein, mitten auf unserem Pfad. Die Splitter surren uns um die Köpfe, klatschen neben uns in den Lehm.
Alles hastet davon, mein Vordermann verschwindet vor mir in der Dunkelheit, ich stürze ihm nach, so rasch ich vermag. Der Schweiß rinnt mir über Schläfen und Stirn, sickert beizend in die Augen, die ich nicht auswischen kann mit den lehmigen Händen.
Und plötzlich brodelt vor uns die Erde auf. Der Lärm der heranstürzenden Geschosse erschüttert die Nacht. Splitter surren, Schreie gellen auf. Befehle klingen. Alles ist Tumult.
Nach links prescht die Kette, mitten ins weglose Trichterfeld hinein – auseinander –
Gebrüll, Winken: Hierher, hierher –
Namen werden gerufen, Schreie gehen unter im Feuergetöse.
In einem alten Grabenstück sinken wir in notdürftiger Deckung zusammen, sehen das irrlichternde Einschlagen der Granaten auf unserem Anmarschweg, sehen drüben schwarze Gestalten im Licht der Explosionen taumeln und zucken –
Der Schweiß beizt die Augen, läuft den Rücken hinunter. Am kalten Wind, der plötzlich, da wir liegen, um unsere Gesichter pfeift, merken wir erst, wie erhitzt, wie abgehetzt wir schon sind. Wie weit sind wir erst? Wie weit noch zur Stellung vor?
Der Befehl reißt uns auf. Wir müssen vor, die Ablösungszeit einzuhalten. Nach rechts hinüber, wo in der sumpfigen, undurchdringlichen Nacht der Anmarschpfad sein muß. Trichter – nur Trichter und Draht.
Wir müssen schon viel zu weit rechts sein – also wieder zurück. – Wir haben uns verirrt. Aber dort vorn ist die Front; dort, wo jetzt die Leuchtkugeln steigen, dort könnte unser Abschnitt sein, also vorwärts, hinein in das Tosen der Nacht.
Eine Gruppe von Toten liegt plötzlich vor mir. Volltreffer. Hier war vorhin der Überfall – hier liegen noch zwei wir sind richtig, es ist der Anmarschweg. Da versinkt mein linker Fuß tief im Schlamm, der Stiefel will stecken bleiben, ich zerre und reiße, stolpere über Draht, und schon stürze ich kopfüber in einen Trichter hinunter. Der Eisenschlitten schlägt mir ins Genick. Weiches füllt den Grund des Trichters. Schlamm, Tote? Schaudernd raffe ich mich auf, sehe im Licht einer Granate die Kette der Kameraden schon weit da vorn, eile darauf zu – nicht abreißen – nicht hier sich verlieren – vor zur Stellung.
Ich erreiche die andern. Aber mein Knie schmerzt, es ist feucht von Blut, und die Hose ist zerrissen. Hinkend halte ich den eiligen Schritt der andern. Vor, da vor, wo man uns braucht, in der ersten Linie.
Am Artilleriegraben kurze Rast. Durchzählen. Zwölf fehlen! Wir gehen zu zweit auf Rufweite zurück, die andern zu suchen, als sie ganz plötzlich aus dem Dunkel auftauchen, mit Spaten und Waffen im Gehen leise klirrend.
Zehn sind es. Zwei fehlen. Wir können nicht mehr warten, wir müssen vor.
Links von uns deckt der Feind eine Batterie zu, ganz nahe. Vernichtung jagen die Geschosse in ihre Stellung. Wir pressen uns in die lehmige Wand. Sowie das Feuer nachläßt, stürzen wir hinaus.
Wir sind müde, naß am ganzen Leib. Aber vor uns liegt noch der Bahndamm. Wenn wir den haben, ists gewonnen. Dort liegt dauernd Feuer. Jede Nacht kostet er Tote. Schon glänzt das Grau der Steine aus dem Dunkel. Wir sind da. Hastig, gebückt unter unserer Last, steigen, laufen wir über die Schienenhölzer. Ich höre das stoßweise Atmen des Vordermanns, das Klirren der Spaten, das Klappern der Munitionskästen. Jedes Wort wird vermieden, wir sind ganz nahe am Feind. Wir dürfen uns nicht verraten.
Das Feuer liegt weit hinter uns. Ich bin überlegen über alles, was geschieht. Freude ist in mir, daß wir das Feuer des Feindes jetzt unterlaufen, daß wir ihm entgehen, daß er uns nicht erfaßt mit seinen Granaten. Eine Fröhlich, keit überkommt mich, deren Grund ich nicht kenne. Immerzu denke ich an Evelyn.
Es geht gut heute, schon sind wir fast an der Stelle, wo wir abbiegen können zu unserer Stellung, noch eine, noch eine halbe Minute vielleicht.
Da, als kämen sie aus dem Boden, krachen, ein paar Sekunden zu früh, die Granaten los, ein Feuerwirbel umsprüht uns. Tosen füllt die Luft, jedes andere Geräusch in sich verschlingend, zuckende Erde wirft sich auf, Steine und Splitter prasseln auf meinen Helm. Das Feuer zu durchlaufen ist unmöglich. Ich werfe mich neben den Schienen in das Gräbchen, presse meinen Leib dicht an die Erde. Mittenhinein sind wir gelaufen! Im Rauschen der Geschosse, im Aufwallen der kochenden Erde schiebe ich den Tornister besser auf den Rücken, den Helm ins Genick, presse das Gesicht an den Boden, auf die Hände. Ich berühre Evelyns Ring. Er schützt mich. Sie ist bei mir.
Das Rauschen einer schweren Granate, das allen Lärm übertönt, preßt mich noch mehr an die nasse Erde, vor mir schlägt sie ein. Mein Helm klirrt auf. Steine und Erde decken mich zu.
Es war die letzte. Das Feuer ist verschwunden, über uns hinweg, zurückgesprungen. Es ist unfaßlich, über mir leuchten die Sterne, das W der Kassiopeja, der Wagen. Die Schreie der Verwundeten vergellen in der Nacht. Wir haben Tote. Zwei bleiben bei den Verletzten zurück, wir andern machen uns auf, ohne Aufenthalt, komme was noch wolle, vor; solange wir leben, gehen wir vor. Noch einmal faßt uns das Feuer. Wir sind eben auf der Höhe des Sanitätsstollens. Es ist nicht möglich, auch nur im Gang noch unterzustehen gegen den Feuerregen, so übervoll ist der Unterstand. Ich stürze weiter, der Deckung entlang. Da ist noch ein anderer, der auch weiterläuft, den ich erst jetzt erkenne: Ernst. Alles ist gut. Wir sind beisammen. Nichts wird uns mangeln.
Und da ist die dunkle Linie des Grabens – die erste Stellung, wir sind da.
Gewehrschüsse pfeifen auf, ein MG rattert los. Das Magnesiumlicht eines Leuchtschirms läßt die Umgebung weiß aufglühen. Wir pressen uns in den schwarzen Schatten des Grabens, übersehen rasch die Stellung: wir sind richtig. Hier ist Ernsts Unterstand. Ich schiebe mich im Graben noch weiter vor, da vorn, das vorderste Gewehr, ist meine Stellung. Ein Erdloch in der Grabenwand, ein Wellblech und ein paar Schaufeln Erde darüber, vor dem Eingang ein Stück alter lehmiger Lumpen; ich bin da, vorn, in der vordersten Linie: zu Hause.
Dann kommen die andern. Wir übernehmen das Gewehr, bauen uns ein, richten die Waffen, die Pistolen, die Handgranaten. Wir sind voll Lehm. Mein Knie ist aufgerissen, blutet und wird verbunden. Einer, an dem die Reihe ist, geht hinaus ins Postenloch. Die Nacht ist unruhig. Sie werden angreifen.
Ich lege mich auf die nasse Erde, glücklich, daß alles gut ging, froh von tief innen heraus.
Fast jede Viertelstunde streuen sie unseren Graben mit leichten und mittleren Granaten ab, gegen Morgen schwillt das Feuer stark an. Unser Erdloch schwankt unter den nahen Einschlägen. Wir drücken uns zusammen, des Treffers gewärtig, der unsere leichte Deckung durchschlagen wird. Gleich ist es Zeit für mich, den Posten zu übernehmen, da schreit ein Melder in unsere Deckung herein: Erhöhte Alarmbereitschaft! und ist schon wieder im Feuer verschwunden.
Mit seiner weit überlegenen Artillerie hält uns der Gegner nieder, während er im Nachbarabschnitt mit dem ersten Tageslicht angreift. Alle Gewehre bellen auf. Nur unseres schweigt. Was ist los? Wir stürzen hinaus. Der Posten lehnt an der Grabenwand, den Kopf wie im Schlaf über das MG gelegt. Er ist tot.
Wir reißen ihn vom Gewehr weg, jagen unsere Garbe da hinüber gegen den feindlichen Graben, streuen hinüber, wo die Wellen der Angreifer im Feuer der Abwehr zusammenbrechen.
Dann übernehme ich die Wache am Gewehr, schlage den Mantelkragen hoch, presse die Hände tief in die Taschen, drücke mich, wo vorhin der Tote lehnte, an die lehmige Erde an, um Schutz zu haben vor den Splittern und Geschossen und doch Sicht gegen den Graben der Feinde.
Die letzten Sterne verbleichen. Grau und kalt kommt der Tag herauf.
Am andern Morgen war Nebel. Wir verstärkten unsern MG-Posten, Horchposten krochen hinaus gegen die feindliche Linie.
In einem Trichter begruben wir unseren Toten. Dann stöberten wir noch ein wenig in den umliegenden Erdlöchern umher. Plötzlich stieß mein Spaten auf Metall. Schon dachte ich an ausgestreute feindliche Handgranaten, als ich auf einmal einen Sandsack voll Büchsen in der Hand hielt, Konservenbüchsen, runde mit Fett, solche mit Marmelade und viereckige mit Cornedbeef. Sofort suchten wir die anderen Trichter ab und fanden in der Tat noch einen Sack voller Büchsen, die der Feind vor seinem Rückzug vergraben hatte.
Wir trugen den Fund in unser Erdloch und untersuchten ihn genauer. Da aber zeigte sich, daß alle Büchsen mit einem Pfriem angestochen waren, damit sie verdürben und für uns, falls wir sie fänden, ungenießbar wären. Daß der Hunger unser schlimmster Feind war, wußten sie drüben wohl.
Vorsichtig wurde die erste Büchse aufgeschnitten. Sie war voll köstlichen Schmalzes. Obenauf zwar, wo das Loch gestochen war, war ein braun verfärbter Fleck, und hier roch das Fett ranzig und faul. Als ich aber die oberste Schicht entfernt hatte, zeigte sich weißes Schweinefett, wie wir es uns längst nicht mehr hatten vorstellen können. Diese Büchse wurde mit einem Stück Brot sofort aufgegessen. Und dann schnitten wir erst einmal sämtliche Büchsen auf, um uns an dem Anblick des fast unversehrten Inhalts zu ergötzen. Die ganz faulen warfen wir hinaus in den Graben, alle andern wurden an der Oberfläche gesäubert und dann der Reihe nach mit und ohne Brot mit dem Löffel geleert. Fett, Beef, Marmelade! Und von jeder Büchse wurde dem Posten draußen sein gut Teil hinausgebracht. Gut, daß wir das Brot des Toten hatten. So reichten wir hin für den vielen und köstlichen Aufstrich.
Es ist wie damals, als uns der Albwind um das Gesicht geweht: es ist dieselbe Hand, dasselbe Messer, das die Fleischbüchse öffnet. Friedlich ist die Stunde, da wir diese für den Krieg bestimmten Dosen öffnen. Ich streiche die Brote, gebe sie herum. Evelyn sitzt dabei, schaut mit ihren dunklen Augen ernsthaft meiner Arbeit zu, lächelt über einen mißlungenen Handgriff beim Aufstreichen, nimmt mir das Messer aus der Hand, streicht die Brote selber, schöner, besser!
Störungsfeuer setzte ein. Es ging wieder los. In nächster Nähe schlug es immer wieder ein, ein weiterer Schütze wurde draußen im Postenloch verwundet. Aber wir blieben, wir gaben das umschossene Grabenstück, dies elende Erdloch, nicht auf. Keine Gewalt, kein Befehl hätte uns hier gegen unseren Willen, gegen unsere Überzeugung zu halten vermocht. Daß wir hier blieben, war nur zu selbstverständlich, als daß uns die Tatsache als etwas Besonderes ins Bewußtsein gekommen wäre.
Drei Tage, drei Nächte. Postenstehen, Lauern auf die Abschüsse, auf die Einschläge nachher. Aber was hätte der ganze große Materialkrieg bedeutet, wären nicht wir Handvoll Soldaten da vorn gesessen, ausdauernd, verbissen, nicht zu überrennen im Sturm, nicht zu zermürben mit dem furchtbaren Feuer ihrer Geschütze? Eine Handvoll Soldaten, auf breitem Abschnitt locker verteilt, hier und da ein Nest der SMGs, mit ungenügender Artillerieunterstützung, eingesehen in einer Senke unter der feindlichen Stellung liegend, in notdürftiger Deckung des sumpfigen Grabens, hungernd, die Nächte frierend, aber mit allem Material des modernen Krieges nicht zu zerreiben. Es war der Mann, der entschied, nicht die Maschine. In der vierten Nacht wechselten wir in die Reservestellung ein paar hundert Meter zurück. Die Nacht war unruhig, viel Feuer lag über dem Regimentsabschnitt. Die drüben bereiteten etwas vor, es lag etwas in der Luft. Das Störungsfeuer, die aufgeregte Schießerei verrieten es. Werden sie angreifen, während wir unterwegs sind? Wird uns das Sperrfeuer erfassen?
Damit der tiefe Sumpf, durch den wir waten, uns nicht die Stiefel fülle, hatten wir oben die Schäfte mit Streifen, die wir aus der Zeltbahn eines Toten geschnitten, umbunden. So brauchten wir nicht zu fürchten, daß uns das Schuhzeug beim Durchhetzen des Feuers im klebrigen Lehm steckenblieb, wie es schon manchem andern ergangen. Den Helm hatte ich am Koppel hängen. Als aber die Splitter eines nahen Einschlags mich umsurrten, stülpte ich ihn doch noch auf den Kopf.
Es geht gut. Der halbe Weg liegt hinter uns.
Bald werden wir die zweite Stellung erreicht haben mit ihrem guten Graben und ihren tiefen Stollen.
Sie zieht uns zu sich. Im Schein der Leuchtkugeln sehe ich die ihr zuhastenden gebeugten Gestalten der Kameraden. Ich höre ihren keuchenden Atem – –
Ein Krachen zerreißt die Luft, die Erde bebt, die feste Erde, die uns immer getragen, sie tut sich auf in Schlünden, sie will uns verschlingen, die Erde.
Und doch werfe ich mich ihr an den Leib und suche Hilfe bei ihr und presse mein Gesicht und schlage meine Krallen in sie hinein. Sie aber ist Feindin und hat sich verschworen mit den heulenden Granaten, die auf sie niederbrechen, sie stößt mich von sich, sie will mich jagen – –
Entschlossene Ruhe kommt über mich, und Gier dem Schicksal zu trotzen. Kraft fühle ich in mir. Durch die tiefen Trichter schleppe ich mich und den eisernen Schlitten. Ich rutsche und krieche hinein in sie und erklimme die jenseitigen glatten Wände, indem ich die wunden Finger in die Erde einschlage und die Stiefelspitzen in den Lehm haue. Und Meter um Meter schaffe ich mich an die Stellung heran, deren dunkle Linie ich schon im flackernden Feuer erkenne. Aus dem Tosen, das um mich ist, klingt ein kurzer glockenheller Schlag an meinen Helm. Ich liege flach im Lehm.
Der Luftdruck der berstenden Granate hat mich hingeworfen.
Langsam kommen Bewußtsein und Wille wieder: vor mir liegen die Linien, die Schutz und Rettung versprechen, die Linien, die das Leben der Kameraden schon bergen.
Ich ducke mich zum Sprung, umkrampfe den Schlitten, und mein Wille reißt mich durch das blinde Toben des Schicksals hinüber zu ihnen, den Freunden.
Ihre hilfreichen Hände befreien mich vom Schlitten, und schon stolpern wir in den bergenden Stollen hinunter.
Es ist ganz still, die Einschläge klingen dumpf, die verbrauchte Luft drückt schwer. Das Atmen ist mühsam. Der Kerzenstummel brennt fahl, seine Flamme flackt bei jedem Einschlag.
Der schmale Stollen ist überfüllt, Leiber pressen sich aneinander. Liegen ist unmöglich. Mit zwei andern teile ich den kleinen Platz auf einer Handgranatenkiste. Meine Hände sind voll Lehm, meine Linke ist voll Blut.
Es wird mir schwindelig in der stickigen Luft. Wie ich mich nach vom überneige, fällt mir der Helm vom Kopf. Sein linker Rand ist durchschlagen, Blut läuft über meinen Hals, meinen Mantelkragen, hellrotes Blut sickert in das dunkle Grau des Stoffes: ein Splitter hat sich am Helm mattgelaufen, steckt hinter dem Ohr. Ich drücke ein Verbandpäckchen darauf, aber es blutet durch. Der Knochen war nicht durchschlagen, der Helm hatte mich geschützt.
Über zwei Stunden geht es jetzt schon so: aus dem monotonen Rumpeln des Feuers klingen nur die Einschläge der schweren Minen und das helle Krachen der Granaten, die über dem Eingang krepieren. Der Schein der flackernden Kerze liegt auf den müden, maskenhaften Gesichtern der Kameraden. Auf ihre Stirnen wirft der Helm ein schwarzes Schattenband, die Augen liegen in dunklen Höhlen, keiner spricht. Und doch umspannen ihre Hände die Waffen. Und in diesen Händen ruht auch jetzt noch die Bereitschaft, die immergleiche eherne Bereitschaft zum Kampf. Zugleich mit dem Krachen des Treffers, der den Eingang zerhaut, klatschen die Splitter herunter, in einer Wolke von Staub und stickigem Rauch. Das Licht ist verloschen. Einen Augenblick lang ist unten völlige Stille, in die nur drohend von oben das Poltern der Einschläge dringt. Alle sind wie gelähmt vor Entsetzen. Der eine Ausgang ist zu, jede Sekunde kann es den andern verschütten. Jetzt erhebt sich das Klagen, das Winseln der Gequetschten fürchterlich aus dem Dunkel. Ein paar der anderen stürzen auf, wollen hinaus in das Feuer, Füße trampeln mir über Schultern und Hände und Kopf; hastender Atem, Keuchen, Schreien und Flüche, Befehle gellen zusammen.
Ein Zündholz blitzt auf; das Licht der Kerze durchdringt mit Mühe den Rauch und den Qualm, beleuchtet die grauen Gestalten am Boden, und die unbeweglich Hockenden an den Wänden des Stollens. Enger noch pressen wir uns aneinander, schaffen besseren Raum für die Getroffenen, die wir verbinden. Ein paar schaufeln drüben in fliegender Hast den Ausgang durch, graben einen Gang für die Luft, für den Atem, für das Leben.
Mir gegenüber hockt einer der Verwundeten. Kein Ton kommt über seine zusammengepreßten Lippen. Er dreht nur den Kopf mit weitoffenen Augen immer von einer Seite zur andern. Dann sinkt er langsam vornüber. Einer richtet ihn auf, aber wieder sinkt er zusammen. Die aufgerissenen Augen sind stumpf, der Kiefer sinkt langsam herunter. Er lehnt, den Helm in der Stirn, an dem lehmigen Pfosten: ein Toter.
Keinen einzelnen Schuß hört man mehr heraus. Ein ununterbrochener Laut von Dröhnen und Trommeln dringt in die Ohren, reißt an den Nerven, zerrt und peitscht uns in ruhloser Qual. Es geht gegen vier Uhr. Sturmfeuer schießen sie und werden angreifen. Wir kommen hier lebend nicht mehr heraus.
Aus stumpfen Augen stiert jeder vor sich hin. Es ist nur mehr ein Warten auf Tod und Verlöschen.
Es sind Stunden des Untergangs. Du aber bist bei mir, an dich, Evelyn, denk ich. Für dich will ich leben.
Ich bete, ohne Worte, tief von innen heraus. Nicht um Hilfe. Es ist mehr als eine Bitte. Es ist Schutz, es ist Wissen, es ist das Leben. Der Choral geht mir durch den Sinn, den wir vor dem Ausmarsch sangen, der durch die Bogen der Stiftskirche klang, getragen von den Hunderten von Männerstimmen, die die Klänge der Orgel übertönten: Eine feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen. Den ersten Vers sage ich mir vor. Immer wieder, ohne die Lippen zu bewegen. Es ist Macht in diesen Worten, es ist Großes darin – Gott.